Mundharmonika
STUCKRAD-BARRE: Da drüben liegt dein Mundharmonika-Etui, leider leer. Ich habe dich ja tatsächlich mal Mundharmonika spielen sehen und hören dürfen, auf einer großen Bühne. Virtuos.
SUTER: Na ja. Danke.
STUCKRAD-BARRE: Ja, man sagt das so, virtuos. Obwohl ich gar nicht unbedingt ausreichend Vergleichswerte habe, das zu beurteilen. Aber mir schien es eben virtuos. Seit wann kannst du das, und warum hast du damit begonnen, in welcher Notlage?
SUTER: Ach, ich habe damit begonnen, weil ich so gerne ein Instrument spielen würde, und ich habe einfach keines gelernt. Als ich ein kleiner Junge war, haben mich meine Eltern mal dazu überredet, Handharmonika zu spielen. Und das habe ich eigentlich gern gemacht. Aber dann sind wir von Zürich nach Fribourg gezogen, und in Fribourg fanden wir keinen Handharmonika-Lehrer.
STUCKRAD-BARRE: Handharmonika?
SUTER: Handharmonika.
STUCKRAD-BARRE: Was ist das, im Unterschied zur Mundharmonika?
SUTER: Das spielt man mit der Hand.
STUCKRAD-BARRE: Ach so. Logisch irgendwie.
SUTER: Ein Akkordeon, oder?
STUCKRAD-BARRE: Also das lästigste Straßenmusikerinstrument überhaupt.
SUTER: Findest du?
STUCKRAD-BARRE: Absolut.
SUTER: Ich habe es nie so gesehen, vielmehr immer bedauert, dass ich das nicht spielen konnte. Ich hätte natürlich virtuos Valse Musette gespielt. Da wären ganze Fußgängerzonen in einem Walzerrausch versunken, das kannst du dir ja vorstellen.
STUCKRAD-BARRE: Will ich aber gerade nicht! Jedenfalls, in Fribourg ging es nicht weiter mit der Handharmonika. Wie aber kam es dann zur Mundharmonika?
SUTER: Ja, das Leben ging so weiter, und ich kannte dann Leute, die Instrumente beherrschten, und ich war eben der, der keines beherrschte. Also kauf‌te ich mir eine Mundharmonika. Die zu spielen war einfach. Früher, als junge Leute so um die zwanzig und ohne Geld, haben wir uns manchmal bei jemandem zu Hause getroffen, billigen Rioja getrunken und Musik gemacht. Da gab’s welche, die spielten Gitarre. Und einer spielte die Handharmonika. Also habe ich eben mit der Mundharmonika begonnen.
STUCKRAD-BARRE: Hattest du ein Vorbild?
SUTER: John Lee Hooker war natürlich ein tolles Vorbild. Der hat wunderbar Mundharmonika gespielt. Ich habe versucht, das ein bisschen zu imitieren. Auf einer Reise quer durch Afrika hatte ich zwei Tapes dabei, eines war eben von John Lee Hooker, und das andere war Ziggy Stardust von David Bowie. Nur die beiden. Durch die Sahara, durch den Kongo, durch die Zentralafrikanische Republik, immer begleitete uns diese Musik.
STUCKRAD-BARRE: Ziggy Stardust ist aber nicht unbedingt ein Album, das dominiert wird von Mundharmonika.
SUTER: Das ist wahr, ja.
STUCKRAD-BARRE: Es ist ein klassisches Konzeptalbum. Hat es dich als einstigen Werber vielleicht auch deshalb besonders fasziniert, dieses Album? Also das sind ja zwei sehr unterschiedliche Alben: John Lee Hooker ist sehr ERDIG , Blues, möglicherweise greift hier wieder das Höllenwort »authentisch«. Hingegen Ziggy Stardust, das ist nun wirklich das absolute Gegenteil.
SUTER: Genau.
STUCKRAD-BARRE: Komplett artifiziell, ja die Künstlichkeit schlechthin: eine Bowie-Kunstfigur in einem hyperfiktionalen Sciencef‌iction-Szenario, also das denkbar Antiauthentischste überhaupt. John Lee Hooker dagegen, das kommt eigentlich direkt vom Baumwollfeld und ist die tiefdustere Wirklichkeit. Ziggy Stardust aber ist so über alle Maßen ausgedacht, dass es vielleicht der Wahrheit näherkommt. Was hat dir Ziggy Stardust gesagt?
SUTER: Mir hat die Musik gefallen, mir hat der Star gefallen und natürlich das Konzeptionelle. Damals war schon eine Zeit der Konzeptalben. Die Beatles haben auch Konzeptalben gemacht.
STUCKRAD-BARRE: Die ersten Konzeptalben hat Frank Sinatra gemacht.
SUTER: Aha?
STUCKRAD-BARRE: Der hat damit angefangen: In The Wee Small Hours  – ein Melancholie-Manifest.
SUTER:
Ja, Sinatra, wunderbar. Das Album Only The Lonely .
STUCKRAD-BARRE: Alle rieten ihm ab, nur so tief‌traurige Lieder, tu’s nicht, Frank! Frank aber war so traurig, wegen Ava Gardner, und wusste, dass er das machen muss. Half natürlich auch nicht, aber: super Platte.
SUTER:
Das wusste ich nicht. Konzeptalben, das waren ja ganze Geschichten. Die Beatles waren da maßgebend, oder? Sgt. Pepper’s ist vielleicht das Konzeptalbum.
STUCKRAD-BARRE: Genau. Eben nicht nur eine einigermaßen zufällige Versammlung potentieller Hits, sondern absichtsvoll auch Lieder, die sich ganz gewiss nicht als Single eigneten, aber dem Strom der Geschichte zuarbeiteten. Reprisen natürlich auch, ganz wichtig.
SUTER: Und so bin ich zur Mundharmonika gekommen.
STUCKRAD-BARRE: Über die Idee Konzeptalbum?
SUTER: Über das Konzeptionelle, ja. Das hat mich sehr interessiert. Und ich war ja damals, so mit zwanzig, eine, tja nun, Kinderehe eingegangen. Ich war verheiratet mit Vivian Wild, die jetzt Vivian Suter heißt. Die war damals schon Konzeptkünstlerin und hat viele Konzeptsachen gemacht, die ich nach wie vor sehr gut finde. Das Konzeptionelle hat mich tatsächlich immer interessiert. Aber auch das Bodenständige, wie du weißt.
STUCKRAD-BARRE: Also diese allerdings etwas verborgene John-Lee-Hooker-Facette deiner Persönlichkeit?
SUTER: John Lee Hooker und die Handharmonika.
STUCKRAD-BARRE: Und schließlich: Rioja und Mundharmonika. Hast du Unterricht genommen oder dir das selbst beigebracht?
SUTER: Nein, nein, selbst beigebracht. Das ist etwas, das man sich selbst beibringen kann.
STUCKRAD-BARRE: Und was war dein erster Hit auf der Mundharmonika? Man wollte doch damals, soweit ich weiß, meistens bloß den Mundharmonika-Klassiker Stairway to Heaven spielen können. Um Mädchen zu beeindrucken in sogenannten Partykellern. Deshalb fing man auch an, Gitarre zu spielen. Oder für Smoke on the Water . Generationen von Gitarrenlehrern hat diese Partykellerphantasie ernährt. Was aber ist das Referenzstück für Mundharmonika?
SUTER: Ich habe eigentlich … Ach, schade, dass ich die Mundharmonika jetzt nicht finde.
STUCKRAD-BARRE: Da ist nur das leere Etui, ja. Wirklich schade.
SUTER: Da hätten dir die Ohren gewackelt, bei dem, was ich dir jetzt vorgespielt hätte.
STUCKRAD-BARRE: Was hättest du denn gespielt?
SUTER: Ich kann es nicht gut singen.
STUCKRAD-BARRE: Nein?
SUTER: Ich weiß halt nicht, wie es heißt. (singt) Dadada, didi, dadadada, didi, dadadadada, dadadadi, dado, badabumdedummdedumm. Etwa so hätte das geklungen.
STUCKRAD-BARRE: Ah ja.
SUTER: Ein richtiges Blues Opening.
STUCKRAD-BARRE: Aber das Mundharmonikaspielen scheint dann doch keines deiner täglichen Rituale zu sein – weil du sie ja jetzt zum Beispiel gar nicht dabeihast. Bloß die leere Hülle.
SUTER: Ja, das ist seltsam.
STUCKRAD-BARRE: Sie ist ja eigentlich fürs Reisen gemacht. Aber du hast sie nicht dabei. Das heißt, du kommst auch ohne aus?
SUTER: Ich komme auch ohne aus. Ich kann auch nicht davon leben.
STUCKRAD-BARRE: Das wäre mal ein toller Versuch. Meine Empfehlung wäre dann nur: runter mit den Fixkosten.
SUTER: Und rein in die Fußgängerzone. Du meinst, an der Zürcher Bahnhofstraße, das wäre einen Versuch wert?
STUCKRAD-BARRE: Muss man in der Schweiz auch vorspielen vor so einem Komitee? In München zum Beispiel muss man beim Amt vorspielen als Straßenmusiker und so eine Lizenz erwerben – man muss also erst mal zeigen, was man draufhat.
SUTER: Daran wäre ich wahrscheinlich schon gescheitert, bei einem solchen Vorspieltest.
STUCKRAD-BARRE: Und spielst du manchmal zu Hause vor dich hin?
SUTER: Ja, manchmal schon. Aber jetzt eben auch mit Stephan Eicher zusammen, also ich begleite ihn auf der Mundharmonika – und da muss man schon ein bisschen üben. Ich hatte zuvor viele Jahre nicht mehr gespielt. Und dann hat Stephan mal auf einer Tour gesagt, bei der er gesungen hat und ich vorgelesen habe: »Einfach nur so dasitzen kannst du nicht, du musst schon auch ein bisschen was Musikalisches bieten.« Und da sagte ich: »Ja, gut, dann greife ich wieder zur guten alten Blues Harp.«
STUCKRAD-BARRE: Die macht ja ein Geräusch sowohl, wenn man Luft durchpresst, als auch, wenn man Luft da durchsaugt.
SUTER: Ja, ja, du musst saugen und blasen. Und das im richtigen Rhythmus, an der richtigen Stelle. Und dann machst du mit der Hand auch noch ein bisschen Wahwahwahwah.
STUCKRAD-BARRE: So so.
SUTER: Und wenn dann daneben der Stephan Eicher steht und schreit: »Ladies and Gentlemen! Martin Suter!«, dann haben alle das Gefühl, ich spiele gut.
STUCKRAD-BARRE: Und wie reinigt man diese Instrumente?
SUTER: Die werden nicht gereinigt. Man versucht sie nicht allzu eifrig auszutauschen mit anderen Musikern. Aber auch das kommt vor. Man darf sie nicht reinigen, weil sie dann rosten. Vielleicht gibt es aber auch eine Mundharmonikareinigungsmethode, von der ich noch nichts gehört habe. Vielleicht verwendet man einfach Wattestäbchen. Aber ich weiß nicht, ob das hygienisch viel bringt. Also ich jedenfalls reinige sie nicht.
STUCKRAD-BARRE: Bedeuten dir Bob Dylan und Neil Young etwas?
SUTER: Ja, natürlich. Das sind ja Mundharmonikakollegen von mir.
STUCKRAD-BARRE: Klar, mindestens. Trifft man sich da einmal im Jahr?
SUTER: Ja, das ist ja wie bei Schriftstellern, oder? Man trifft sich einmal im Jahr.
STUCKRAD-BARRE: Ein extra PEN -Club für Mundharmonikaspieler. Ja, das wäre eigentlich toll. Denn nicht viele im PEN -Club spielen ja Mundharmonika.
SUTER: Doch, doch, was soll man denn sonst machen? Über Literatur, übers Schreiben sprechen? Wie schreibst du? Schreibst du eher am Morgen? Kannst du noch schreiben, wenn du ein Bier getrunken hast?
STUCKRAD-BARRE: Das wären sehr interessante Fragen. Ich glaube, beim PEN -Club ist es eher: Man macht sich Sorgen über …
SUTER: Interpunktion?
STUCKRAD-BARRE: … Europa, Gerechtigkeit, Einmischung, auch über das Nichts natürlich – und regional vielleicht noch über Rechtschreibreformen.
SUTER: Aha.
STUCKRAD-BARRE: Ich weiß es natürlich nicht. Du bist da doch bitte auch nicht drin, oder? Wie kommt man eigentlich in den PEN -Club?
SUTER: Ich wurde noch nie angefragt. Das ist ähnlich wie beim Nobelpreis: Stille.
STUCKRAD-BARRE: Kein Mucks aus Stockholm.
SUTER: Genau.
STUCKRAD-BARRE: Aber die beiden von dir aufgeworfenen Fragen finde ich sehr interessant. Also am Morgen schreiben, das setze ich jetzt einfach mal voraus.
SUTER: Ja.
STUCKRAD-BARRE: Gut, das ist bei mir auch so. Und das mit dem Bier? Ab wann, ab dem wievielten Bier wird es sinnlos?
SUTER: Eben das ist das Problem beim Bier. Ich hatte schon Phasen, da war ich überzeugt, es braucht ein bisschen Bier. Aber du weißt ja, wie das ist mit dem Bier: Ein Bier, das reicht nicht.
STUCKRAD-BARRE: Ein Bier ist absoluter Quatsch.
SUTER: Es braucht zwei, oder?
STUCKRAD-BARRE: Vier, mindestens. Zehn – oder eben gar keins. Alles andere ist Unfug.
SUTER: Das zweite, das führt ja zwangsläufig zum dritten. Und das dritte ist vielleicht schon das eine zu viel. Das heißt, man könnte immer noch gut schreiben, aber es ist dann nicht mehr so wichtig, was zu schreiben, oder?
STUCKRAD-BARRE: Wenn man schlau ist, bemerkt man das, ja. Denn so allerlei setzt ja auch aus, wenn die Wirkung einsetzt. Das Urteilsvermögen erlischt. Man kriegt die Sätze nicht fertig. Man muss ja doch beim Schreiben, sosehr das auch nach Podiumsdiskussionsleier klingen mag, in steter Opposition zu jedem Wort sich befinden, das man hinschreibt. Und das geht dann nicht mehr, wenn man so bierdumm runtergedimmt ist.
SUTER: Ja, in dem Zustand finde ich manchmal alles super.
STUCKRAD-BARRE: Da fällt einfach die interne Kritikinstanz aus. Und die wird dringend benötigt, was man am nächsten Tag bei der Durchsicht der nächtlichen Genietäuschung dann schmerzlich bemerkt.
SUTER: Die braucht es, ja. Und ich möchte ja auch am nächsten Tag nicht noch mal alles neu schreiben, was ich am Vortag – oder in der Vornacht – geschrieben habe.
STUCKRAD-BARRE: Ja, und auch nicht das Suffgefasel korrekturlesen. Das ist ja allzu demütigend. Deshalb: besser erst mal den Computer aus – und dann meinetwegen saufen.
SUTER: Aber ich lese auch das nüchtern Geschriebene nicht tags darauf noch mal. Ich lese alles erst durch, wenn es ganz fertig ist.
STUCKRAD-BARRE: Ach, wirklich?
SUTER: Ja. Es ist riskant, das gebe ich zu, aber es hat auch was Schönes. Du erinnerst dich ja an das meiste nicht mehr, was du geschrieben hast. Manchmal bin ich positiv überrascht. Dann denke ich: Super! Das hast du geschrieben? Aber leider passiert auch das Gegenteil. Etwa so f‌if‌ty-f‌if‌ty. Geht es dir auch ähnlich?
STUCKRAD-BARRE: Ein bisschen. Am besten ist es: am Vormittag schreiben und das am Nachmittag dann durchgehen, sortieren, straffen und ausbessern. Und ganz viel streichen natürlich. Immer schade, aber immer richtig.
SUTER: Nein, das kann ich nicht. Aber ich überarbeite ständig beim Schreiben. Nie bleibt ein Wort stehen. Oder fast nie.
STUCKRAD-BARRE: Man darf nicht schon mit Hausaufgaben, mit so einem Darlehen in den Tag gehen. Man muss morgens frisch was bisher Ungeschriebenes angehen.
SUTER: Ja, das finde ich auch.
STUCKRAD-BARRE: Dann sind wir uns ja einig und können nun das Mundharmonika-Konzeptalbum Ziggy Stardust anhören und uns dabei besaufen. Also du. Ich gucke zu. Du säufst, ich suche deine Mundharmonika, okay?