München, 15 . April 1929
Erna trocknete sich ihre Hände an einem rot-weiß karierten Geschirrtuch ab und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte.
»Das war das letzte Eis für heute, oder?«, fragte sie ihre Küchenmamsell Fanny, die gerade die Sorte Schokolade in den Eisschrank in der Speisekammer verfrachtete.
»Ja, damit haben wir alle Sorten beinand«, antwortete die mollige Mitfünfzigerin, die ihr bereits vollständig ergrautes Haar stets zu einem Dutt gebunden trug. »Jetzt kann der Spaß bald losgehen.«
Dem »Spaß«, der für den heutigen Tag geplante Eröffnung ihres ersten eigenen Eissalons, hatten sie wochenlang entgegengefiebert. Erna konnte noch gar nicht so recht glauben, dass sie und ihr Josef ihren bereits seit vielen Jahren gehegten Traum vom eigenen Geschäft nun endlich wahrmachen konnten.
»Ja, das kann er allerdings«, antwortete Erna. »Hoffentlich geht auch alles gut. Ich bin schon so aufgeregt, die halbe Nacht hab ich kein Auge zugetan!«
»Ach, das wird schon werden«, antwortete Fanny. »Das Wetter spielt auch mit. Als hätt’ der Petrus gewusst, dass er heute brav sein muss, der alte Schlawiner.« Sie deutete aus dem Fenster: Draußen schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel.
Erna schmunzelte – sie kannte sonst niemanden, der so über den heiligen Petrus sprechen würde. Was war sie froh darüber, dass Fanny den Weg zu ihnen gefunden hatte! Die durchsetzungsstarke ältere Dame hatte jahrelang im Café Ludwig am Sendlinger Tor gearbeitet und Hunderte Eis-Portionen hergestellt. Über vierzig Jahre hatte sie für die Inhaber, die Familie Stiegelmeyer, gearbeitet, und über Nacht war deren Existenz dahin gewesen – ein Brand hatte das Café zerstört. Das stark beschädigte Gebäude war inzwischen sogar abgerissen worden. Nach dem Feuer hatte Fanny eine Weile gebraucht, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie einen anderen Wirkungsort haben würde. »So eine Gewohnheit, die gibt man ja nicht so leicht auf«, hatte sie bei ihrem Vorstellungsgespräch zu Erna gesagt, während ihr Tränen in den Augen glitzerten. »Ich mein, die Küche da, die war ja mein Daheim.« Da hatte Erna gewusst, dass sie in ganz München keine treuere Seele finden würde.
Nun befanden die beiden sich in ihrer kleinen Eiswerkstatt, wie sie die sich hinter der Gaststube befindliche Küche liebevoll bezeichneten. Die Mitte des Raumes füllte ein großer Holztisch aus, auf dem allerlei Eismachzubehör, Schüsseln, Schneebesen und Messbecher wild durcheinanderlagen. Regale voller Geschirr säumten die Wände, und auf dem Ofen standen Unmengen an Töpfen und Tiegeln. Nach Fannys Meinung musste es in einer anständigen Küche immer ein bisschen unordentlich sein: »So ein Durcheinander ghört schon dazu«, hatte sie erst neulich gesagt. »Sonst sieht ja keiner, dass hier gearbeitet wird.« Was sie jedoch gar nicht leiden konnte, war Unsauberkeit. Sobald die Arbeit beendet war, musste die Arbeitsplatte gereinigt, Geschirr gespült und der Fußboden geschrubbt werden. »Gibt ja nix Schlimmeres, als mit de Füß pappen zu bleiben.«
Frieda, Ernas Erstgeborene, trat ein.
»Hier steckst du, Mama!«, sagte die Achtzehnjährige und musterte ihre Mutter mit hochgezogener Augenbraue von oben bis unten. »Du bist ja noch gar nicht fertig angezogen! Wir öffnen den Laden doch schon in einer Stunde. Stell dir vor: Der Korbinian will kommen und einen Artikel über unseren Eissalon für den Schwabinger Anzeiger schreiben. Ist das nicht großartig? Er will sogar einen Fotografen mitbringen! Ich wollte die tollen Neuigkeiten Papa erzählen, aber auch der ist irgendwie verschwunden. Dieses Haus ist heute schlimmer als jeder Heuhaufen.« Sie rang die Hände.
Erna lächelte. Solch vernünftige Worte erinnerten sie daran, dass ihre Tochter dem Kindesalter entwachsen war. Frieda hatte das kastanienbraune Haar, das energische Kinn und die rehbraunen Augen ihres Vaters geerbt, jedoch Ernas lange Wimpern, und auf ihre Nase hatten sich einige Sommersprossen gestohlen, die Erna liebte, Frieda selbst aber eher verabscheute.
»Ich kann mir denken, wo dein Papa abgeblieben ist«, antwortete Erna und sah kurz zu Fanny, die sogleich verstand.
»Geht ruhig«, sagte Fanny und wedelte mit den Armen. »Wir waren ja eh fertig. Aufräumen kann ich auch allein, und dann schau ich gleich, ob im Gastraum alles passt. A frische Schürzn muss ich auch noch anziehen. So gschlampert kann ich ja nicht unter die Leut gehen. Ach, so eine Neueröffnung erleb’ ich auch nicht alle Tag!« Sie wandte sich den Töpfen und Schüsseln in der Spüle zu.
Erna verließ mit Frieda den Raum. Im Hausflur des in der Kaufingerstraße gelegenen Anwesens trafen sie auf die Witwe Moosgruber, die sich gerade damit beschäftigte, die Treppe zu wischen. Erna hatte die Nachbarin aus dem dritten Stock vom ersten Augenblick an nicht leiden können. Ihre Blicke hatten etwas Herablassendes an sich, und ihr Tonfall klang ständig überheblich. Außerdem schien sie wie ein Wachhund zu sein. Nichts entging ihr, sie mäkelte an allem herum und bezog sich dabei immer wieder auf die Hausregeln, die offiziell jedoch nirgendwo einsehbar waren. Fanny, die der »alten Moosgruberin«, wie sie sie abfällig nannte, auch nicht besonders zugetan war, hatte neulich gemeint, dass sie diese Regeln bestimmt selbst erfunden hatte.
»Ach, da sind Sie ja, Frau Pankofer. Sie haben wieder mal das Fenster auf ihrem Treppenabsatz offen stehen lassen. In den Hausregeln steht klar geschrieben, dass die Fenster über Nacht geschlossen sein müssen. Könnt ja einer einbrechen!«
Am liebsten hätte Erna ihr eine patzige Antwort gegeben, doch sie wollte keinen Streit mit dieser Person haben. Wer wusste schon, was sie sonst noch alles aushecken würde … Immerhin hatten sie störungsfrei einen Betrieb zu führen.
»Das muss mein Sepp gewesen sein«, antwortete sie und bemühte sich um ein Lächeln. »Er hat gern frische Luft. Wir werden in Zukunft darauf achten, die Fenster rechtzeitig zu schließen. Aber jetzt müssen Sie uns entschuldigen, Sie wissen doch, dass heute der Eissalon eröffnet wird, und es gibt noch einiges zu tun. Vielleicht möchten Sie nachher zur Einweihung kommen? Sie sind herzlich eingeladen. Jeder Gast erhält eine Kugel Eis gratis.«
Ohne eine Antwort der Moosgruberin abzuwarten, gingen die beiden weiter. Frieda zog es in ihre im zweiten Stock gelegene Wohnung, denn sie wollte nach Lotte, ihrer kleinen Schwester, sehen, die heute mal wieder bummelte. Erna hingegen betrat durch eine Tür den Hinterhof des Anwesens. Dieser war relativ groß, und es gab eine Reihe Hinterhäuser mit vier Stockwerken. Dahinter erhob sich die Frauenkirche. Erna liebte den Anblick der Kirchtürme. Die Tatsache, dass die Kirche so nah an der Häuserfront stand, empfand sie als gutes Omen: Ein solch besonderes Gotteshaus wie die Frauenkirche in der Nähe zu haben, konnte nur Glück bringen. Ihr Blick blieb an der Fensterfront mit den Butzenscheiben hängen, die zu dem im Erdgeschoss des Hinterhauses liegenden Ladengeschäft gehörte. Bis vor Kurzem hatte Gustl Brunner hier noch seine Schreinerei geführt, doch vor einer Weile hatte er sie aus Altersgründen schließen müssen. In der Nachbarschaft wurde gemunkelt, dass in den Laden bald ein Schuster einziehen würde – das hatte die Anni Lindinger aus dem zweiten Stock des Hinterhauses aufgeschnappt, als der Besitzer, irgendeiner von den Wichtigen aus dem Rathaus, da gewesen war. Aber die Anni Lindinger, ein begeistertes Tratschweib, hörte immer irgendwo irgendetwas, und meist entsprach ihr Gerede nicht der Wahrheit.
Rechter Hand der Schreinerei gab es einen Lagerraum, der zum Ladengeschäft der Pankofers gehörte. Die blau gestrichene Holztür war nur angelehnt. Erna schob sie auf und stellte fest, dass sie mit ihrer Vermutung, wo sie ihren Mann finden würde, richtig gelegen hatte.
Josef Pankofer, der, wie im Bayerischen üblich, mit dem Spitznamen Sepp angesprochen wurde, stand vor einem alten Eiswagen mit der Aufschrift Gefrorenes darauf, den sie hier untergestellt hatten, und sah diesen wehmütig an.
»Habe ich mir doch gedacht, dass du hier bist«, sagte Erna. Sie trat neben ihren Gatten und wischte ihm einen Fussel von seinem dunkelblauen Jackett. Für den großen Tag hatte er sich bereits zurechtgemacht: Zu dem Jackett trug er ein frisches Hemd und Krawatte sowie helle Hosen, und seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Sein lichter werdendes, leicht welliges kastanienbraunes Haar hatte er mit Pomade geglättet, aber es war nicht zu leugnen, dass der Zahn der Zeit an ihnen nagte. Auch in Ernas Gesicht zeigten sich bereits die ersten Linien um die Augen und die Mundwinkel, doch in ihrem mittelblonden Haar, das sie der Mode entsprechend halblang und in Wellen gelegt trug, fanden sich noch keine grauen Strähnen. Sie erkannte die Wehmut im Blick ihres Mannes. Auch sie stimmte der Anblick des Eiswagens traurig. Noch im letzten Jahr waren Josef und sein Freund und Geschäftspartner Mario während der Sommermonate mit diesem Gefährt durch die Straßen Münchens gezogen. Kurz nach Weihnachten war der stets fröhliche Italiener allerdings an einer Lungenentzündung gestorben.
»Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich Mario zum ersten Mal gesehen habe«, sagte Josef, ohne den Blick von dem Eiswagen abzuwenden. »Er hat verletzt in dieser alten Scheune gelegen, irgendwo im Nirgendwo. Ich hab nicht anders gekonnt, ich musste ihm helfen. Das waren die längsten zwei Tage meines Lebens. Ich dachte, wir würden niemals in dem Lazarett ankommen. Er hat so viel geredet. Davon, dass er Eisverkäufer ist, dass er Deutschland vermisst. Weißt du noch: Er hat gesagt, er habe ein Mädchen in München, deshalb wollte er immer hierher. Sein Mariechen, das er niemals wiedergesehen hat. Ich hab geglaubt, ich sehe nicht richtig, als ich ihn dann später am Marienplatz mit seinem Eiswagen hab stehen sehen. Mario war das einzig Gute, das der Krieg gebracht hat.« Er stieß einen Seufzer aus. »Und jetzt kann er diesen Tag nicht miterleben, der große Maestro del Gelato. Ohne ihn würde ich immer noch tagtäglich für einen Hungerlohn in der Großmarkthalle schuften. Ich wünschte, er wäre jetzt hier. Sein Eis hätte um Welten besser geschmeckt als das unsrige.« Josef hob die Hand und strich über den Griff des Eiswagens. Staub wirbelte auf und sank funkelnd im Licht der vereinzelt durch ein Dachfenster fallenden Sonnenstrahlen zu Boden.
»Vermutlich«, antwortete Erna. »Aber wir sind nah dran, unser Eis ist köstlich geworden. Ich bin mir sicher, er sitzt dort oben neben seinem geliebten Papa auf einer Wolke und wünscht uns eine Menge Fortuna , wie er so schön sagte.«
»Eine schöne Vorstellung«, antwortete Josef und legte den Arm um Erna. Einen Moment schwiegen beide, nahmen Abschied von der Vergangenheit und starteten in eine neue, noch unsicher erscheinende Zukunft. Mit Mario an ihrer Seite wäre es leichter gewesen, das wussten sie beide. Nicht nur dank seines Fachwissens die Eisherstellung betreffend, sondern auch dank seiner Fröhlichkeit, die ihm all die Düsternis seines Lebens, Krieg und Armut, niemals hatten nehmen können.
»Weißt du, was ich mir wünsche?«, sagte Josef. »Dass meine Eltern heute kommen würden und stolz auf das wären, was wir miteinander aufgebaut haben.«
Ernas Miene trübte sich, und das bittere Gefühl von Schuld breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie war der Grund dafür, dass er mit seinem Vater gebrochen hatte. Die Wäscherin, in die Josef sich unsterblich verliebt hatte, die ungewollt schwanger geworden war. Das Mädchen aus dem Waisenhaus, das den Pankofers nicht gut genug für ihren Sohn gewesen war. Das Verhältnis zwischen Josef und seinem Vater war schon immer schwierig gewesen – auch ohne ihre Heirat hätte es vermutlich ähnlich geendet. Doch der Gedanke, Vater und Sohn entzweit zu haben, blieb in Erna. »Wir wissen beide, dass das nicht geschehen wird«, antwortete sie. »Selbst deine Mutter hat sich seit Wochen nicht mehr gemeldet.«
»Ich weiß«, entgegnete Josef, in seinem Blick lag Traurigkeit.
Sein Vater, Alois Pankofer, hatte aus einer kleinen Wäscherei über die Jahre eine der wichtigsten Großwäschereien Münchens erschaffen. Er und seine Frau Anneliese hatten zwei Söhne großgezogen, davon lebte heute nur noch Josef – und der war eine Enttäuschung für sie, denn er hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich in eine einfache Wäscherin aus der Fabrik zu verlieben und sie zu schwängern. Und anstatt dafür zu sorgen, dass sie das Kind weggab, redete er von Liebe und heiratete diese liederliche Person auch noch. Alois Pankofer hatte es nie laut ausgesprochen, aber Josef wusste, dass er sich wünschte, sein Bruder Fritz, der Liebling seines Vaters, wäre anstatt seiner aus dem Krieg heimgekehrt.
Seine Mutter war milder gestimmt gewesen. Sie war sogar zur Hochzeit mit Erna gekommen und hatte sie kurz nach Friedas Geburt in ihrer einfachen Unterkunft besucht. Außerdem hatte sie ihnen immer wieder Geld zugesteckt, obwohl sie den Umgang mit Mario, diesem »dahergelaufenen Italiener«, wie sie ihn oft herablassend bezeichnet hatte, stets missbilligte. Durch ihre finanzielle Unterstützung war es ihnen gelungen, den Traum vom eigenen Eissalon zu verwirklichen. Jeden Pfennig hatten sie in den letzten Jahren dafür gespart. Er war noch immer nicht perfekt, Josef hätte gerne eine der modernen, elektrischen Eismaschinen und Erna ein größeres Ladengeschäft gehabt. Aber vielleicht würden auch diese Träume irgendwann in Erfüllung gehen. Die Zeit würde es zeigen.
Die Schuppentür knarrte, und beide blickten auf. Es war Frieda, die den Kopf durch die Tür streckte.
»Ihr müsst schnell kommen!«, sagte sie aufgeregt. »Lotte ist da ein Malheur passiert. Sie hat sich leider im Treppenhaus übergeben, und die Moosgruberin ist mächtig sauer.«
»Du liebe Zeit!«, rief Erna. Sie und Josef folgten Frieda sogleich zurück ins Haus, um die Gemüter zu beruhigen.
»Ist dir jetzt noch schlecht?«, fragte Fanny eine Weile darauf und sah Lotte forschend ins Gesicht. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Die beiden saßen auf einer Bank vor dem Eissalon im hellen Sonnenlicht.
»Ich glaub nicht mehr.«
»Dann ist ja gut. Des is bestimmt die Aufregung. Manche Leut dreht es da schon mal den Magen um.«
»Jetzt hasst mich die Moosgruberin noch viel mehr«, sagte Lotte.
»Da würd ich nix drauf geben«, antwortete Fanny. »Die mag sich selber nicht.«
Josef, der sich noch ein extra für den Eröffnungstag erworbenes frisches Hemd angezogen hatte, trat nach draußen und erkundigte sich mit besorgter Miene nach dem Gesundheitszustand seiner Tochter. Nachdem ihm versichert wurde, dass es ihr besser ginge, atmete er erleichtert auf. Er ließ seinen Blick über den leeren Gehweg schweifen und seufzte.
»Hach, wie gern hätte ich Stühle und Tische für die Gäste aufgestellt. Diese elenden Behörden mit ihren Vorschriften sind manchmal schon ein Graus.«
»Des is der Flickinger«, sagte Fanny. »Der war schon immer einer von de ganz depperten Amtsschimmeln. Über den hat schon mein alter Chef ständig geschimpft. Des is ein rechter Gschaftler, so ein Wichtigtuer, hat er immer gsagt.«
»Trotzdem werde ich es noch einmal versuchen – und beim nächsten Mal lasse ich mich nicht so schnell abwimmeln. Andere Cafés und Gasthäuser dürfen auch draußen Stühle haben.« Er ging, etwas Unverständliches murmelnd, zurück in den Salon.
Rosi Taler trat näher. Sie betrieb in dem winzigen Ladengeschäft auf der anderen Seite des Hoftors einen kleinen Blumenladen und war eine Seele von Mensch. Rosi war über sechzig, hager und ging etwas schief. »Des depperte Kreuz war schon immer krumm«, hatte sie Erna kurz nach ihrem Einzug erklärt. »Deshalb hat mich auch keiner von den Burschen haben wollen. Meine Mutter hat immer gsagt, dass sie auf mir Krüppel sitzen bleiben wird. Wer mag schon a schiefes Dirndl. Aber ist wohl besser so gwesn. Ich hab so viele Weiber heulen sehen, weil die Männer ned heimkommen sind. Weil sie Krieg ham spielen müssen, die Deppen. Bracht hats uns allen nix.«
»Ich hab ghört, du hast gspuckt, Lotte«, sagte sie und musterte Lotte mit besorgter Miene. »Gehts denn jetzad wieder? Bist noch a bisserl kasig um die Nase.«
Lotte nickte und bemühte sich um ein Lächeln. Sie war fünfzehn und Erna wie aus dem Gesicht geschnitten: das gleiche blonde Haar, die gleichen blauen Augen und der gleiche Sturschädel. Im letzten Jahr war sie aus der Schule gekommen. Acht Jahre mit der besserwisserischen Lehrerschaft waren ihrer Meinung nach genug. Rechnen konnte sie ganz gut, Lesen auch. Bis vor Kurzem hatte sie als Aushilfe im Kaufhaus der Hirschvogels gearbeitet, doch so recht hatte ihr das nicht gefallen. Nun würde sie im elterlichen Betrieb mithelfen.
»Habt ihr denn schon Blumen für die Tische?«, fragte Rosi und schaute durch die Fenster ins Innere des Salons. »Also ich seh nix. Des ist aber fei schon traurig.«
Fanny wollte antworten, kam jedoch nicht dazu, denn Erna trat aus dem Laden. Sie hatte sich rasch umgezogen und trug nun eine weiße Bluse und einen schmal geschnittenen, bis zur Hälfte der Wade reichenden dunkelblauen Rock. Auch etwas Schminke hatte sie aufgelegt. Mit dem roten Lippenstift hatte sie es nach Fannys Meinung etwas übertrieben. Aber was die Schmierereien im Gesicht anging, war sie keine Fachfrau. Natürlichkeit war ihr immer noch am liebsten.
»Was für eine Aufregung«, sagte Erna. »Die Moosgruberin hat sich wieder so weit beruhigt, Frieda hat die Treppe gewischt. Wie sieht es mit der Übelkeit aus?« Sie sah ihre Tochter an.
»Besser«, antwortete Lotte.
»Hach, das ist gut«, erwiderte Erna erleichtert und tätschelte Lotte die Schulter. »Hoffentlich bleibt es so. Sollte es wieder schlimmer werden, legst du dich bitte oben in die Kammer. Ein Malheur am Tag reicht vollkommen. Nicht, dass du uns noch die neuen Gäste vergraulst.«
»Ihr habt noch gar keine Blumen auf den Tischen stehn«, merkte Rosi erneut an und deutete in den Laden. »Des schaut nicht sehr einladend aus, wenn ich des sagen darf.«
»Ach herrje, die Blumen! Die hab ich in der ganzen Aufregung ganz vergessen«, antwortete Erna und schlug sich vor die Stirn. »Und derweil hab ich extra kleine Glasvasen dafür angeschafft. Aber zum Glück hab ich ja die Fachfrau gleich nebenan. Was würdest du mir denn empfehlen, Rosi?«
Rosis Augen begannen zu strahlen. Dass sie als Fachfrau bezeichnet wurde, gefiel ihr.
»Also ich würd Tausendschön mit den kleinen Narzissen nehmen. Die hab ich heute früh ganz frisch beim Großmarkt abgeholt. Das Rot und Gelb passt gut zam und bringt Farbe in den Laden.«
»Das klingt perfekt«, antwortete Erna. »Kannst du mir rasch fünf Sträußchen für die Tische zusammenstellen? Ich bring dir eine der Vasen, dann weißt du die Größe.«
»Gern!«, antwortete Rosi und ging zurück zu ihrem Laden.
Keine zehn Minuten später standen die Blumen im Salon auf den wenigen Tischen, die in den kleinen Gastraum passten. An dem am Fenster stehenden konnten kuschlig zusammengerückt sechs Personen sitzen, ansonsten gab es Zweiertische. Der Salon könnte größer sein – aber ein Eis nahm man sich im Sommer ja eher auf die Hand. So hatte es Mario damals gesagt, als sie den Laden zum ersten Mal besichtigt hatten. Erna konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie auf die vergilbten Wände gesehen hatten, an denen die Abdrücke der Schränke zu sehen gewesen waren, die hier zuvor gestanden hatten. Sie hatten damals lange über den perfekten Namen für ihr Geschäft diskutiert. Mario wollte nicht so recht von dem Begriff »Gefrorenes« abrücken. Schließlich kannten diesen die Menschen, denn er stand seit Jahrzehnten auf den Eiswagen der über die Alpen ziehenden Italiener. Doch in Ernas Ohren hatte dieses Wort nie gut geklungen. Der Begriff »Eiscreme« war eingängiger und inzwischen nicht weniger bekannt. So waren sie irgendwann übereingekommen, ihren Laden »Eissalon« zu nennen, obwohl der kleine Raum eher etwas von einer Diele hatte. Früher hatte es hier ein Papeterie-Geschäft gegeben. Es hatte viel umgebaut werden müssen: Die Wände hatten einen freundlichen, hellgelben Anstrich erhalten, Bilder mit mediterranen Ansichten sollten die Sehnsucht nach sommerlicher Leichtigkeit erwecken. Es gab eine Vitrine für das Speiseeis, dahinter weiß gestrichene Regale an der Wand, auf denen sich Glasschalen und weiteres Geschirr befanden. Auch Kaffee wollten sie ausschenken. An heißen Tagen sollte es zusätzlich hausgemachte Limonade geben. Im Winter hatte Josef früher in der Großmarkthalle gearbeitet, denn mit dem Eiswagen rumziehen ging ja nicht. Gemocht hatte er diese Tätigkeit nie sonderlich. Aber nun hatten sie ja das Geschäft, und der Gedanke, es spätestens im Oktober schließen zu müssen, behagte Erna so gar nicht. Sie planten, heiße Getränke wie Kakao anzubieten, Kuchen oder etwas Gebäck zum Mitnehmen zu verkaufen. Irgendeine Lösung würde sich finden.
Josef stand nun mit stolzgeschwellter Brust gemeinsam mit Erna hinter der Theke. Vor Aufregung schob sie die Pappbecher für das Eis ein kleines Stück nach links, dann wieder nach rechts. Es schien, als müssten ihre Hände etwas zu tun haben. Die Ladentür war geöffnet, und Frieda hatte rasch die Angebotstafel auf den Gehweg gestellt, auf die sie in ihrer hübschen Handschrift geschrieben hatte:
»Heute Neueröffnung: Eine Kugel Eis bezahlen, eine geschenkt bekommen!« Mit Speck fing man schließlich Mäuse.
Und da kam sie, die erste Kundschaft! Eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter an der Hand. Die Eissorten, die sie verkauften, waren Klassiker: Erdbeere, Schokolade und Vanille. Ernas Hände zitterten vor Aufregung, als sie die Bällchen in den Pappbecher beförderte und diesen über die Theke reichte. Die Dame wünschte ihnen viel Erfolg, und die beiden verließen das Geschäft.
»So kann es weitergehen«, sagte Josef freudig, legte den Arm um Erna und drückte ihr übermütig einen Kuss auf die Wange. »Du wirst schon sehen!«, sagte er. »Bald sind wir als bester Eissalon von ganz München bekannt.«
Erna lächelte versonnen. Der Anfang war geschafft, ab jetzt konnte es nur noch aufwärts gehen. Die nächste Kundschaft betrat in der Form von zwei jungen Frauen den Salon, und die Damen setzten sich doch tatsächlich an einen der Tische. Freudig eilte Erna mit Stift und Papierblock in Händen sogleich zu ihnen und nahm voller Stolz die Bestellung auf.