Glitzer
STUCKRAD-BARRE: Martin, ich habe bei dir zu Hause entdeckt: unerwartete Mengen an Glitzergläsern. Glitzergläserröhrchen. Glitzer! Gläser! Röhrchen! In der Küche lagen nicht wenige reagenzgläschenförmige Behältnisse, voll mit – man kann es nicht anders sagen – Glitzer. Also goldener, purpurner Glitzer, wie ihn sehr junge Mädchen als Schminke vielleicht verwenden oder im Barbie-Haushalt oder so. Ich weiß gar nicht, wofür man sonst noch Glitzer braucht. Jedenfalls muss ich sagen, deine Bücher kennend und sehr mögend, da kam der Glitzer jetzt überraschend.
SUTER: Gut, ich persönlich brauche Glitzer praktisch nie. Aber unsere Tochter Ana, die übermorgen dreizehn wird, die ist natürlich in dieser schwierigen pubertären Phase. Und du weißt ja, wie das ist, da dreht man manchmal praktisch durch. Über die Pubertät hat mir mal jemand gesagt: »Ja, das musst du wissen, das ist eine Geisteskrankheit, die Pubertät.«
STUCKRAD-BARRE: Wirklich?
SUTER: Ja. Damit musst du einfach rechnen, dass du da nichts dagegen machen kannst. Dann habe ich aber gelesen von einer Psychologin, einer amerikanischen Psychologin, die hat eine andere Psychologin getroffen in Texas, und die hatte ein Einmachglas mit Wasser drin und Glitzer. Die hat gesagt, wenn ihre pubertären Patientinnen und Patienten in diesem Zustand sind, wo sie halb durchdrehen, dann nimmt sie dieses Glas und schüttelt es. Wie diese Gläser, in denen es schneit. Und dann wirbeln diese farbigen Glitzer-Stückchen durcheinander, und sie sagt: »Schau, so sieht es im Moment in deinem Kopf aus. Und jetzt musst du einfach das anschauen und warten, bis sich das wieder gesetzt hat. Dann ist es wieder ruhig.« Und mit dieser Methode, hat sie gesagt, hätte sie alle diese Krisen ihrer Patienten gemeistert.
STUCKRAD-BARRE: Das ermöglicht ihnen also, den Vorgang zu erkennen und zu begreifen?
SUTER: Genau.
STUCKRAD-BARRE: Also eine Distanz zu sich selbst einnehmen: Ah, das ist gerade nicht für immer, sondern das ist eine vorübergehende Kernschmelze meines Verstandes, aber das setzt sich dann auch irgendwann. Wie der Glitzer.
SUTER: Das ist in der Theorie so. Wir haben es dann mit Ana probiert, und da war eigentlich das Basteln, auch das Einkaufen dieses Glitzers ein Projekt, du kannst ja nicht einfach jeden Glitzer nehmen.
STUCKRAD-BARRE: Natürlich nicht, um Himmels willen! Das muss schon sitzen. Das muss Spezialglitzer sein. Aus einer Manufaktur, seit Jahrhunderten in Familienbesitz. Glitzer und Söhne. Für deine Tochter!
SUTER: Der erste Glitzer, den ich irgendwo gekauft habe, der schwamm einfach obenauf. Da konntest du schütteln, wie du wolltest, das schwamm obenauf. Und dann habe ich in Zürich ein Bastelgeschäft gefunden in einer Querstraße, falls du auch mal Glitzer brauchst, einer Querstraße zwischen Rennweg und Bahnhofstraße. Da gibt’s ein Bastelgeschäft, und dort …
STUCKRAD-BARRE: Solche Geschäfte sind immer in Querstraßen.
SUTER: Ja, natürlich.
STUCKRAD-BARRE: Der Satz dazu ist dann: »Anders können die sich gar nicht halten – wundert mich sowieso, dass die durchhalten, die haben es wahnsinnig schwer durch den Online-Handel.«
SUTER: Eben. Sie können das auch nicht zahlen, die Bahnhofstraße. Stell dir vor, zwischen all diesen Juwelieren und Zara, da kannst du nicht einen Glitzerladen führen.
STUCKRAD-BARRE: Die ja auch Glitzerläden sind, genau betrachtet.
SUTER: In nämlichem Querstraßenglitzerfachgeschäft jedenfalls habe ich dann den richtigen Glitzer gekauft. Da gibt es auch kleine herzförmige. Wenn du dich mal richtig mit dem Glitzermarkt befasst, dann wirst du sehen, wie reich da das Angebot ist.
STUCKRAD-BARRE: Also das heißt ja, andersherum gesagt, ihr habt den richtigen Glitzer nicht gefunden.
SUTER: Erst nicht, aber dann schon, und damit haben wir es auch probiert. Aber beim ersten Mal, als Ana dann so eine Situation hatte, hat sie gesagt: »Hau mir ab mit diesem doofen Glitzerzeug!«
STUCKRAD-BARRE: »Eine Situation hatte« ist sehr amerikanisch ausgedrückt.
SUTER: Ja.
STUCKRAD-BARRE: We have a situation here. Auf in den Situation Room!
SUTER: Ja. We have a situation. Also es hat, ehrlich gesagt, nicht funktioniert.
STUCKRAD-BARRE: Klar. Man kann auch einen Psychotherapeuten genau dann, wenn man ihn akut braucht, eben nicht auswählen. Es wird dann irgendeiner. In der Krise casten – geht nicht, weil ja eben Krise ist. Wer noch Therapeuten casten kann, braucht aktuell gar keinen. Da reicht es, sich zu besaufen. Man muss ihn ja in der Nichtkrise gecastet haben, um dann darauf zugreifen zu können. Aber man hat natürlich dann keine Lust auf die Ebnung abstrakt erscheinender Vorkehrungen. Und IN der Krise: ist Krise. Und Pubertät ist Krise in Permanenz. Des sogenannten Umfelds natürlich auch. Ziel, Sinn und Wesen der Pubertät ist ja die Entzweiung mit den Eltern, Bruch, Auf‌lehnung, Ablehnung, Sabotage, Widerstand. Die vernunftbegabte Kooperation ist auszuschließen! Stattdessen werden Augen gerollt, Türen geknallt, Verallgemeinerungen gekräht und so weiter. Gut gefallen in einem Film würde mir ein solchermaßen agitiert ausrufendes Mädchen: »Ich will doch jetzt gerade nicht mit Glitzer meine Kernschmelze illustrieren, verdammte Scheiße! Sie IST ja gerade, sie findet ja gerade statt! Ich bin doch gerade verrückt! Ich kann doch jetzt nicht neben mich treten, bewusst, und mir meine Verrücktheit anschauen, modellhaft, um sie zu begreifen und überwinden zu können!«
SUTER: Ich muss zugeben, es hat eindeutig nicht funktioniert. »Hau ab!« und so, hat sie gesagt.
STUCKRAD-BARRE: Aber fandest du im Laden denn Gehör mit deiner Beobachtung, dass mancher Glitzer schwimmt und verklumpt und mancher sich setzt? Ist das ein in Glitzerfachkreisen bekanntes Problem?
SUTER: Also das war dort unter Fachleuten überhaupt keine Frage. Selbstverständlich. »Was? Sie wollen einen schüttelfesten Glitzer haben? Dann müssen Sie hier schauen, die von hier bis hier kommen in Frage. Die dort – bloß nicht! Die lösen sich auf. Jene dort schwimmen obenauf. Diese verklumpen.« Nein, nein, also rohstoffmäßig bin ich glitzertechnisch völlig ausgerüstet.
STUCKRAD-BARRE: Und nach dieser ersten herben Niederlage  IM FELD , wenn wir so sagen wollen, hast du die Sachen trotzdem mit einem gewissen Trotz noch aufbewahrt? Oder ist es eine Invektive gegen mich, und ICH muss jetzt begreifen, dass meine Pubertät noch immer andauert? Das weiß ich sowieso schon, Martin. Aber ich stelle mich wenigstens neben das Glasgefäß und gucke mir deine Vorführung an. Mit Freude! Ich kann, aus Deutlichkeitsgründen, natürlich dabei auch permanent aufs Handy schauen statt auf den Glasbehälter und dazu abwesend Zustimmungsgeräusche summen, um meine scheinbare Anwesenheit vorzutäuschen.
SUTER: Das steht noch da, weil es ein Tipp von den Glitzerspezialistinnen dort zwischen Rennweg und Bahnhofstraße war, die haben gesagt: »Aber Sie müssen destilliertes Wasser nehmen.«
STUCKRAD-BARRE: Ah!
SUTER: »Sonst wird das gelb und fault und so. Es muss hygienisch einwandfrei gearbeitet werden.« Und jetzt steht, seit du zuletzt bei uns zu Besuch warst, das ist ein paar Monate her, immer noch dieses Glas dort, und immer noch hofft das Glas, dass es einmal richtig zu seinem Zweck benützt wird.
STUCKRAD-BARRE: Eigentlich traurig.
SUTER: Ja, wie alles, das nicht gebraucht wird. Das siehst du ja auch hier. Hier, dieser Fauteuil: Nie sitzt jemand in diesem Fauteuil. Oder niemand, den ich kenne. Und wenn ich mich mal hier hinsetze, dann fühle ich mich irgendwie verloren.
STUCKRAD-BARRE: Man weiß dann nicht, wie es weitergeht.
SUTER: Ja. Ja, ja.
STUCKRAD-BARRE: Man sitzt dann da so. Ja. Fauteuil ist für mich jetzt eines dieser Wörter, bei denen ich nicht genau weiß, mit wie vielen Ls und EU s und so oder OI s.
SUTER: Die französischen Kinder haben noch das Privileg, solche Wörter zu lernen, die man ganz anders schreibt, als man sie ausspricht. Auch englische Kinder. Nur die deutschen und Schweizer Kinder und Österreicher, die müssen jetzt praktisch phonetisch schreiben.
STUCKRAD-BARRE: Nur nicht Fonduetram.
SUTER: Nein, dürfen sie nicht. Aber stell dir vor, die Kinder würden statt Bordeaux »Bordo« schreiben. Das wäre doch eine Beleidigung. Wir können doch B-O-R-D-E-A-U-X schreiben und Bordo sagen. Wir sind doch nicht so blöd. Da wäre ich gerne mal eine Fliege an der Wand gewesen in diesen Sitzungen. Da haben die sicher zwei Monate über Gämse gestritten, ob man das mit A-Umlaut oder mit E schreiben soll.
STUCKRAD-BARRE: Ja. Ja.
SUTER: Oder platzieren. Stell dir vor.
STUCKRAD-BARRE: Platzieren, ja. Furchtbar.
SUTER: Platzieren. Dieses elegante Plazieren hat jetzt mit Platzen, geplatzt was zu tun.
STUCKRAD-BARRE: Wie machst du es in deinen Büchern? Ich mache es bei mir so, ich entscheide da zwischen neuer und eigentlicher Rechtschreibung so, wie es mir passt. Also platzieren würde ich niemals durchgehen lassen bei mir.
SUTER: Natürlich nicht. Niemand Zurechnungsfähiges täte das.
STUCKRAD-BARRE: Ich finde es sowieso ein etwas blödes Wort. Ich wüsste gar nicht, wann ich es mal verwende. Aber wenn, doch bitte mit C.
SUTER: Ja, in der Küche gibt’s ja das Mise en place, die Vorbereitung. Stell dir vor, man würde Mis en Platz schreiben. Das wäre irgendwie furchtbar.
STUCKRAD-BARRE: Wie kommt es vom Diogenes Verlag zurück zu dir? Nach neuester Rechtschreibung?
SUTER: Nein, Diogenes hat sich von Anfang an für die gemäßigte neue Rechtschreibung entschieden. Und da gibt es ein paar scharfe S, aber Gämse … Also ich vermeide einfach platzieren. Diogenes würde es, glaube ich, nach wie vor nur mit Z schreiben.
STUCKRAD-BARRE: Nicht mit C?
SUTER: Nein, nein, mit einem Z. Und die Gemse ist jetzt eine Tierart, die in meiner Literatur ausgestorben ist. Leider kommt die nicht mehr vor. Der Gemsbart auch nicht, natürlich.
STUCKRAD-BARRE: Ist das nicht der Gamsbart? Ist es da nicht Singular?
SUTER: Der Gamsbart? Aber die Gemse ist ja auch Singular. Siehst du, jetzt sind wir praktisch schon im PEN -Club, thematisch.
STUCKRAD-BARRE: Ja. Ich glaube nicht, dass es so konkret ist im PEN -Club.
SUTER: Meinst du nicht?
STUCKRAD-BARRE: Nein. »Mehr so gesellschaftlich.« Würde ich sagen. Nein: RAUNEN würde ich das. Die ganz großen Felder bewirtschaften. Von Oslo aus Amerika zu Ende denken. Was heißt eigentlich PEN noch mal? Habe ich vergessen.
SUTER: Feder.
STUCKRAD-BARRE: Ja, ja, aber ist es nicht auch irgendeine Abkürzung?
SUTER: Ich weiß es nicht. Das wäre vielleicht mal ein Thema: Was heißt eigentlich PEN -Club?
STUCKRAD-BARRE: Ja. Und warum wundern wir uns, dass wir nicht drin sind, wenn wir noch nicht mal das wissen?
SUTER: Stimmt. Wie so oft ist es auch eine verdiente Niederlage, nicht aufgeboten zu werden im PEN -Club.
STUCKRAD-BARRE: Es gilt ja auch diese leider arg strapazierte Groucho-Marx-Regel, dass man nicht Mitglied des Clubs sein will, der einen aufnimmt.
SUTER: Gut, das ist wahr. Und wo sind dann die Sitzungen? Wahrscheinlich ist es schwierig für Schweizer PEN -Club-Mitglieder, die müssen dann immer nach Berlin.
STUCKRAD-BARRE: Nein, ich glaube nicht Berlin.
SUTER: Nicht? Ist das mehr so …
STUCKRAD-BARRE: Das ist international.
SUTER: … Krefeld?
STUCKRAD-BARRE: Nein! Der PEN -Club? In Argentinien oder so treffen die sich. Aber geistig ist es natürlich: Krefeld.
SUTER: Du meinst, es gibt nur einen internationalen PEN -Club? Gibt es den nicht ländermäßig?
STUCKRAD-BARRE: Ortsvereine.
SUTER: Ich glaube, es gibt Ortsvereine.
STUCKRAD-BARRE: Wir könnten das natürlich bei Max Frisch überprüfen. Ganz bestimmt hat der den PEN -Club mal geleitet oder so. Ihm ins Stammbuch geschrieben, permanent. Widerspruch. Debatten. Pfeife rauchend miteinander brechen und so weiter.
SUTER: Das ist gut möglich. Da kenne ich seine Biographie zu wenig.
STUCKRAD-BARRE: Ich kenne sie eigentlich ganz gut, aber ich glaube auch, dass die Aktivitäten im PEN -Club genau der Teil an Max Frisch sind, den ich unausstehlich finde. Also wie diese ja doch sehr didaktischen Theaterstücke und Aufsätze, Aus dem Brotsack, Schweiz ohne Armee . Das ist ja dann doch etwas unpoetisch.
SUTER: Ja, ja.
STUCKRAD-BARRE: Wohingegen seine Romane sehr gut haltbar sind, finde ich.
SUTER: Ja, finde ich auch. Finde ich auch.
STUCKRAD-BARRE: Welches ist dein Lieblingsbuch von Max Frisch?
SUTER:
Manchmal Montauk, manchmal – wie bei allen – Stiller .
STUCKRAD-BARRE: Bei mir ist es wohl Montauk, aber danach folgt Gantenbein .
SUTER: Ah ja.
STUCKRAD-BARRE: Ich finde Stiller viel zu viel auf Schullektüre hin geschrieben, zu einfach irgendwie. Gantenbein ist ein sehr schönes Buch, das habe ich erst spät begriffen. Nun gut – Glitzer immer zu Hause haben, speziell, wenn der PEN -Club anruft?
SUTER: Ja. Unbedingt.
STUCKRAD-BARRE: Du, da bin ich ganz bei dir, du.
SUTER: Da gehe ich d’accord.
STUCKRAD-BARRE: Totale Schnittmenge.
SUTER: Am Ende des Tages – ja.
STUCKRAD-BARRE: Gut auch: »Der Ball liegt jetzt im Feld des PEN -Clubs.«
SUTER: Und ich finde, da liegt er gut.