15. Kapitel

16 . August 1929

Erna saß am Fenster des Zugabteils und blickte neugierig nach draußen. Häuserreihen, Straßen und Plätze flogen im hellen Licht der Nachmittagssonne an ihr vorüber. In wenigen Minuten würden sie den Anhalter Bahnhof erreichen. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie tatsächlich in die Hauptstadt reiste! Mit ihr im Abteil saßen Anneliese und Josef. Letzterer konnte ihrer spontanen Reise nach Berlin nur wenig abgewinnen. Aus heiterem Himmel hatte vor einigen Tagen Anneliese im Salon gestanden und verkündet, dass ihr Schwager Poldi erneut heiraten wollte, und sie und Josef nebst Gattin zu der Feierlichkeit eingeladen wären. Josef hatte diese Einladung verwundert, denn er hatte jahrzehntelang keinen Kontakt zu seinem Onkel gehabt.

Leopold Xaver Pankofer, wie Poldi mit vollem Namen hieß, hatte seiner Familie in München früh den Rücken gekehrt, und er und Alois hatten nie gut miteinander gekonnt. Josefs Vater hatte stets schlecht über seinen Bruder gesprochen. Einer, der den Schoß der Familie verließ, um zu den Preißen nach Berlin zu gehen, war in seiner Wahrnehmung nicht ganz richtig im Kopf. Poldi war seine Verwandtschaft in Bayern gleichgültig geworden. Zu Alois’ Beerdigung war er jedoch erschienen, was sie alle verwundert hatte. Er hatte sogar recht freundlich getan, erzählt, dass er verwitwet sei und zwei Töchter habe. Er war als Gerichtsschreiber tätig. Anneliese hatte vermutet, dass er sich vielleicht etwas von dem Erbe erhofft hatte. Von Alois war er jedoch nicht bedacht worden, was nicht verwunderlich war. Nach der Beerdigung war er rasch wieder verschwunden.

Josef hatte die Einladung zu seiner Hochzeit erst nicht annehmen wollen. Für so etwas hätte er aktuell so gar keine Zeit, denn er tüftelte noch immer jeden Tag bis spät in die Nacht hinein an seinem Steckerl-Eis. Da kam ihm eine Reise nach Berlin äußerst ungelegen. Auch Erna war nicht begeistert gewesen, denn eigentlich hatte sie geplant, Lotte im Sanatorium einen Überraschungsbesuch abzustatten. Fanny war es gewesen, die sie schließlich dazu gebracht hatte, die Einladung nach Berlin anzunehmen. Ihrer Meinung nach könnte sich das Verhältnis zwischen Josef und seiner Mutter durch die gemeinsame Reise nach Berlin verbessern. Außerdem würde ihnen nach der stressigen Zeit eine Luftveränderung guttun. So hatte er sich doch überreden lassen und Erna hatte ihre Besuchspläne im Sanatorium schweren Herzens verschoben.

Leopold hatte ihnen eine kleine, unweit seiner Wohnung gelegene Pension im Stadtteil Friedenau empfohlen, die sich direkt gegenüber einer Parkanlage befand. Erna war so aufgeregt gewesen, dass sie in den letzten Tagen wie eine aufgescheuchte Hummel durch den Eissalon gelaufen war. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie Bayern verlassen, und dann ging es auch noch gleich bis in das ferne Berlin! Fanny hatte zugesichert, die Stellung zu halten, und auch auf Frieda zu achten, denn die Töchter waren nicht eingeladen worden. Erna vermutete den Grund darin, dass die Hochzeit nur im kleinen Kreis stattfinden sollte. Frieda unterstützte sie seit einer Weile wieder im Geschäft und zeigte sich von ihrer besten Seite. Gestern Abend hatte sie das Durchwischen der Gaststube übernommen und sämtliche Eiskübel gespült. Auch hatte sie Erna bei der Kleiderwahl unterstützt und war sogar mit zum Bahnhof gekommen, um sie zu verabschieden. Das rechnete Erna ihr hoch an, immerhin war ihr Zug zu nachtschlafender Zeit abgefahren.

Erna traute dem Frieden mit Frieda jedoch nicht, sondern nahm an, dass etwas im Busch war, doch sie getraute sich nicht nachzufragen. Insgeheim hoffte sie darauf, dass Friedas Heimkehr in den Schoß der Familie die Trennung von Erich Bachmann zugrunde lag. Natürlich war es für ihre Tochter bedauerlich, wenn ihr Liebesglück nicht gehalten hatte, aber für den Familienfrieden war diese Variante eindeutig besser.

Sie fuhren in die Bahnhofshalle des Anhalter Bahnhofs ein, und der Zug kam zum Stehen.

Gemeinsam mit unzähligen Mitreisenden strömten sie nur wenige Minuten später den Bahnsteig hinunter.

»Dann wollen wir mal sehen, wo sich hier diese Ringbahn befindet, von der Poldi gesprochen hat«, sagte Josef, der einen abgewetzten Koffer mit defektem Verschluss in Händen hielt, der mit einem zusätzlichen Band gesichert hatte werden müssen. In der Bahnhofshalle empfing sie vertrauter städtischer Trubel. Es gab Imbissbuden, Zeitungskioske, und Blumen wurden an Verkaufsständen feilgeboten. Der Weg zu der sogenannten Ringbahn war gut ausgeschildert. Der überfüllte Bahnhof, von dem es nun weiterging, nannte sich Potsdamer Ringbahnhof – wieso auch immer, denn er befand sich doch mitten in Berlin. Josef erwarb an einem Fahrkartenschalter drei Karten bis zur Haltestelle Wilmersdorf-Friedenau.

Eine Stadtbahn dieser Sorte waren Anneliese, Erna und Josef nicht gewohnt, ebenso wenig wie eine U-Bahn, wie es sie in Berlin bereits seit vielen Jahren gab. Nun zeigte sich doch, dass Berlin um einiges fortschrittlicher war als München, wo als einziges öffentliches Verkehrsmittel innerhalb der Stadt die Trambahn zur Verfügung stand. Ludwig hatte neulich erzählt, dass es wohl wieder Baupläne für eine U-Bahn in München gebe, aber die Planungen stießen erneut auf Widerstände, besonders aus dem Bereich Tourismus. Schließlich könnte man aus den Fenstern der Trambahnen viel besser die Schönheit Münchens bewundern, in einer im dunklen Untergrund fahrenden Bahn funktionierte das nicht. Dass ein Großteil der Bewohner die Schönheiten der Stadt schon kannte, schien diesen Gegnern anscheinend nicht bewusst zu sein.

Die Fahrt mit der Ringbahn gestaltete sich für die drei äußerst unbequem, denn sie ergatterten keinen Sitzplatz und mussten im Mittelgang stehen. Erna hielt sich an einer Stange fest, ihre Reisetasche zwischen ihre Beine gestellt, damit sie ihr nicht abhandenkam. Anneliese stand mit verdrießlicher Miene neben ihr. Josef, der sich hinter den beiden befand, hielt sich an einem Haltering fest. Die Luft in der Bahn war stickig, obwohl einige der Fenster gekippt waren. Es roch nach Körperausdünstungen und Zigaretten. Erna erleichterte es, dass die Fahrt nicht allzu lange dauerte und sie der Enge alsbald entfliehen konnten. Als sie auf dem Bahnsteig standen, atmeten sie allesamt erleichtert auf.

»Also wenn ich gewusst hätte, wie abscheulich sich diese Fahrt gestaltet, hätte ich eine Droschke gemietet. Keine zehn Pferde werden mich erneut in dieses grässliche Fortbewegungsmittel bringen«, merkte Anneliese an.

Der Stadtteil Friedenau, den sie kurz darauf in Augenschein nahmen, beeindruckte sie auf den ersten Blick nicht sonderlich. Es reihten sich mal mehr, mal weniger hübsch herausgeputzte Stadthäuser aneinander, viele waren im Gründerzeitstil gehalten. Die Kaiserallee war eine breite Straße, auf der reger Verkehr herrschte. Die tief stehende Sonne spiegelte sich in den Fenstern der Stadthäuser, eine Straßenbahn fuhr bimmelnd an ihnen vorüber. Die gab es hier also noch zusätzlich zu den vielen Zügen und U-Bahnen! Sie liefen an kleinen Ladengeschäften vorüber – einem Zeitungskiosk, einem Friseur, einem Geschäft für Musikinstrumente, einem Kolonialwarenladen. Die im Schaufenster hängenden Würste erinnerten Erna daran, dass sie außer zwei Wurstbroten und einem Apfel seit ihrer Abfahrt aus München nichts gegessen hatte. Schlagartig begann ihr Magen zu knurren. Sie erreichten ihre direkt neben dem Hindenburgpark gelegene Pension, die den schlichten Namen »Pension am Park« trug und in einem gepflegten Gründerzeithaus lag. Das Haus war in einem hellen Grau gehalten, doch bunte Geranien blühten in Blumenkästen auf steinernen Balkongeländern. Die Pension lag im ersten Stock des Gebäudes, zu Ernas und Annelieses Erleichterung gab es einen Fahrstuhl. Obwohl sie den ganzen Tag in der Bahn gesessen hatten, fühlten sich die beiden erschöpft.

Sie wurden von einer korpulenten Wirtin mit einem grauen Vogelnest auf dem Kopf in Empfang genommen, die in einem altmodischen dunkelblauen Kleid steckte, das vermutlich noch den Kaiser gesehen hatte. Die Frau sprach breites Berlinerisch, was für Ernas Ohren ungewohnt klang. Nicht, dass ihr in München nicht der eine oder andere Berliner Tourist über den Weg gelaufen wäre, aber solch breiten Dialekt kannte sie nicht. Auch die etwas spröde Art ihrer Gastgeberin war gewöhnungsbedürftig.

»Also det wär dann euer Zimmer, wa«, sagte sie zu Erna und Josef, und öffnete eine der vielen Türen, die von einem schmalen, im Dämmerlicht des späten Nachmittags liegenden Flur abgingen, jede von ihnen sah ein klein wenig anders aus. »Bad is jenau gegenüber. Warmwasser jibt es morgens zwischen sechs und acht, abends nur mittwochs für ne Stunde. Frühstück jibts ab sieben bis neun.«

Josef bedankte sich bei der Wirtin, die sich ihnen als Heike Grabowski vorgestellt hatte, und bemühte sich darum, möglichst reines Hochdeutsch zu sprechen. Die Wirtin bedeutete Anneliese, ihr zu folgen, und öffnete ein Stück den Flur hinunter eine weitere Tür.

Von den vielen Eindrücken erschöpft, sank Erna in einen neben einer Balkontür stehenden Korbsessel.

Das Zimmer erweckte einen freundlicheren Eindruck als ihre Vermieterin. Die Wände waren in einem frischen Gelbton gestrichen, und die Bettwäsche zeigte ein hübsches Muster. Auf dem Beistelltisch neben dem Korbsessel stand ein Blumenstrauß.

»Ach du liebe Güte«, sagte sie. »Das ist dann wohl die berühmte Berliner Schnauze! Und da sag mal einer, die Münchner wären eigenwillig.«

Josef stimmte ihr zu, stellte seine Tasche ab, öffnete die Balkontür und trat nach draußen. Ihr Zimmer ging zum Park hinaus.

»Du musst zu mir kommen und dir das ansehen!«, rief er begeistert. »Es ist äußerst hübsch hier.«

Erna tat ihm den Gefallen und kam nach draußen. Sie musste Josef recht geben, der Park hatte etwas Idyllisches an sich. Unweit von ihnen war einer der bekiesten Wege zu sehen, auf Bänken verweilten Passanten, Mütter gingen mit Kinderwägen spazieren. Ein kleines Mädchen, Erna schätzte es nicht älter als drei, hatte sie auf dem Balkon entdeckt und winkte ihnen freudig zu.

»Wir sollten uns gleich noch einmal in dem schönen Park ein wenig die Beine vertreten«, schlug Josef vor. »Vielleicht haben wir ja Glück und finden irgendwo ein nettes Wirtshaus, das regionale Küche anbietet. Ich möchte unbedingt die berühmte Currywurst probieren!«

»Das ist eine gute Idee«, antwortete Erna. »Wir könnten nach unserem Parkspaziergang vielleicht auch noch die Stadt erkunden. Das Berliner Nachtleben soll legendär sein. Hier durfte, im Gegensatz zu München, ja auch die berühmte Josephine Baker auftreten. Allerdings werden wir nicht umhinkommen und Anneliese fragen müssen, ob sie uns begleiten möchte. Sonst fühlt sie sich ausgeschlossen.«

Josef stieß einen Seufzer aus und antwortete: »Ja, ich weiß. Ich wünschte, wir müssten sie nicht fragen. Ich würde gerne mit dir allein die Stadt in Augenschein nehmen.«

Zu ihrer Überraschung lehnte Anneliese es wenige Minuten später jedoch ab, sie zu begleiten. Sie wollte nur noch auf ihrem Zimmer bleiben und sich ausruhen. Hunger verspürte sie keinen, und auf die berühmte Berliner Currywurst könnte sie gerne verzichten.

So zogen Erna und Josef allein los und schlenderten alsbald bestens gelaunt durch den Hindenburgpark. Sie blieben an einer hübsch angelegten Teichanlage stehen und beobachteten eine Weile die vielen Enten und Schwäne, die sich auf der im Abendlicht funkelnden Wasseroberfläche tummelten. Dann sahen sie beide gleichzeitig den kleinen Jungen, der gemeinsam mit seiner Mutter eben ans Ufer getreten war. Er hielt zu ihrem Erstaunen ein Steckerl-Eis in Händen.

Nur wenig später standen die beiden vor einem kleinen Eisladen, der ein Stück die Hindenburgstraße hinunter ebenfalls direkt am Park lag. Es gab keinen Gastraum, sondern nur einen Straßenverkauf, und auf dem davorliegenden Gehweg befanden sich keine Sitzmöglichkeiten. Josef vermutete, dass der Ladenbesitzer diese aufgrund der Nähe zum Park nicht benötigte. Unweit des Eisladens war im Park ein Spielplatz zu erkennen, und Kindergeschrei war zu hören. Neugierig traten Erna und Josef näher an den Straßenverkauf heran. In der Kühlung befanden sich tatsächlich die Steckerl-Eis, was Josefs Augen sogleich zum Strahlen brachte. Es gab sogar mehrere Sorten: Erdbeere, Vanille und Schokolade wurden angeboten. Ein Eis kostete 10 Pfennige, was dem Preis von zwei normalen Kugeln entsprach. Hinter dem Tresen stand ein blonder Mann mit Schnauzbart, Erna schätzte ihn auf Mitte vierzig, der sie freundlich lächelnd begrüßte und sich erkundigte, was es denn sein dürfte.

Josef und Erna stellten sich vor, und Josef trat sogleich die Flucht nach vorne an und erzählte ihm, dass sie Kollegen waren, die durch Zufall ihre Eisdiele entdeckt hatten. Er sprach den Verkäufer auch ohne Umschweife sofort auf das Eis am Stiel in seiner Auslage an und dass er plane, dieses in München ebenfalls anzubieten.

»Es hapert bedauerlicherweise noch etwas an dem Herstellungsprozess. Wären Sie vielleicht so freundlich und könnten uns erklären, wie Sie die Form so gut hinbekommen? Sämtliche meiner Versuche sind bisher leider fehlgeschlagen.« Er sah den Mann hoffnungsvoll an.

»München also«, antwortete sein Gegenüber. »So weit im Süden war ich mein Lebtag noch nicht! Aber die Stadt soll sehr schön sein, wurde mir jedenfalls zugetragen. Ich kann mir schon vorstellen, dass sich das Eis am Stiel dort ebenfalls gut verkaufen wird. Hier in der Gegend ist es besonders bei den Kindern äußerst beliebt. Ich hab mir die Herstellung von einem Amerikaner abgeguckt, der sein Eis in Mitte verkauft. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gern unsere kleine Eiswerkstatt. Aber ich warne Sie vor: Es wird einiges an Material benötigt.«

Josef bedankte sich freudig. Seine Augen strahlten regelrecht. Erna konnte ihr Glück kaum fassen. Was war das nur für ein Zufall! Es schien wie ein Geschenk des Himmels. Der Mann verschwand und öffnete nur wenig später eine seitlich des Straßenverkaufs gelegene Tür.

»Martin Gladewitz, mein Name«, stellte er sich vor und streckte ihnen die Hand entgegen. »Seines Zeichens verrückter Eisproduzent und Eisliebhaber. Es ist mir eine große Freude, Sie beide kennenzulernen. Besucher aus München haben wir bei uns nicht alle Tage.«

Martin und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.

»Wir haben unsere Eisproduktion im Hinterhaus. Der Verkauf an der Straße deckt nur einen Teil unserer Einnahmen. Wir liefern im Umkreis inzwischen auch aus, besonders für Kindergeburtstage sind unsere Eis am Stiel beliebt. Neuerdings beliefere ich sogar einige Kioske hier um die Ecke.«

Sie betraten einen typisch städtischen Innenhof. Wäsche hing vor den Fenstern, drei Kinder spielten Gummihüpfen und beäugten sie ebenso neugierig wie ein älterer Herr, der an einer geöffneten Haustür stand und eine Pfeife im Mund hatte. Die Eiswerkstatt lag in einem Nebengebäude im Erdgeschoss. Die blau gestrichene hölzerne Eingangstür knarrte, als Martin sie öffnete. »Hier war früher ein Schreinerbetrieb ansässig. Als er vor einer Weile auszog und einen Nachmieter suchte, hab ich zugeschlagen. Für die Produktion unseres Eises benötigt man dann doch etwas mehr Platz als in unserer kleinen Hexenküche von früher.« Er zwinkerte ihnen zu. Diese Aussage gefiel Erna so gar nicht, denn ihre Küche war ebenfalls nicht sonderlich groß. Daran, dass die Herstellung von Steckerl-Eis vielleicht mehr Platz benötigen würde, hatten sie gar nicht gedacht.

Sie wurden von einer rothaarigen Frau mit vielen Sommersprossen im Gesicht begrüßt. Sie trug ein schlichtes blaues Musselinkleid und hatte eine graue Küchenschürze umgebunden. Martin stellte ihnen die Frau als seine Gattin Berta vor und erklärte ihr in raschen Worten, weshalb er Josef und Erna in die Eiswerkstatt geführt hatte.

»Zwei Münchner in Berlin, dass es so etwas gibt! Ich dachte immer, sie hätten es nicht sonderlich mit uns Preußen«, sagte sie lachend und reichte ihnen die Hände.

»Da Sie beide ja vom Fach zu sein scheinen, können Sie uns gerne gleich zur Hand gehen«, schlug Martin vor. »Wir wollten heute Abend sowieso noch das Eis für den morgigen Tag herstellen. Man lernt doch am besten, wenn man Dinge gleich ausübt, jedenfalls geht es mir so. Wir haben doch noch zwei Schürzen für unsere Gäste, oder, Berta?«

»Ja, die haben wir«, antwortete Berta. »Allerdings könnten wir doch auch zuerst den Laden schließen und zu Abend essen, bevor wir uns in die Arbeit stürzen. Möchten Sie uns vielleicht Gesellschaft leisten? Es gibt allerdings nur Hausmannskost: Kassler mit Kraut.«

Erna erfreute die Einladung der Frau. Die Aussicht, sich sogleich in stundenlange Eisherstellung zu stürzen, hatte ihr so gar nicht gefallen, denn ihr Magen knurrte ihr inzwischen bis zum Hals.

Es war weit nach Mitternacht, als sich Erna und Josef von Martin und Berta Gladewitz verabschiedeten und fest versprachen, vor ihrer Abreise nach München noch einmal wiederzukommen.

»Und ich dachte, wir müssten das Eis erst in der Eismaschine herstellen, und es dann in die Form streichen«, sagte Josef auf dem Rückweg durch die dunklen Straßen, auf denen es ruhiger geworden war. »Dass die Eismasse flüssig in diese großartigen Formen kommt und dann in ein Kältebad gestellt wird, hätte ich niemals gedacht! Es funktioniert einfacher, als ich annahm.«

»Das mag sein«, antwortete Erna, die sich so erschöpft fühlte, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Aber wie du gehört hast, hat Martin diese speziellen Formen extra von einem Schlosser anfertigen lassen, und eine Kältemaschine dieser Sorte gibt es nur bei einer einzigen Firma in Deutschland. Bestimmt hat ihn das alles eine hübsche Stange Geld gekostet. Dazu benötigen auch wir wesentlich mehr Platz, als wir in unserer kleinen Küche haben. Damit wir uns das ohne einen Bankkredit werden leisten können, wirst du erneut deine Mutter um Geld fragen müssen. Willst du wieder ein Bittsteller bei ihr sein?«

»Wenn es sein muss«, antwortete er in einem trotzig klingenden Tonfall. »Mir hätte viel mehr Erbe zugestanden, und das weiß sie auch. Wenn wir ihr alles genau erklären, kann sie nicht Nein sagen. Davon bin ich fest überzeugt. Mir gefiel auch die Idee mit der Lieferung an Kindergeburtstage und Kioske in der Nachbarschaft. Wir könnten mehr sein als eine kleine Eisdiele – wir könnten ein richtiges Unternehmen werden! Und mach dir wegen dem Platz keine Gedanken. Ich rede nach unserer Rückkehr mit dem alten Lechner, ihm gehört doch die noch immer leer stehende Werkstatt im Innenhof. Wenn wir Glück haben, vermietet er sie uns zu einem passablen Preis. Sie wäre perfekt. Wir schaffen das«, sagte er und legte den Arm um sie. »Wir werden dafür sorgen, dass JOPA -Eis in ganz München bald jedes Kind kennt.«

» JOPA -Eis?« , wiederholte Erna und blieb stehen.

»Ja, JOPA für Josef Pankofer. Diese Abkürzung ist mir neulich kurz vor dem Einschlafen eingefallen. Ich dachte, der Name wäre passend. Oder möchtest du einen anderen haben?«

Erna war so müde, sie gab keine Widerworte. Sollte er das Steckerl-Eis doch nennen wie er wollte. In ihr überwogen die Zweifel. Das Ganze war zu groß für sie, und Josef würde das auch bald begreifen.