Leila ruft noch am selben Abend nach der Arbeit in ihrer Ausbildungsfirma an: „Gute Idee, David! Schreib nur so, dass du nichts verrätst.“
Genau so mache ich es. An beide türkischen Ärzte am University Teaching Hospital von Lagos, Dr. Aldemir und Dr. Ozan, schreibe ich jeweils auf Englisch folgende Mail:
Sehr geehrter Herr Doktor!
Ich bin Schüler einer Oberschule in Hamburg, Deutschland, und stehe seit Längerem im Briefkontakt mit dem Schüler Dennis, der in Kampala, Uganda, zur Schule geht. Dies vor allem, um mein Englisch zu verbessern. Jede Woche schreiben wir uns zwei oder drei Mal über eine bestimmte Website.
Zuletzt schrieb er mir vor über zwei Wochen, dass er aus persönlichen Gründen dringend nach Lagos müsste, um dort einen türkischen Arzt am Uni-Krankenhaus zu treffen. Er versprach, sich auch aus Lagos umgehend wieder zu melden.
Da ich seitdem nichts gehört habe, mache ich mir Sorgen. Sagt Ihnen meine Anfrage etwas? Hat sich Dennis bei Ihnen gemeldet?
Ich habe Ihre Mailanschrift über die Internetangaben Ihrer Uni gefunden.
Für eine Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Hochachtungsvoll …
Innerhalb einer Stunde kommt eine höfliche Antwort von Dr. Ozan:
Lieber David,
leider nie von einem Dennis aus Uganda gehört.
Bitte grüßen Sie Hamburg – ein Bruder von mir hat dort mal studiert.
Freundliche Grüße,
Ali Ozan
Nun setze ich alle Hoffnung auf Dr. Aldemir. Tatsächlich erreicht mich fast genau vierundzwanzig Stunden später eine Mail auch von ihm. Vermutlich hat er sich erst bei Dennis’ Mutter oder Vater nach mir erkundigt – und ob mir zu vertrauen sei. Er schreibt:
Lieber David,
wie du bin ich besorgt um Dennis.
Sein Vater hatte mich über seine Probleme in Kampala vertraulich informiert. Bitte erwähne hierzu nichts in unserer Korrespondenz, wenn du erneut schreibst (worüber ich mich freuen würde).
Am Tag seiner Ankunft hier in Lagos vor knapp drei Wochen erreichte mich eine Nachricht auf meinem Handy, dass er gelandet und durch alle Kontrollen sei und ich mich melden möge.
Leider konnte ich diese Nachricht nur mit Verspätung abhören, weil ich Notdienst hatte und zu der Zeit keine Telefonate entgegennehmen konnte. Natürlich rief ich ihn nach meinem Dienst sofort zurück, aber nun nahm er nicht mehr an. Ich habe es seitdem immer wieder versucht, aber ohne Erfolg.
Um dir gegenüber ehrlich zu sein – wir, auch seine Eltern, sind aufs Höchste besorgt!
Über Dennis’ Mutter weiß ich inzwischen um deine besondere Kommunikation zwischen euch übers Englischlernen hinaus, wenn ich das so sagen darf.
Können wir bitte einfach in Kontakt bleiben und einander umgehend unterrichten, wenn einer etwas von Dennis hört? Hoffentlich Gutes!
Freundliche Grüße von Lagos nach Hamburg,
Deniz Aldemir
Nachdem ich Michelle die Mail aus Lagos vorgelesen habe, antwortet sie besorgt: „O je, wo ist Dennis bloß? Aber immerhin ist dieser Arzt wohl okay, nicht?“
Natürlich schreibe ich sofort zurück, danke ihm für sein Angebot und bestätige, dass wir einander jederzeit informieren sollten, sobald es etwas Neues gibt. „Hoffentlich Gutes!“ füge auch ich hinzu.
In Hamburg hat inzwischen der Herbst mit ersten kühlen Stürmen begonnen, der die abgefallenen Blätter vor sich hertreibt. Es war ein ungewöhnlich langer und warmer Sommer für Norddeutschland. Trotz Sorge um ein völlig durchgedrehtes Klima haben es viele genossen.
Dass ich während der Sommerferien nicht weg war und die meiste Zeit im Supermarkt jobbte, war dadurch weniger schlimm. Selbst abends ging ich an milden Spätsommertagen noch öfter bei unserem Freibad für ein paar Runden im Fünfzig-Meter-Becken vorbei. All das ist nun Anfang Oktober mit einem Schlag vorbei.
In der Schule bekommen wir von den meisten Lehrern zu hören, dass nun „alles auf uns“ ankommt – als wäre das nicht schon all die Jahre so gewesen. Die letzten Monate vor den Abi-Prüfungen. In Deutsch habe ich moderne Literatur bei Frau Schneider gewählt.
Hoffentlich kommt Günter Wallraff dran. Nicht nur sein Schreiben, sondern sich mit Schreiben einsetzen für eine gerechtere Welt, gefällt mir an ihm. „Der Mann hat eben auch seine eigene Stimme gefunden!“, bestätigt Frau Schneider, als ich ihr meine Entscheidung mitteile. Sie findet immer noch, dass auch ich eine eigene Stimme in meinen Aufsätzen habe. Nur oft zu faul sei. Aber Günter Wallraff ist bestimmt auch kein Streber. Hoffe ich zumindest.
An einem Abend sitzen Michelle und ich noch lange zusammen im Wohnzimmer auf dem Teppich, als der kleine Marco schon tief schläft und der letzte Spätfilm im Fernsehen gerade zu Ende ist.
„In der Berufsschule sagt niemand, dass es auf uns ankommt“, meint Michelle. „Pauken und die richtigen Kreuze machen – oder durchfallen. So schlicht ist es bei uns.“
„Wenigstens ehrlich“, gebe ich zurück. „Weißt du schon, was du und Leila machen, wenn ihr richtige Kauffrauen seid?“
„In jedem Fall abhauen bei IG Farben“, sagt sie entschlossen. „Es gibt ziemlich viele gute freie Stellen im Einzelhandel. Vielleicht nehme ich auch mal was ganz woanders an, zum Beispiel mehr südlich wie in Frankfurt oder München. Hamburg ist immer so mies und grau, jedenfalls im Winter.“
„Was?“, rufe ich entsetzt. Davon hat sie bisher noch nie etwas gesagt. Es geht doch so gut mit uns dreien hier.
„Du wirst dann doch vielleicht auch irgendwo anders hin abhauen zum Studieren oder so?“, schaut sie mich fragend an.
Was soll ich schon studieren? Aber vielleicht in der Welt ein paar Wochen oder Monate herumreisen, das könnte mir gefallen. Nur gerade dann wäre es umso schöner, immer wieder zu unserer Regenbogenfamilie zurückkehren zu können. Zu Michelle sage ich nur: „Ich will nicht studieren.“
In diesem Moment kommt endlich wieder eine Mail von Dr. Aldemir herein. Sofort springe ich auf und öffne sie auf meinem Laptop. Michelle schaut mir über die Schulter.
Lieber David,
endlich gute Nachrichten: Nach fünf Wochen im Land ist Dennis heute bei mir im Büro aufgetaucht. Er lebt!!!
Er hat Schlimmes hinter sich. Aber ein einfacher Kaufmann, ein Angehöriger der Yoruba, hat ihn in einem Armenviertel von Lagos nach einem Überfall aufgenommen und ihm das Leben gerettet …
An dieser Stelle umarmt mich Michelle ganz fest von hinten und ruft: „Mann, ist das schön, David! Der Junge lebt!“
Dann lacht sie so laut in mein Ohr, dass ich sie erst unwillkürlich wegschubse, aber dann auch mitlachen muss. Ausgelassen schreit sie weiter: „Gerettet von einem Kaufmann! Siehst du, kleiner Bruder … in so einer guten Branche lerne ich!“
Auch ich bin jetzt aufgesprungen – wir tanzen wie ausgelassene Kinder durch die Wohnung. Dabei machen wir offensichtlich solchen Krach, dass sogar Marco aufwacht, aus seinem Kinderbett krabbelt und sich verschlafen die Augen reibt. Als er seine Mutter und mich so froh sieht, ist er sofort dabei und springt mit uns durchs Zimmer. Ein gutes Kind – immer bereit zum Feiern!
Als wir alle drei außer Atem sind, ziehe ich Michelle zurück zum Computer. Die Mail von Dr. Aldemir war noch gar nicht zu Ende:
… als Erstes haben wir heute Morgen sofort seine Mutter angerufen.
Dann habe ich ihm ein Handy besorgt, damit wir ab jetzt einander immer erreichen können. Er will auch unbedingt bald mit dir in Kontakt kommen. Es ist nicht so gut wie sein altes, aber immerhin ist WhatsApp drauf. Ich sende dir seine Nummer dafür gleich noch.
Wie es jetzt weitergeht, wissen wir noch nicht genau.
BITTE sei vorsichtig in unserer Kommunikation.
Ihm ist alles geklaut worden.
Du verstehst, ja? ALLES.
So kommt er auch nicht ohne Weiteres hier aus dem Land. Aber er lebt … und hat vorläufig einen sicheren Ort in jenem armen Stadtteil. Sicherer als bei mir in einem eher edlen Viertel, wo alles dauernd überwacht ist und niemand ohne Ausweis rein- oder rauskommt.
David, alles andere wird dir Dennis berichten.
Er sagte, dass er bei dir und deiner Schwester in Hamburg wohnen könnte. Stimmt das?
Wir halten Kontakt.
Viele Grüße, auch an deine Schwester,
Deniz Aldemir
Michelle strahlt mich an: „Er hat sogar wieder mich grüßen lassen! Ach David, vielleicht wird wirklich noch alles gut für den Jungen!“
Zu dritt umarmen wir uns, der kleine Marco in der Mitte.
Doch von Lagos nach Hamburg ist es noch weit. Sehr weit.
So schrecklich meine Ankunft hier begann, so gut war es heute, endlich Dr. Aldemir zu treffen. Schon bei der Kontrolle am Eingang des Krankenhauses werde ich sofort durchgelassen, nachdem der Wachmann in seinem Büro angerufen und meinen falschen Namen durchgegeben hat. Als ich kurz darauf in seinem Büro im zweiten Stock bin, schließt er die Tür, gibt mir die Hand und sagt, dass ich ihn ruhig Deniz nennen könne. Aber mir fällt es schwer, einen Doktor mit Vornamen anzusprechen. Das würde auch Mama mehr als unhöflich finden.
Bevor wir weiterreden, rufen wir sie von einem Handy an, das er aus einer Schublade holt: „Das bekommst du später. Es hat eine Nummer, die nicht registriert ist.“
Dann Mama am Telefon. Nur drei oder vier Minuten. Ich spüre, dass sie kaum sprechen kann vor lauter Aufregung. Immer nur wiederholt: „Ach, mein Junge … ach, lieber Herr Doktor … ach, mein lieber Junge …“
Ich frage sie nur, ob sie in Kampala in Ruhe gelassen wird. Aber sie kann noch immer kaum reden und stammelt nur: „Ja, ja, mein Junge, alles ist gut. Du bist am Leben!“
Dann schaltet Dr. Aldemir das Handy aus und gibt es mir mit einem Aufladekabel. Auf einen Zettel notiert er den Anschluss und zeigt mir, wie man auf WhatsApp gehen kann: „Das müsste erst mal reichen. Und du hast meine Nummer auch dabei.“
Natürlich weiß er, dass Dennis mein falscher Name ist … es gibt ihn nur wegen des inzwischen geklauten Passes. Um Sachen nicht komplizierter zu machen, schlägt er vor, dass ich hier erst mal weiter den falschen Namen benutze. Dennis Kadaga.
„Hat außerdem eine schöne Bedeutung im Türkischen“, fügt er hinzu. „Deniz heißt das Meer. Möge es ein gutes Omen sein.“
Er lebt lange genug in Lagos, dass er weiß, wo ich eventuell einen neuen falschen Pass bekommen kann. Dann vielleicht nur mit einer anderen Nationalität und wieder einem neuen Namen.
„Aber vielleicht taucht der geklaute auch irgendwo auf – und du kannst ihn offiziell zurückbekommen. Das wäre am besten. Pässe werden auf verschiedenen Märkten hier gehandelt. Noch heute werde ich bei RuandAir eine Kopie deines Tickets aus Kigali anfragen. So kannst du zumindest schon mal nachweisen, dass du korrekt eingereist bist.“
Ich mag Dr. Aldemir vom ersten Moment an. Er spricht auch voller Anerkennung von den Yoruba, als ich ihm von Mister Olayinka und seinem Sohn Odu erzähle. „Feine Menschen!“, stimmt er mir zu. Ich weiß inzwischen, dass es viele Spannungen und immer wieder auch Gewalt zwischen den verschiedenen Völkern gibt, die in Nigeria leben.
Ich schätze Dr. Aldemir auf Ende fünfzig, höchstens Anfang sechzig. Sein Haar ist noch voll, aber an den Seiten ergraut. Aber ob er auch schwul ist? Ich kann es nicht spüren und traue mich auch nicht, direkt zu fragen. Er wirkt so männlich und selbstbewusst. Offensichtlich ein Arzt mit hoher fachlicher Autorität, da er sonst nicht Studierende ausbilden dürfte.
Zu meiner Überraschung spricht er es selbst an: „Es stimmt, Dennis, dass ich auch so bin wie du und David in Hamburg. Aber ich wuchs zu einer anderen Zeit auf. Niemals hätte ich ein geachtetes Leben führen können, wenn ich nicht früh geheiratet hätte. Meine Frau weiß alles und liebt mich. Unsere vier inzwischen erwachsenen Kinder wissen nichts, und das bleibt auch so, bis ich in zwei Jahren pensioniert werde. Dann werde ich Lagos verlassen und wieder in Istanbul leben. Mal sehen, was dann noch möglich ist. Ich bin froh, dass es heute junge Menschen wie dich und David gibt. Ihr macht auch mir Mut.“
Und dann fügt er schmunzelnd hinzu: „Ein schöner Zufall, nicht? Du und er haben den gleichen Vornamen. Weiß er es schon?“
Ich schüttle den Kopf. Ich weiß genau, wann ich es ihm sagen werde: Wenn wir uns das erste Mal sehen, treffen, anschauen, umarmen.
Dann.
Und dann ist es tatsächlich so weit. Noch in derselben Nacht.
Nicht mehr über Planet Romeo, sondern WhatsApp, ohne Foto, nur mit seinem Namen: Dennis. Das erste Mal höre ich seine Stimme. Eine freundliche Jungenstimme. Sein Englisch hat einen Akzent, den ich nicht kenne. Aber es ist seine Stimme. Die Stimme von Dennis. Wow!
Dennis: „Sorry, ich weiß, es ist mitten in der Nacht. Habe ich dich aufgeweckt, David?“
David: „Ja, hast du. Wunderbar!“
Dennis: „Ich bin auch froh, dich zu hören. Du hast eine tiefere Stimme als ich.“
David: „Echt?“
Dennis: „Ja, aber gut. Klingt gut.“
David: „Was ist nur passiert? Ich hatte solche Angst um dich.“
Dennis: „Ich wurde überfallen, gleich am ersten Abend. Und habe dabei zwei Mal was über den Kopf bekommen. Zum Glück habe ich einen Dickschädel!“
David: „Und jetzt? Hast du noch Schmerzen?“
Dennis: „Nur manchmal. Meist alles okay. Habe eine dicke Narbe. Aber irgendwann wird mein Haar drüber wachsen. Bis wir uns sehen, ist alles gut!“
David: „Weißt du schon, wie du weiterkommen wirst?“
Dennis: „Nicht wirklich. Zuerst brauche ich einen neuen Pass. Das können wir nur hier regeln. Da kannst du nichts machen.“
David: „Kann ich sonst etwas tun?“
Dennis: „Mich nicht vergessen …“
David: „Niemals! Ich habe auch dein Foto noch, sogar zwei Mal ausgedruckt. Ich habe es auch allen anderen hier in Hamburg gezeigt.“
Dennis: „Bitte sende mir noch mal das Foto von dir. Ich hatte nur das auf meinem Smartphone.“
David: „Wird gemacht. Und bitte melde dich bald wieder!“
Dennis: „Versprochen. Ich sende dir auch ein neues Foto von mir. In echter afrikanischer Kleidung. Und mit meinen beiden Lebensrettern.“
David: „Super … ich freue mich drauf.“
Dennis: „Schlaf gut … ich vermisse dich.“
David: „Hallo? Bist du noch da, Dennis?“
Abbruch – Abbruch – Abbruch
Am Nachmittag des nächsten Tages kommen zwei Fotos von Dennis aus Lagos. Eines zeigt ihn in einem blauweißen langen afrikanischen Gewand mit einer traditionellen Kappe in gleichen Farben. Er steht vor einer braunen Lehmmauer und schaut ernst.
Auf dem anderen ist ein älterer Mann in ähnlicher Kleidung, aber anderen Farben zu erkennen, der seinen rechten Arm um die Schultern von Dennis gelegt hat. Vor ihnen steht ein dünner Junge in weißem Gewand. Alle drei lachen in die Kamera. Gemeinsam sehen sie aus wie ein Vater mit zwei Söhnen. Dennis hat dazu getippt: Meine Lebensretter.
Als ich es Abdul im Lager des Supermarktes zeige, schaut er es sich lange an. Dann gibt er es mir zurück und sagt: „Ich freue mich so mit dir und Dennis, David!“
Am Abend wird er erneut seinen Bruder Hassan begleiten zur Safe Space Gruppe. „Es geht nicht nur um euch“, erklärt er leise, bevor uns der Abteilungsleiter wieder auf den Hof zum Abladen scheucht. „Es geht uns alle an, dass Dennis sicher leben kann. Eines Tages.“
Leila hat versprochen, sich darum zu kümmern, wie wir einen Asylantrag für Dennis in Deutschland vorbereiten können. Seitdem habe ich aber noch nicht wieder von ihr gehört.
Nur einen Tag nach der ersten Mail, an einem Sonntagnachmittag, als ich allein daheim bin, kommt eine zweite von Dr. Aldemir:
David, entschuldige, wenn ich es so direkt frage – wäre es dir möglich, in den nächsten ein oder zwei Wochen von Hamburg nach Istanbul zu kommen?
Sehr herzlich, Deniz Aldemir
Es geht eigentlich gar nicht, weil ich gerade eine Nachhilfe für Mathe begonnen habe, ohne die ich wohl keine Chance bei der Prüfung haben werde. Und ich habe Michelle versprochen, an mehreren Abenden auf Marco aufzupassen, wenn sie Leila bei deren Prüfungsvorbereitungen helfen will, da Frau Gonzales genau in dieser Zeit einen Intensiv-Deutschkurs an der Volkshochschule belegt hat.
Ohne Zögern antworte ich: Ja klar! Was soll ich tun?
Ich weiß, dass Michelle und Leila eine andere Lösung finden werden – und wenn ich wegen Dennis durch die Matheprüfung falle, ist es wenigstens ein vernünftiger Grund.
Ich melde mich wieder – danke, David!, lautet die folgende, noch kürzere Mail.
Mister Olayinka und Odu freuen sich mit mir, dass ich dieses Mal den Kollegen meines Vaters treffen konnte. Ich sage nicht, dass er Arzt ist und nicht, dass ich vielleicht bald weiterreisen werde. Mehr fragt auch Mister Olayinka nicht.
Ich möchte auf einen besseren Moment warten, um ihnen in Ruhe zu erklären, warum ich keinesfalls in Lagos bleiben kann, auch wenn sie die besten Menschen sind, denen ich hier nur begegnen konnte.
Leider kommt dieser Moment nicht. Schon gar nicht mit Ruhe. Und ich will keine Unruhe verbreiten, solange ich selbst nichts Näheres weiß.
Fünf Tage nach meinem Besuch bei Dr. Aldemir ruft er mich erneut an und redet so leise, als müsste er sichergehen, dass ihn auch wirklich niemand in der Nähe seines Büros hören kann.
„Dennis?“
„Ja?“
„Ich habe alles, was du brauchst. Bitte komme morgen Vormittag in mein Büro. Um elf Uhr. Geht das?“
„Ja, Dr. Aldemir.“
„Bis morgen, Dennis!“ Schon hat er aufgelegt.
In dieser Nacht kann ich kaum einschlafen. Odu dagegen atmet ruhig in seinem Bett gegenüber. Sein alter Laptop sendet noch irgendwelche stummen Bilder über den Schirm, deren Lichter an der Decke flackern. Erst als schon die ersten frühen Großstadtgeräusche durch das offene Fenster zu uns heraufschallen, falle ich in einen unruhigen Schlaf.
Beim Frühstück sage ich zu Mister Olanyika und Odu: „Ich muss heute wieder zu dem Kollegen meines Vaters. Ich bin nicht sicher, was danach geschieht. Vielleicht muss ich Lagos für eine Weile oder auch für immer verlassen.“
Besorgt schaue ich in ihre Gesichter. Odu hat es nicht genau verstanden, aber sein Vater antwortet ruhig wie immer: „Wir lieben dich, Dennis. Was immer geschieht – du hast nun auch eine kleine Familie in Lagos.“
Zu gern würde ich ihm mehr sagen, mehr erklären. Aber ich bekomme kein Wort heraus. Plötzlich laufen mir dicke Tränen übers Gesicht. Am Ende stammle ich nur: „Ich liebe euch auch … immer.“
Mister Olanyika streicht mir über den Kopf, als wäre ich wirklich sein Sohn. Mehr sagt er nicht. Er gibt keine Anweisung, den Wohnungsschlüssel zurückzugeben. Er bittet mich auch nicht, noch zu bleiben, bis morgen die neue große Lieferung aus Abuja eingetroffen ist, damit er und Odu sie nicht allein abladen, einräumen und registrieren müssen. Er bohrt nicht mal nach, wohin ich denn von hier aus überhaupt will.
Mister Olayinka vertraut mir uneingeschränkt.
Nachdem sie beide schon den Laden unten geöffnet haben, überlege ich noch, was ich mitnehmen muss zu Dr. Aldemir. Plötzlich ist klar, dass ich gar nichts besitze, was es einzupacken gäbe. Das Besondere ist, dass mir nichts gefehlt hat die letzten Wochen hier. Ich hatte immer ausreichend von dem, was ich am meisten brauchte: Pflege, Zuneigung, Essen, ein Bett. Nichts davon kann man wirklich mitnehmen.
Den Weg zu Dr. Aldemirs Büro finde ich dieses Mal ohne jede Mühe. In weniger als einer Stunde bin ich in der Ishaga Road. Am Tor steht derselbe Wachmann und wählt die Nummer von Dr. Aldemir, ohne weiter zu fragen.
Dr. Aldemir erwartet mich schon unten in der Halle. Sein Blick zeigt Erleichterung, als er mich sieht. Aber auch eine deutliche Anspannung ist spürbar. Gemeinsam fahren wir schweigend im Fahrstuhl zu seinem Büro im zweiten Stock.
Erst als er die Zimmertür wie beim ersten Mal sorgfältig geschlossen hat und wir beide einander gegenübersitzen, beginnt er zu reden:
„Seit gestern früh habe ich einen neuen falschen Uganda-Pass für dich. Es ist gelungen, ihn mit den gleichen Daten auszustatten wie deinen geklauten. Du bist also weiter Dennis Kadaga. Sogar ein Einreisestempel ist dabei. Nur ein Foto fehlt noch, aber das machen wir gleich.“
Dr. Aldemir zückt ein edles Smartphone und macht zwei Portraitaufnahmen von mir. Dann drückt er auf ein paar Nummern und erklärt: „In einer halben Stunde wird der fertige Pass hier abgeliefert.“
Ich bin beeindruckt, was man in Lagos alles lernen muss, um zu überleben. Selbst als angesehener Arzt im Uni-Krankenhaus.
Er nickt mir kurz zu und fragt: „Okay?“
Ich nicke stumm.
Dann fährt er fort: „Du fliegst heute Nacht – ab Lagos um 22.45 Uhr. Ankunft morgen früh in Istanbul um 7.10 Uhr. Mit Turkish Airlines, wo mir ein guter Freund geholfen hat. Heute Nachmittag holt dich mein Fahrer ab und wird dich ab dann nicht mehr aus den Augen lassen, bis du durch die Kontrolle am Flughafen bist.“
Wieder nickt er mir zu: „Einverstanden?“
Noch immer bekomme ich kein Wort heraus.
„Hast du Gepäck?“, fragt er weiter.
„Nein“, sage ich. „Gar nichts.“
„Jetzt hast du welches“, lächelt er zum ersten Mal und holt einen kleinen Rollkoffer aus einem Schrank.
Er zieht den Reißverschluss an einer Seite auf und öffnet ihn. „Ein paar allgemeine Dinge wie Toilettenartikel und Rasierzeug. Aber auch ein vollständiges Set europäischer Kleidung. Jeans. Drei T-Shirts. Ein paar Lederschuhe. Eine warme Jacke … und, na klar, Unterwäsche und Socken. Alles von meinem Yusuf, dem zweitjüngsten Jungen, als er das letzte Mal hier zu Besuch war und es einfach zurückließ. Er hat ungefähr deine Statur.“
Danach schließt er den Reißverschluss am Deckel des Koffers wieder.
„Mein Fahrer wird den Koffer im Auto haben, wenn er dich abholt. Du solltest dich sowieso erst am Flughafen umziehen. Bis dahin bleibst du der junge Yoruba-Mann. Dort bekommst du auch den Pass, das Flugticket und zweihundert Dollar in bar, damit du etwas hast bei der Ankunft in Istanbul. Mein Fahrer wird darauf achten, dass dir das nicht schon bei der Ausreisekontrolle abgenommen wird!“
Wieder beweist Dr. Aldemir, wie gut er sich in Lagos auskennt.
Das erste Mal habe ich eine Frage: „Wie soll es dann ins Istanbul weitergehen? Holt mich jemand ab?“
Dr. Aldemir überlegt einen Moment, als wüsste er die Antwort selbst nicht, und fährt dann zögerlich fort: „David, ich muss dir ehrlich sagen, dass mein Einfluss heute Abend hier am Flughafen endet. Zwar habe ich jede Menge Familie in Istanbul, aber die darf hierbei keine Rolle spielen. Es geht einfach nicht.“
Ich nicke und sage: „Sie haben dann auch wirklich genug getan. Ich werde dann einfach weitersehen. Ohne Ihre Hilfe würde ich niemals von hier wegkommen.“
Dann fügt er so zögerlich, wie ich es sonst nicht von ihm kenne, hinzu: „Ich versuche etwas zu organisieren, aber weiß nicht, ob es gelingt. Sei darum lieber darauf vorbereitet, dass du dann deinen Weg nach Hamburg allein suchen musst.“
„Ist gut“, bekräftige ich wieder. „Ich danke Ihnen so sehr für alles, was Sie hier für mich tun.“
„Ich schlage vor, dass du deine Mutter erst wieder anrufst, wenn du morgen gut in Istanbul gelandet bist. Damit sie sich keine unnötigen Sorgen macht. Siehst du das auch so?“
Er hat auch hier recht. Eine Frage habe ich dann aber doch noch. „Dr. Aldemir, bitte verstehen Sie es nicht falsch, aber darf ich die Hälfte der zweihundert Dollar jetzt schon haben? Ich muss hier noch etwas Dringendes erledigen, bevor Ihr Fahrer heute Nachmittag kommt.“
„Soll ich es dir nicht besser in Naira geben?“, fragt er zurück. Ich bin dankbar, dass auch er mir vertraut und nicht nachfragt, wofür ich das Geld brauche. Dann öffnet er eine Metallkiste in seinem Schreibtisch und zählt ein paar große Naira-Scheine ab. „Hier!“ Es sind über 36.000 Naira.
Alles ist so gut vorbereitet, wie es nur geht.
Bevor ich sein Büro verlasse, frage ich ihn noch: „Werde ich Sie noch mal wiedersehen?“
„Nicht hier, mein Junge!“, sagt er und umarmt mich kurz und eher unbeholfen, bevor er mich ziehen lässt. „Guten Flug, David!“
„Danke, Doktor!“, antworte ich und umarme ihn ebenfalls. Lange und fest. Er lässt es geschehen. Erst dann gehe ich zum Fahrstuhl, ohne mich noch mal umzudrehen.
Für den Rückweg nach Mushin lasse ich mir alle Zeit. Ich fühle nur immer wieder in der linken Tasche meines Gewandes nach meinem Handy und dem Stapel von Geldscheinen.
Nicht weit von unserem Supermarkt gibt es eine Art Warenhaus, das alle Arten von traditioneller Dashiki-Kleidung anbietet. Die Größen von Mister Olayinka und Obu kenne ich ungefähr. Ich nehme die beste Qualität, die ich bezahlen kann. Es bleibt sogar noch etwas übrig. Gerade genug, um noch in einen kleinen Elektroladen gleich um die Ecke zu gehen.
Zurück daheim gehe ich zuerst hoch in unsere Wohnung, damit sie meine Überraschung nicht sofort sehen. Ich lege das jeweils passende neue Hemd auf ihre Betten. Auf Odus Kopfkissen außerdem noch einen kleinen Lautsprecher für seinen alten Laptop, damit er ab jetzt auch die Geräusche bei seinen Killerspielen hören kann. Auch der vorhin dazu erworbene Adapter passt. Er wird nun sein Zimmer wieder für sich haben, und niemand kann sich dadurch gestört fühlen.
Als ich mich gerade an den Küchentisch setzen will, um Mister Olayinka und Odu noch einen Brief zu schreiben, kommt eine SMS auf meinem Handy rein.
Es ist der Fahrer von Dr. Aldemir: Sorry, wir müssen etwas eher los. Ich stehe in der Seitenstraße neben eurem Supermarkt. Bitte keinen Abschied. Komm durch die Hintertür eures Wohnblocks und geh dann direkt auf einen schwarzen BMW an der Ecke zu. Jetzt sofort.
Ich schließe die Wohnungstür von außen ab und schiebe den Schlüssel durch einen unteren Schlitz zurück in die Wohnung. Dann laufe ich die vier Treppen hinunter, denn der Fahrstuhl funktioniert schon seit Tagen wieder nicht.
Als ich durch den Hinterausgang unten auf die Straße trete, erkenne ich sofort den schwarzen Wagen. Er ist neu und glänzt - und fällt auf in dieser Gegend. Ich gehe direkt auf ihn zu und steige, ohne innezuhalten, auf der Beifahrerseite ein.
Der Fahrer ist jung und trägt Uniform, aber stellt sich nicht vor. Auch ich sage nichts. Ich schaue an meiner Seite starr aus dem Fenster. Er soll nicht sehen, dass ich heule.