14. Kapitel

12 . August 1929

Helles Sonnenlicht fiel durch die bodentiefen Fenster in die Schwimmhalle des Sanatoriums. Diese wies nur wenig Ähnlichkeit mit einer normalen Schwimmhalle auf, wie Lotte sie aus München kannte: Überall standen Palmen und Oleanderpflanzen, und es gab gepolsterte Liegen, auf denen sich die Patienten von ihren Anwendungen erholen konnten. Die beiden zum Garten führenden Flügeltüren waren weit geöffnet, denn sonst wäre es an diesem heißen Sommernachmittag in der Halle arg stickig geworden. Lotte hatte es bis zum Rand des Schwimmbeckens geschafft und erhielt für ihre Leistung sogleich Beifall von der jungen Ärztin namens Sibylle Kiesling, die sich um die Krankengymnastik der Patienten kümmerte. Sibylle Kiesling war Anfang dreißig, wie Lotte wusste, doch sie sah wesentlich jünger aus, denn sie war klein, und ihre Figur war eher zierlich. Ihr kastanienbraunes Haar trug sie der Mode entsprechend halb lang und in sanfte Wellen gelegt.

»Das hast du ausgezeichnet gemacht, meine Liebe«, lobte sie Lotte, und ihr Blick fiel auf ein Klemmbrett in ihren Händen. »Das waren zwei Bahnen mehr als bei unserem letzten Training. Wie fühlt sich das Bein an? Geht noch eine Bahn?« Sie sah Lotte ermutigend an, doch Lotte schüttelte den Kopf. Die letzten Meter im Becken hatte sie bereits arg kämpfen müssen, denn das dumme Bein, wie Lotte es meist bezeichnete, hatte erneut zu schmerzen begonnen. Mit der Hilfe von Sibylle kletterte sie aus dem Becken und sank erschöpft auf eine der Liegen. Die Ärztin legte ein Handtuch über ihre Schultern. Lotte fühlte, wie in diesem Moment erneut das Gefühl von Hilflosigkeit in ihr aufstieg, und sie blinzelte die Tränen fort, die sich in ihre Augen stahlen. Sie hatte so sehr darauf gehofft, dass der Heilungsprozess schneller vorangehen würde, doch er zog sich, trotz der täglichen Anwendungen, hin. Ohne Gehhilfe fiel ihr das Laufen noch immer schwer, die Nachmittage verbrachte sie meist auf einer der Liegen im Garten, manchmal saß sie auch neben der Pferdeweide in einem Rollstuhl und beobachtete die Tiere wehmütig. Die Pferde konnten ausgelassen über die Wiese laufen, ihr selbst würde ein solches Tun vermutlich für den Rest ihres Lebens verwehrt bleiben.

»Es wird niemals wieder wie früher werden«, sagte Lotte missmutig und ließ die Schultern hängen.

Da ging Sibylle vor ihr in die Hocke und legte ihre Hände um die von Lotte.

»So solltest du nicht reden«, sagte sie in dem sanften Tonfall, den Lotte bereits allzu gut kannte und von Beginn an gerngehabt hatte. In ihrem Leben war ihr noch nie ein so positiv denkender Mensch wie Sibylle begegnet. Bei ihr war das Glas stets halb voll – diese Eigenschaft benötigte man in ihrem Beruf aber auch. »Du hast seit deiner Ankunft bei uns bereits große Fortschritte gemacht. Du bist jung, gewiss wird es bald gar nicht mehr auffallen, dass dein Bein verletzt gewesen ist. Es braucht nur noch etwas Geduld und Fleiß.« Sie drückte Lottes Hände und nickte ihr lächelnd zu. »Und fleißig bist du. So viel steht fest. Da gibt es hier im Haus ganz andere Kandidaten.« Ihr Blick wanderte kurz nach draußen, wo ein dunkelhaariger Junge in Lottes Alter in einem Rollstuhl saß und vor sich auf den Fußboden starrte. Er hieß Martin und hielt sich bereits seit zwei Monaten im Sanatorium auf. Er hatte einen ähnlich komplizierten Beinbruch wie Lotte erlitten, tat jedoch bei den Anwendungen nur das Notwendigste, und durch sein unfreundliches Verhalten war er beim Personal des Sanatoriums nicht sonderlich beliebt. »Manche Patienten reagieren so«, hatte Sibylle einmal zu Lotte gesagt, nachdem Martin mal wieder eine Szene im Gymnastikraum gemacht und sogar nach seinem Trainer geschlagen hatte. »Es ist die Wut im Inneren, das Nicht-akzeptieren-Wollen des Geschehenen. Es gilt zu hoffen, dass er dieses Gefühl irgendwann überwinden kann, denn sonst wird es schwer für ihn werden.« Sie hatte einen tiefen Seufzer ausgestoßen und Martin mitleidig angesehen. Bei ihm geriet selbst Sibylle an ihre Grenzen. Lotte wusste, von welcher Wut Sibylle gesprochen hatte, denn auch sie kannte dieses Gefühl. Doch Wut war etwas, was einen niemals im Leben weiterbrachte – so ähnlich hatte es Josef einmal zu ihr gesagt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Diese Worte hatte sie all die Jahre nicht vergessen. Damals hatte sie vor lauter Wut auf sich selbst, weil das Binden ihrer Schnürsenkel einfach nicht hatte funktionieren wollen, ihre Schuhe in die Zimmerecke geschleudert. Erst nachdem die dumme Wut verflogen war, hatte sie das Wunder vollbracht und die perfekte Schleife gebunden. Zu Lottes Bedauern war Martin der einzige sich in ihrem Alter befindliche Mitpatient im Sanatorium. Alle anderen waren bedeutend älter. Deshalb fühlte sie sich oft einsam. Hinzu kam das Heimweh, das sie mit jedem Tag mehr plagte. Mama und Papa riefen regelmäßig an, doch nur ihre Stimmen zu hören, war nicht dasselbe. Sie sehnte sich nach ihrer Gegenwart und ihren Umarmungen. Ach, wenn sie doch nur nicht so dumm gewesen und einfach drauflosgelaufen wäre …

»Was hältst du davon, wenn wir zu den Tieren in den Stall gehen?«, fragte Sibylle. »Ich habe den restlichen Nachmittag frei und mir wurde zugetragen, dass unsere Meerschweinchendame Ursel Mama geworden ist. Es sollen ganz entzückende Fellknäule sein, die sich da im Käfig befinden.«

Ihr Vorschlag sorgte sogleich dafür, dass sich Lottes Stimmung hob.

»Meerschweinchenbabys, wie süß! Die muss ich unbedingt sehen«, antwortete sie und erhob sich. Sie selbst bemerkte es nicht, doch Sibylle tat es: Lotte humpelte vollkommen frei und mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit Richtung Umkleiden. Sie folgte ihr lächelnd. Es war doch immer wieder erstaunlich, was sich mit Tierbabys erreichen ließ.

Bald darauf saß Lotte auf einer Bank neben dem Stalleingang, und auf ihrem Schoß befand sich eines der Meerschweinchenbabys, das erst am Vortag das Licht der Welt erblickt hatte. Im Gegensatz zu den Kaninchenbabys, die vor einigen Tagen geboren worden waren, hatte das Kleine bereits ein richtiges Fell, war agil und hatte die Augen geöffnet. Das kleine Wesen erschien Lotte wie ein Wunder. Es war dunkelbraun gefärbt, doch an seinen vorderen Füßchen weiß, als ob ihm jemand Socken angezogen hätte. Lotte hatte nicht mehr Sibylles Gesellschaft, sondern zu ihrem Staunen hatte sich ein Mädchen in ihrem Alter neben sie gesetzt. Ihr Name war Marie, und sie trug ein blau-grün kariertes Sommerkleid, ihr blondes Haar war zu Zöpfen geflochten.

»Gell, die Viecherl sind allerliebst«, sagte Marie und streichelte das kleine Meerschweinchen. »Des da is a Bua«, sagte sie. »Des hat vorhin der Xaver rausgfunden. Der hat da einen Blick für.« Sie nickte zu dem alten Stallburschen hinüber. »Er hat gsagt, dass mir noch an Namen brauchen. Also ich fänd Wuschel ganz nett, weil sei Fell is a bisserl länger. Was meinst du?«

»Hm«, antwortete Lotte und betrachte das Meerschweinchen näher. »Also ich fände Söckchen passender, wegen der Zeichnung des Fells.«

»Des stimmt«, antwortete Marie. »Des schaut echt so aus, als hätt er Sockerl an. Also ham wir schon an Namen gfunden! Des is jetzad schnell gangen. Woher kimmst du denn?«, fragte sie und wechselte damit das Thema. Lotte erzählte, woher sie kam und weshalb sie in dem Sanatorium gelandet war.

»Also ich hab mei Lebtag noch keine Tram gsehn«, antwortete Marie. »Bei uns auf’m Dorf gibt’s auch fast keine Autos. Ich mag des so. Die stinken mir zu sehr. Meine Mama hat eine Stellung in der Küch hier gekriegt, und ich hab sie heut mal begleitet, um zum schaun, ob sie auch eine Arbeit für mich hätten. Vielleicht in der Küch oder im Stall. Des Geld könnt ma gut brauchen. Seitdem da Papa tot ist, ist es ned leicht.«

Maries Worte lösten Betroffenheit in Lotte aus, und sie wusste nicht so recht, was sie erwidern sollte.

»Was machen deine Eltern?«, fragte Marie. »Bestimmt seids ihr reich. Die Mama hat gsagt, nur die Geldigen können sich des hier leisten.« Sie deutete auf das Hauptgebäude.

»Wir sind nicht reich«, antwortete Lotte sogleich. Sie hatte das Gefühl, dass Reichtum in diesem Moment etwas Negatives darstellte, obwohl sie sich ihr ganzes Leben lang gewünscht hatte, Teil der besseren Gesellschaft Münchens zu sein. »Meine Eltern haben eine kleine Eisdiele, für das Sanatorium hätte das Geld aber nie gereicht. Meine Oma zahlt es, was seltsam ist, denn sie mag uns eigentlich gar nicht.«

»Mei Oma war auch a Hex«, antwortete Marie. »Die hat mich immer so bös angschaut. Ich weiß, es klingt gemein, aber ich war froh, als sie in Himmel gangen is. Aber wenn dir deine des hier zahlt, dann is sie vielleicht gar ned so bös.«

»Möglich«, antwortete Lotte und zuckte die Schultern. »Ich kenn sie eigentlich kaum.« Sie dachte über ihre Worte nach. Vielleicht lohnte es sich ja, sie besser kennenzulernen. Wenn sie ihr das Sanatorium bezahlt hatte, lag ihr vielleicht wirklich etwas an ihr. Sie nahm sich vor, ihr nach ihrer Rückkehr nach München einen Besuch abzustatten. Der Gedanke gefiel Lotte, und Maries Gesellschaft tat ihr gut.

»Was machst du jetzt?«, fragte Lotte.

»Ich wollt den Stall ausmisten helfen«, antwortete Marie. »Wennst magst, kannst ja mitmachen.«

»Das könnte mit dem wehen Bein schwer werden«, antwortete Lotte. »Mit dem Laufen hab ich es noch nicht so.«

»Ach, des wird scho irgendwie gehn«, antwortete Marie und winkte ab. »Ich hab dich vorhin über den Hof humpeln sehen. So deppert hast dich doch gar ned angstellt. Jetzad bring ma erst amal den Söckchen zruck zu seiner Familie und dann such ma uns zwei Mistgabeln. Und wennst a Pause brauchst, dann setz ma uns halt ins Heu, und du erzählst mir von München. Mei, da würd ich ja so gern mal hin. Mei Schulfreund, der Lucky, war da mal. Er hat gsagt, so viel Häuser hätt er noch nie auf einem Haufn gsehn.«

Die beiden erhoben sich von der Bank und nur wenig später beschäftigten sie sich lachend mit dem Ausmisten des Stalls, und weil es so schön war, saßen die beiden Mädchen irgendwann im weichen Heu, und Lotte begann, von München zu erzählen, Marie von ihrem Leben in dem winzigen Zuahäusl auf dem Kreuzerhof. Es waren zwei komplett verschiedene Lebenswelten, die aufeinandertrafen, und vielleicht war es gerade deshalb perfekt. Marie verströmte, trotz der Tatsache, dass sie es nicht leicht im Leben hatte, eine Lebensfreude, die auf Lotte abfärbte. Sämtliche düstere Gedanken, die sie eben noch im Schwimmbecken gehabt hatte, waren verschwunden. Für Marie war sie keine Patientin, sondern einfach nur Lotte. Das fühlte sich großartig an. Marie begleitete Lotte sogar zu ihrem Zimmer und versprach, am nächsten Tag wiederzukommen.

»Und dann misten wir wieder den Stall miteinander aus«, sagte sie. »Und wir geben Söckchens Geschwistern auch noch Namen.«

»Ja, das machen wir«, antwortete Lotte freudig und umarmte Marie zum Abschied sogar.

Mit einem leichten Gefühl ums Herz sank Lotte, nachdem Marie fort war, auf ihr Bett, und plötzlich wurde sie sich klar darüber, dass sie die ganze Zeit ohne Gehhilfe gelaufen war. Vielleicht konnte das Wunder ja doch noch geschehen, und sie würde irgendwann wieder normal laufen können. Wie hatte Sibylle gesagt: Es brauchte nur Geduld. Und eine Marie, dann würde es schon werden.

Im nächsten Moment betrat eine der Krankenschwestern den Raum und rümpfte kurz die Nase.

»Kann es sein, dass Sie nach Stall riechen, junges Fräulein?«, sagte sie lachend.

»Ja, das ist möglich«, antwortete Lotte und grinste schelmisch. »Es gibt Meerschweinchenbabys.«

»Davon habe ich schon gehört«, antwortete die Schwester. »Sie sollen allerliebst sein. Wenn Sie möchten, können Sie gleich Ihrer Frau Mama davon erzählen. Sie befindet sich am Telefon und wird sich bestimmt über Ihren Bericht freuen.«

Freudig erhob sich Lotte sogleich, und auch den Weg zum Schwesternzimmer, in dem sich das Telefon befand, legte sie nun zwar stark humpelnd, aber ohne Gehhilfe und ohne Unterstützung der Schwester zurück. Mama würde staunen, was sie zu erzählen hatte.