Fotos
STUCKRAD-BARRE: Martin, deine Tochter hat soeben das Zimmer verlassen. Sie hatte zuvor auf ihrem unerhört neuen iPhone Fotos von uns gemacht. Zufrieden damit war sie nicht.
SUTER: Ja, sie macht eigentlich gute Fotos.
STUCKRAD-BARRE: Deshalb auch war sie wahrscheinlich nicht zufrieden.
SUTER: Sie hat sich die Latte sehr hoch gelegt. Also, du kennst ja ihre Fotos.
STUCKRAD-BARRE: Eben, an ihr kann es also nicht gelegen haben. Haben wir versagt?
SUTER: Wahrscheinlich.
STUCKRAD-BARRE: Lag ihre Unzufriedenheit vielleicht einfach am schwierigen Alter – und wenn ja, an ihrem oder an unserem? Wenn ich fotografiert werde, bitte ich immer darum, dass so etwa vierzig, fünfzig Bilder gleich gemacht werden – hinterher wähle ich aus, und es bleibt maximal eines übrig. Ich habe eine sehr strenge Tür, was mich selbst betrifft. Also, Eitelkeit kann man das eigentlich wirklich nicht nennen. Es ist die Begrenzung von Schaden. Ich bin sehr unzufrieden mit mir auf den meisten Fotos. Du auch? Oder ist dir das egal? Gibst du Fotos frei, wie es so elegant, fast monroeartig heißt? Ich bin mehr so der Typ Kontaktbogen, Lippenstift, Rasiermesser.
SUTER: Ja, ich schaue schon ein bisschen, dass nicht alle Fotos, die von mir gemacht werden, freigegeben werden. Aber du weißt ja, es wird immer schwieriger. Jetzt, wo eigentlich jeder Mensch ständig einen Fotoapparat in Form eines Handys in der Hand hat, kannst du das überhaupt nicht mehr kontrollieren. Da kannst du eigentlich nur noch schauen, dass du möglichst gut aussiehst in jeder Situation. Jede Sekunde musst du dein Gesicht unter Kontrolle habe, deine Körperhaltung und so.
STUCKRAD-BARRE: Ich fühle mich sowieso immer zu dick, aber auf Fotos erst recht. Ganz schrecklich. Fettes Gesicht, ungünstig fallende Kleidung, fettes, fettes, fettes Gesicht. Immer. Wenn hingegen andere sagen, ich sähe auf einem Foto ein bisschen krank aus, abgemagert oder gar – das am allerliebsten – ausgezehrt, dann gefällt mir dieses Foto sofort sehr. Auch deshalb muss ich natürlich ständig Diät halten, was ich aber im Moment leider gar nicht allzu konsequent tue, weshalb ich aktuell unzufriedener denn je bin mit mir auf Fotos. Also wenn deine Tochter uns nachher fünf Bilder zeigt, werde ich diese, angeekelt von mir selbst, anschauen und Ana anflehen: Bitte alle löschen, wir müssen das noch mal machen.
SUTER: Ja, das weiß ich. Ich weiß.
STUCKRAD-BARRE: Was sind deine Kritikpunkte an dir selbst? Also Körperhaltung und Gesicht, sagtest du, sind potentiell problematisch. Welche Körperhaltung empfindst du denn als für dich unvorteilhaft?
SUTER: Ach, ich neige einfach zur Buckligkeit. Ich stehe nicht gerade genug, habe mein ganzes Leben nie gerade genug gestanden. Aber wenn du das mit zweiundzwanzig machst, dann sieht das irgendwie cool aus, oder?
STUCKRAD-BARRE: Mit zweiundzwanzig sieht doch eh wirklich alles cool aus. Krumm stehen bestimmt auch.
SUTER: Ja, da denkt man: Das ist locker. Einfach so ein Schnappschuss. Wahrscheinlich stand er eine Sekunde später wieder pfeifengerade da.
STUCKRAD-BARRE: Du lächelst selten auf Fotos.
SUTER: Stimmt das? Ich habe früher immer gelächelt. Aber ich darf einfach nicht immer lächeln. Sonst wäre ich so ein Lustiger.
STUCKRAD-BARRE: Bist du doch eigentlich auch. Aber das darf niemand erfahren?
SUTER: Weißt du, ich habe ein paar Freunde, die Künstler sind, auch berühmte Künstler.
STUCKRAD-BARRE: Ja, und obendrein auch noch mich.
SUTER: Zum Beispiel, wahrscheinlich kennst du den zwar nicht, aber für mich war der einfach sehr berühmt: Daniel Schmid. Ein Schweizer Filmregisseur, Freund und Mitarbeiter von Fassbinder. Der war ein sehr selbstironischer, lustiger Mann.
STUCKRAD-BARRE: Und weltberühmt in der Schweiz.
SUTER: Genau. Und bei dem ist mir aufgefallen: Immer war er so zugeknöpft, wenn Leute dabei waren, die er nicht kannte, oder wenn Medien dabei waren, bei Interviews und so. Aber sobald wir im kleinen Kreis zusammensaßen, Margrith, er und ich, war er so was von selbstironisch und hat sich so was von lustig gemacht über sich selbst. Andere Regisseure, die ich kenne, ziehen das konsequent durch, die bleiben immer gravitätisch und machen sich nie lustig über die eigene Arbeit, die eigene Kunst, die sagen nie: »Um Gottes willen, was habe ich denn da fabriziert!« Die meinen, wenn du dich selbst nicht ernst nimmst, dann nehmen dich die anderen auch nicht ernst. Also mir ist es ziemlich wurscht, ob man mich ernst nimmt oder nicht.
STUCKRAD-BARRE: Ich kann Leute, die sich selbst so ernst und allzu ernst nehmen, überhaupt nicht ernst nehmen. Und umgekehrt. Aber sagtest du nicht eben, dass du nicht mehr lächeln willst auf Fotos?
SUTER: Nein, ich will es schon. Und ich tue es auch. Ich lächle eigentlich oft, oder? Aber ich bin ja sehr fremdbestimmt.
STUCKRAD-BARRE: Ach ja?
SUTER: Als Fotomodell schon. Dann sagt der Fotograf: »Jetzt mal ohne Lächeln bitte.«
STUCKRAD-BARRE: Bei mir sagen sie immer: »Jetzt mal bitte MIT Lächeln.«
SUTER: Ja, gut, das ist auch fremdbestimmt. Aber du machst es dann trotzdem nicht?
STUCKRAD-BARRE: Auf gar keinen Fall, und zwar aus nur einem Grund: Ich lächle, ja lache innerlich gern, eigentlich die ganze Zeit, weil ich praktisch alles lustig finde, genauer gesagt: komisch. Aber ich finde, dass mein Gesicht – wir merken, Leitmotiv – dicker wirkt, wenn ich lächle. Besser ist es, wenn ich ganz dramatisch dreinblicke und den Mund nach vorne strecke, als sei ich eine debile Ente.
SUTER: Da gibt’s Fotos von dir …
STUCKRAD-BARRE: Als debile Ente?
SUTER: … mit leicht eingesaugten Wangen.
STUCKRAD-BARRE: Ich will es hoffen. Sonst sehe ich immer aus, als sei ich gerade sehr gut essen gewesen, und zwar ein Jahr lang, mehrmals täglich. Potenziert wird das noch, wenn ich eben lächle. Also fällt das aus. Ernst wird geguckt, ernst genommen aber gar nix.
SUTER: Ich darf ja dazu überhaupt nichts sagen.
STUCKRAD-BARRE: Nein?
SUTER: Nein, du bist der Einzige, der das beurteilen kann. Ich finde, das Problem der Künstler und überhaupt der Menschen ist …
STUCKRAD-BARRE: Du könntest doch sagen: Nein, Benjamin, das ist Unfug. Du bist viel, viel zu dünn!
SUTER: Quatsch nicht rein, Benjamin!
STUCKRAD-BARRE: Ich wollte Zuspruch. Ich wollte Liebe.
SUTER: Du wolltest höf‌liche Lügen hören.
STUCKRAD-BARRE: Zur Not auch, klar, nehme ich alles! Ja, ich wollte, dass du mich kurz befreist aus meiner ewigen Ich-bin-zu-dick-Denkspirale, indem du mir schmeichelst. Und völlig zu Recht kommst du mir stattdessen mit der kühlen chirurgischen Wahrheit. Du hältst es auch da, wie so oft, mit Madonna: »Don’t hang your shit on me.« Richtig so. Verzeih bitte.
SUTER: Ich finde, das Problem der meisten Leute ist nicht, dass sie nicht ernst genommen werden, sondern dass sie sich selbst so ernst nehmen. Daran scheitert die Politik und oft auch die Liebe.
STUCKRAD-BARRE: Das ist sehr wahr. Und das wiederum finde ich wahnsinnig komisch – und ich würde darüber gern die ganze Zeit lachen. Aber das geht ja nun mal leider nicht.
SUTER: Also vielleicht mache ich das wieder mehr, dass ich einfach lache. Ich gehe ja den Menschen eigentlich auf den Wecker mit meiner Morgenfröhlichkeit.
STUCKRAD-BARRE: Das ist bei mir auch so. Ich bin frühmorgens immer gleich dermaßen aufgedreht und freue mich so, dass alles endlich wieder losgeht – und mache ununterbrochen Scherzchen.
SUTER: Ja, ja.
STUCKRAD-BARRE: Also nachmittags, ehrlich gesagt, auch noch, und abends, nachts ja erst recht – morgens aber ist das ganz extrem. Ich plaudere direkt ab Erwachen dermaßen albern vor mich hin und auch, so ich nicht allein erwache, auf meine Umgebung ein, es ist der helle Wahnsinn. Eines aber zu meiner Verteidigung: Immerhin erzähle ich nie, was ich geträumt habe. Das nämlich ist ja morgens das Allerschlimmste, sich Träume anderer anhören zu müssen – verflüchtigt sich doch der Traum während der Erzählung. Und deshalb klingen so Traumwiedergaben grundsätzlich so, als sei der Traumerzählende einfach komplett auf Drogen: Weißt du, dann kam da plötzlich meine Mutter an, und die war natürlich der Baum eigentlich,weil ja gerade Hochwasser war und ich natürlich immer noch im Paris der Zwanziger und so weiter. Man merkt, er entgleitet dem Erzählenden gerade, dieser Traum, und der Erzählende selbst merkt das auch und wird deshalb immer präziser, um das zu überspielen – es ist für beide ganz furchtbar. Das also unterlasse ich. Stattdessen bin ich so eine Art Einmannfrühstücksfernsehen: kleiner Rückblick, Ausblick, aktualitätsbezogener Unsinn, unablässig Scherzlein über Sachen, die so rumliegen, über das, was der Tag so bringen könnte.
SUTER: Das dürfen auch, ja müssen fast doofe Scherzchen sein.
STUCKRAD-BARRE: Es muss unbedingt sehr doof sein, ja. Niedrigschwelliges Angebot, wie wir in der Therapiegruppe sagen.
SUTER: Genau.
STUCKRAD-BARRE: Ist ja auch ein Trick, eine Strategie – wider besseres Wissen erst mal heiter in den Morgen. Auch ein Grund dafür, dass ich allein lebe. Und wenn ich mal in Gesellschaft aufwache, muss ich das natürlich schon immer jeweils etwas abgleichen, ob meine forcierte Heiterkeit wenigstens so ein bisschen korreliert mit der aktuellen Verfasstheit der anderen Person. Wenn nicht, tschüss – dann gehe ich auf den Balkon und mache eben da meine Scherzchen. Ich brauche kein Publikum, ich mache das einfach für mich selbst.
SUTER: Und man weiß ja selbst, dass die andere Person sie nicht teilt, die gleiche lustige Stimmung.
STUCKRAD-BARRE: Aber es ist doch ein so nettes Angebot! Denn danach kommt ja noch der Tag. Sobald man die Haustür öffnet oder auch nur die Mails, prasseln doch von allen Seiten lauter Ernsthaftigkeitsgebote auf einen ein. Also halte ich, so lang es irgend geht, dagegen. Mit der Haltung: I’ll get back to you. Aber vorher wird erst noch ein bisschen herumgescherzt. Ich drehe aufmunternde Musik auf, singe enthemmt mit, rauche tanzend fast, es ist absolut lachhaft – aber funktional: Verteidigung der Unbeschwertheit, eine temporäre Realitätsverweigerung, bevor man dann ja doch in die Schuhe der Realität steigen muss, ins Geschirr all der Aufgaben und Anforderungen – was nun ein sehr grobes Bild ist.
SUTER: Ins Zaumzeug der Realität vielleicht sogar.
STUCKRAD-BARRE: Ja. Ins SM -Studio Wirklichkeit.
SUTER: Ja.
STUCKRAD-BARRE: Meine Morgenlaune entspricht meiner Lieblingsnebenwirkung eines höchst rezeptpflichtigen Hustensafts: »krankhafte Hochstimmung«.
SUTER: Und passiert es dir auch, dass du dir damit manchmal selbst auf die Nerven gehst?
STUCKRAD-BARRE: Ja, ich antizipiere natürlich schon die Auswirkung auf Freund Mitmensch, die eine verwüstende ist. Die andere Person ummantelt sich nämlich geistig mit so einer Art Tschernobyl-Sarkophag und ist fürderhin nicht mehr erreichbar und sendet so kleine, passiv-aggressive Signale nur noch aus. Manchmal durchaus auch aktiv-aggressiv, verständlicherweise. Dann bitte ich natürlich um Vergebung, allerdings nur scheinheilig: Entschuldige bitte, ich bin so aufgedreht, es nervt jetzt gerade wahnsinnig, nicht? Also ich nehme das zur Kenntnis, bedauere es formal auch, kann es aber nicht regulieren.
SUTER: Ja, das gelingt mir auch nicht. Ich singe sogar manchmal. Du auch?
STUCKRAD-BARRE: Ja, wie gesagt, ich singe viel – und das ganz laut. Auch schlecht.
SUTER:
Ich singe zum Beispiel Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera !
STUCKRAD-BARRE: Wie geht die zweite Zeile eigentlich? (singt) »Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera …«
SUTER (singt) : »Es grünen die Felder, die Höhn, fallera. Wir wandern in den Morgen, singend ohne Sorgen« … oder umgekehrt …
STUCKRAD-BARRE: Sorgend ohne Singen?
SUTER: Nein, nein. (singt wieder) »… singend ohne Sorgen, noch ehe im Tale die Hähne krähn.«
STUCKRAD-BARRE: Also, ich würde dich umarmen morgens. Richtig fest – und mitsingend natürlich! Ohne Sorgen.
SUTER (singt tief) : … »singend ohne Sorgen, noch ehe im Tale die Hähne krähn.« Das war jetzt die zweite Stimme.
STUCKRAD-BARRE: Gut, dann machst du die zweite.
SUTER: Das ist eben das Schöne, wenn man zu zweit ist, oder? Ich würde das auch gerne zweistimmig singen. Nur wenn ich alleine bin, kann ich das ja nicht.
STUCKRAD-BARRE: Aber jetzt bin ich ja da. (singt) »Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera. Es grünen die Wälder und Höhn, fallera.«
SUTER/STUCKRAD-BARRE: (singen gemeinsam) »Wir wandern ohne Sorgen, singend in den Morgen, noch ehe im Tale die Hähne krähn.«
STUCKRAD-BARRE: War das jetzt zweite Stimme oder Unvermögen?
SUTER: Es waren zweite Stimme und Unvermögen.
STUCKRAD-BARRE: Gut, wollen wir die zweite Strophe gleich auch noch singen?
SUTER/STUCKRAD-BARRE: (singen) »Ihr alten und hochweisen Leut, fallera, ihr denkt wohl, wir wären nicht gescheit, fallera. Wer sollte aber singen, wenn wir schon Grillen fingen, in dieser so herrlichen Frühlingszeit?«
SUTER: Ich geb’s auf mit der zweiten Stimme.
STUCKRAD-BARRE (singt) : »Werft ab alle Sorgen und Qual, fallera …
SUTER: Die dritte Strophe singen wir gemeinsam in der ersten Stimme, okay?
STUCKRAD-BARRE/SUTER: (singen) … kommt mit auf die Höhen aus dem Tal, fallera. Wir sind hinausgegangen, den Sonnenschein zu fangen. Kommt mit und versucht es doch selbst einmal.«
STUCKRAD-BARRE: Da spätestens erkennt man: deutsches Volkslied. Anstrengung! Befehl! Strammstehen eigentlich. Da verabschiede ich mich direkt.
SUTER: Bei »Versucht es doch selbst einmal«?
STUCKRAD-BARRE: Gruppenzwang, Fröhlichkeitsbefehl, Fahnenappell: Versucht es doch selbst einmal! Da höre ich sofort meine Mutter mit dem Kinderchor.
SUTER: Das gibt es auch in der Werbung: den Komm-rüber-zu-uns-Effekt.
STUCKRAD-BARRE: Den Komm-rüber- WAS ?
SUTER: Ja. »Dieser Text, Herr Suter, der hat nicht diesen Komm-rüber-zu-uns-Effekt.« Komm mit! Mach mit! Rauch die Peter Stuyvesant. Oder so.
STUCKRAD-BARRE: Der Komm-rüber-zu-uns-Effekt? Das ist toll.
SUTER: Ich weiß nicht, ob es den wirklich je gab oder ob wir uns nur darüber lustig machten. Ich glaube, das hat mal ein Kunde gesagt, der Marketingleiter eines Kunden: »Da fehlt der Komm-rüber-zu-uns-Effekt.«
STUCKRAD-BARRE: Der Komm-rüber-zu-uns-Effekt … Apropos! Mit Helmut Dietl habe ich immer diesen Apropos-Spaß angewendet, weil wir in politischen Talkshows so bewunderten, wie schamlos diese Diskutanten mit einem eingeworfenen »Apropos!« sich in irgendwas einfädeln, um das Wort an sich zu reißen, und dann etwas mit dem zuvor Gesagten in keiner Weise Zusammenhängendes daherlabern. Grundsätzlich eingeleitet mit diesem »Apropos!«. Also: »Apropos fallera« – und dann über Steinkohle im Ruhrgebiet oder so reden. Also apropos Komm-rüber-zu-uns-Effekt: Ich habe mit meiner Freundin, die heute ja leider abgefahren ist, noch ein paar Abschiedsfotos gemacht am Pool. Requisit: Suhrkamp-Taschenbuch! Weil wir beide gerade Mein Name sei Gantenbein noch einmal lesen, was ich nie zuvor gemacht habe: mit einer Frau gleichzeitig ein Buch lesen. Eine sehr, sehr interessante Erfahrung.
SUTER: Also das gleiche Exemplar oder hat jeder seins?
STUCKRAD-BARRE: Nein, nein, jeder seins natürlich.
SUTER: Und wie synchronisiert ihr das?
STUCKRAD-BARRE: Sie ist meistens etwas schneller, wartet dann aber. Und dann sprechen wir auch über das just Gelesene. Das klingt jetzt absolut grauenhaft, weiß ich schon, aber es ist herrlich. Das erzähle ich dir jetzt, denn bei dir habe ich ja wenig Hemmungen.
SUTER: Das ist mir auch aufgefallen, dass du wenig Hemmungen hast bei mir. Das ist wahr.
STUCKRAD-BARRE: Ist das was Gutes oder was Schlechtes?
SUTER: Das ist was Gutes.
STUCKRAD-BARRE: Sicher? Jetzt schäme ich mich gleich wieder, dass ich immer viel zu sehr mit mir so reinplatze, wenn ich mich – wie bei und mit dir – mal ausnahmsweise wohl fühle. Wahnsinnig unhöf‌lich. Und zudringlich. Oje. Das ist dir also auch aufgefallen, sagst du, ja?
SUTER: Ach, das war nur so obenhin gesagt. Wenn ich es vertiefen müsste, würde ich sagen: Du, das habe ich nicht nur nicht gemeint, sondern auch gar nicht gesagt.
STUCKRAD-BARRE: Warum das jetzt?
SUTER: Weil ich Hemmungen habe.
STUCKRAD-BARRE: Das ist eine sehr gute Antwort. Beschämt schlich er – also ich – vom Platze. Nun, apropos Platz: Morgen wird uns ja der NDR filmen, für irgendein Kultur- oder Abendjournal oder so was. Und du hattest mich gefragt, ob wir das machen wollen, und ich habe natürlich sofort zugesagt. Mich drängt es ja ins Licht, weil ich gesehen werden will und all diese Art Schäden und Defekte habe, massenhaft, und ein Symptom davon ist eben: sehr wenig Hemmungen.
SUTER: Na ein paar aber doch schon.
STUCKRAD-BARRE: Ich habe natürlich wahnsinnige Hemmungen und übertrete sie deshalb dauernd. Aber auch du hast das Interview ja zugesagt. Was spräche denn aus deiner Sicht dagegen, sich filmen zu lassen und somit zu dokumentieren, wie man gerade offenbar aussieht, ohne die Kontrolle darüber zu haben, über das Bild?
SUTER: Nur die Zeit. Die Zeit.
STUCKRAD-BARRE: Die Zeit, die Zeit – das wäre doch mal ein guter Buchtitel eigentlich.
SUTER: Ja, die Zeit, die Zeit. Es ist natürlich, wie wir sagen, time consuming. Und ich habe viel zu tun. Außerdem möchte ich schon auch ein bisschen Urlaub hier machen.
STUCKRAD-BARRE: Wie geht das eigentlich?
SUTER: Und ich finde, Drehaufnahmen sind etwas vom Langweiligsten überhaupt. Man hängt stundenlang rum, muss alles zweimal oder dreimal machen.
STUCKRAD-BARRE: Ich musste – oder durf‌te, je nachdem – schon vor einem Jahr hier in eine Kamera sprechen über dich, für einen Kinofilm über diesen Martin Suter. Wo man geht und steht mit dir, es sind eigentlich immer Kameras da. Deshalb auch nur habe ich mich ja mit dir angefreundet.
SUTER: Tja. Mich umschwärmen diese Kameras …
STUCKRAD-BARRE: Ja, Wahnsinn! Also, morgen werden wir gefilmt. Heute wurden wir fotografiert. It’s lonely at the top. Vor allem nach einem Flop.
SUTER: Das reimt sich sogar.
STUCKRAD-BARRE: Ich habe ja einen blauen Matrosenanzug und einen weißen, das ist meine Bühnenuniform. So was trägst du ja eher nicht. Aber du in dem blauen, ich im weißen, oder umgekehrt, also, das ergäbe doch mal sehr gutes Bildmaterial morgen von uns, weil es gar nichts mit der Realität zu tun hätte. Ich finde ja Künstlichkeit immer gut.
SUTER: Das finde ich auch, aber ich habe eine andere Vorstellung von Künstlichkeit.
STUCKRAD-BARRE: Wie sieht die aus?
SUTER: Eine persönliche Künstlichkeit, weißt du?
STUCKRAD-BARRE: Ich finde das Falsche gut.
SUTER: Ja, ja, ich bin ja ständig im Falschen.
STUCKRAD-BARRE: Wie denkst du über Bearbeitung von Fotos? Also Retusche, Filter? Das ist doch herrlich eigentlich. Diesen Clarendon-Filter von Instagram, den hätte ich gern als Grundausstattung in die Augen gelasert.
SUTER: Ich weiß gar nicht. Mir ist das ein bisschen zu aufwendig.
STUCKRAD-BARRE: Aber ein Hoch auf die Künstlichkeit! Du hast doch früher in der Werbung gearbeitet. Und da war die Realität ja sozusagen die Ausgangslage, im Grunde sogar: der Feind. Werbung muss ja verschönern, weichzeichnen, idealisieren – lügen. Natürlich gab es immer auch die Gegenmethode, alles vorgeblich real, realistisch darzustellen, AUTHENTISCH wohl gar noch. Aber das ist ja besonders furchtbar dann. Und vor allem ist auch das ja ein Filter, eine Masche. Und da du ja sagst, du liebst die Künstlichkeit, hast du folglich überhaupt nichts gegen Fotobearbeitung. Nichts Ideologisches zumindest.
SUTER: Nein, ich habe nichts gegen Fotobearbeitung. Ich finde es aber toll, wenn es nicht nötig ist, ein Foto zu bearbeiten.
STUCKRAD-BARRE: Ich schätze sehr, dass man alles heller machen kann. Das wünsche ich mir übergeordnet sowieso, also auch inhaltlich. So eine Art grundsätzliches Kalifornien.
SUTER: Ja.
STUCKRAD-BARRE: So, von Frühtau kann mittlerweile wirklich keine Rede mehr sein, es ist ganz dunkel inzwischen. Das wäre jetzt ein gutes Foto – wie wir hier im Dunkeln hängen und uns eigentlich zu wohl gerade fühlen, zu erschöpft auch sind, um noch irgendwie posieren zu können.
SUTER: Und kein Mensch fotografiert wieder.
STUCKRAD-BARRE: Das nämlich wäre jetzt die Wahrheit hier. Ach, wie gut, dass deine Tochter schon im Bett ist.