9 .November 1929
Josef stand vor dem Haus in der Aventinstraße, in dem sein Freund Gerhard damals gewohnt hatte – in der Wohnung im dritten Stock links. Sein Zimmer hatte er sich mit seinem älteren Bruder Simon geteilt, der von einer Karriere als Musiker geträumt hatte und ein begnadeter Klavierspieler gewesen war. Simon war aus dem Krieg nicht heimgekehrt. Gerhard hatte seinen Lebensunterhalt als Malergeselle verdient, doch sein Herz hatte er an die Lyrik verloren. Er hielt sich gerne in Schwabing in einschlägigen Künstlerkneipen auf, hatte es jedoch nie geschafft, so richtig dazuzugehören. Seine Gedichte hatten sich stets etwas hölzern angehört. In den Schützengräben und Unterständen während des Krieges hatte sich Josef viele von ihnen anhören müssen. Doch seine Emma hatte er mit seinen Versen betört. Seine Emma, die Josef kurz vor ihrem Tod vor zwei Jahren zufällig im Englischen Garten getroffen hatte. Damals war sie bereits stark vom Krebs gezeichnet gewesen. Erst einige Wochen später hatte er erfahren, dass sie ebenfalls gestorben war. Es war wohl auch der Kummer gewesen, der ihr den Lebenswillen geraubt hatte. Emma hatte zu viele Verluste in ihrem Leben ertragen müssen. Ihre beiden Kinder hatte sie an die Spanische Grippe verloren, ebenso ihre Schwester, den Mann an diesem schicksalhaften Tag, weil er daran festgehalten hatte, einen verblendeten Freund zu retten. Josef sah zu den Fenstern hinauf. Er wusste, dass es dort heute keine Familie Moser mehr gab. Fremde blickten vielleicht gerade jetzt hinter dem Vorhang stehend auf ihn herab und wunderten sich darüber, wer der seltsame Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite war. Die Vergangenheit mit all ihrer Düsternis wog schwer und schien ihre dunklen Schatten erneut in die Gegenwart ausbreiten zu wollen. Die NSDAP gewann wieder an Zuspruch, Hitler war längst wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Es galt zu hoffen, dass er und seine Schergen weiterhin kleingehalten werden konnten.
»Wie hättest du reagiert?«, sagte Josef laut. Er stellte einem toten Freund eine Frage, in der all seine Zweifel lagen. »Wie der Vater, so der Sohn? Oder irre ich mich? Ich weiß es nicht. Ich will doch nur meine Tochter beschützen.«
Das hatte er auch mit Erna getan. Er hatte ihr all die Jahre Gerhards grausamen Tod verschwiegen und ihr nicht gesagt, dass auch er sich damals in Lebensgefahr begeben hatte. Auch er hätte damals im Kugelhagel sterben können. Erna kannte den wahren Grund für seinen Hass auf Anton nicht. Es reichte, wenn einer von ihnen mit solch einer Last leben musste. Doch sein Verschweigen holte ihn nun ein. Er hätte es besser wissen sollen – selten blieben Dinge für immer verborgen.
Eine ältere Frau mit einem Einkaufskorb am Arm lief an ihm vorüber und beäugte ihn misstrauisch. Er nahm es ihr nicht krumm. In ihren Augen musste er ein rechter Trottel sein, führte er doch auf der Straße stehend Selbstgespräche. Dieser Tag war jedes Jahr für ihn ein schwieriger. Er erwachte stets mit der Erinnerung an Georg, an den Wahnsinn, den Aufruhr in der Stadt. Er fühlte die alte Panik, sah die vielen Menschen vor Augen, dann den Sarg von Georg, wie er Tage später über den Friedhof getragen worden war. Er war so dumm gewesen und hatte geglaubt, dass er diesen Teil seiner Vergangenheit irgendwann endgültig würde hinter sich lassen können. Doch er schlich sich immer wieder an, war arglistig und perfide. Und nun griff die Vergangenheit nach seiner Familie. Wie sollte er ertragen, dass Anton Bachmann der Schwiegervater seiner Tochter werden sollte? Seines kleinen Mädchens, das er zeit seines Lebens beschützen wollte. Sie hatte seinen Sturkopf geerbt. Schon allein der Gedanke daran, dass ein Bachmann Hand an sie legte, war für ihn unerträglich. Damals, als er im Schützengraben gelegen hatte, war es die Hoffnung gewesen, seine Mädchen wiederzusehen, die ihn am Leben gehalten hatte. Was sollte er nur tun? Für immer mit ihr brechen? Das schaffte er nicht.
Es begann zu schneien. Sacht fielen weiße Wattebausche vom Himmel und sanken auf den Asphalt, wo sie sogleich schmolzen. Das Wetter schien heute ebenfalls der Gräueltaten von damals gedenken zu wollen. Es war ein grauer und kalter Tag.
Da wurde Josef plötzlich von hinten angesprochen, und er drehte sich um.
Es war sein alter Freund und früherer Weggefährte Leopold Huber, der vor ihm stand. Sie hatten einander seit Georgs Beerdigung nicht mehr gesehen. Leopold war in die Jahre gekommen, sein Haar ergraut, und tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Der Krieg hatte ihn zum Krüppel werden lassen. Sein linkes Knie war steif geblieben, und ihm fehlten vier Finger an der rechten Hand. Wo er heute lebte, wusste Josef nicht.
»Dass du mal an dem Tag hier stehst, hätt ich nicht gedacht. Sann wohl die Umstände. Habs scho ghört. Als Eltern hat mans a ned leicht, ha?«
Josef wunderte sich nicht darüber, dass Leo von Friedas Verlobung wusste. München war und blieb ein Dorf.
»Schön, dich zu sehen, Leo«, sagte Josef. »Wie geht’s dir?«
»Mei, wie es einem als Krüppel halt so geht. Ich wohn in am Verhau in der Landsberger Straß und häng an der Titte der Nation. Kriegsfürsorge nennen sie des. An Spengler mit einer kaputten rechten Hand, der noch immer ab und an des Zittern anfangt, kann halt niemand gebrauchen. Aber Schnaps und Tabletten helfen manchmal beim Vergessen.« Er zog kurz eine Grimasse.
Josef nickte mit betroffener Miene. Er kannte Leo noch aus Schulzeiten, auch auf dessen Hochzeit mit seiner Anni hatte Josef gemeinsam mit Erna getanzt. Damals, zu Kaisers Zeiten, als sie alle sich nicht vorstellen hatten können, dass einmal ein solch fürchterlicher Krieg ihre Leben erschüttern und für immer verändern würde. Anni hatte ihn kurz nach dem Krieg verlassen. Wo sie heute war, wusste Josef nicht.
»Ich hab mir dein Eissalon neulich mal angschaut«, sagte Leo. »Schaut scho ganz nett aus. Aber glaubst, du hast damit a Chance gegen den großkopferten Hund? Der blast sich auf dem Marienplatz ja recht auf. Das hat der Anton scho immer gut gekonnt. Deswegen ham de Nazis den vermutlich auch eingfangen. De san ja auch gut darin, sich aufzumblasen. Fangen ja scho wieder an.«
»Das Geschäft läuft, könnt aber besser sein«, antwortete Josef ohne auf das Gerede von Anton und den Nazis einzugehen. »Aber so ist es eben.«
»Ja, so is hoid«, antwortete Leo, und sein Blick wanderte noch einmal zu den Fenstern im dritten Stock hinauf.
»Der Gerhard war einer von de Guaden. Da weiß der Herrgott schon, warum er sie so früh zu sich nimmt.« Er seufzte tief und fragte dann: »Hast deim Dirndl gsagt, was ihr zukünftiger Schwiegervater für einer is?«
Josef schüttelte den Kopf. »Ich hab gedacht, sie käme ohne die alten Geschichten zur Vernunft. Aber ich lag wohl falsch.«
»Und jetzad denkst drüber nach, es ihr doch zu sagen. Glaubst, sie wird dem feinen Sohnenmann dann doch den Laufpass gem?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Josef und zuckte die Schultern.
»Probiern solltest es. Bevor sie in ihr Unglück rennt. Wie der Vater so der Sohn. Ist oft so. Außer bei dir! Du bist a Ausnahme, obwohlst scho a den Sturschädel von deim Vater geerbt hast. Hast des mit deiner Erna scho richtig gmacht, damals. Sie is a heut noch a fesches Dirndl. Da gibt’s nix. Hast Glück ghabt mit ihr.«
In seinem letzten Satz schwang ein Hauch von Wehmut mit. Josef wusste, dass er jetzt an seine Anni dachte. Daran, was hätte sein können, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, wenn er heil nach Hause gekommen wäre. Einen Moment lang schien niemand so recht zu wissen, was er noch sagen sollte. Leo war es, der irgendwann fragte: »Meinst, du könntst mich auf a Bier einladn? Um der alten Zeiten willen?« Er deutete nach vorne. An der Ecke befand sich eine kleine Kneipe.
Josef stimmte zu, und die beiden liefen die Straße hinunter. Das Gespräch mit Leo hatte ihm gutgetan, und er wusste nun tatsächlich, was er tun würde: Er würde das Gespräch mit Frieda suchen.
Der passende Moment fand sich schneller als gedacht, denn auf dem Rückweg begegnete Josef Frieda auf dem Marienplatz. Sie hatte Gemüse in ihrem Einkaufskorb, was darauf hindeutete, dass sie auf dem Viktualienmarkt gewesen war. Die beiden blieben voreinander stehen und begrüßten sich ungelenk. Keiner von beiden schien so recht zu wissen, was er sagen oder tun sollte. Josef war derjenige, der als Erster das Wort ergriff.
»Warst einkaufen?«, fragte er und deutete auf den Korb. »Was gibt’s denn Feines?«
»Eintopf mit Würstchen«, antwortete Frieda. »Fanny und Lotte backen mal wieder Lebkuchen, da bin ich los. Mama geht es nicht so gut, und sie hat sich wieder hingelegt. Sie plagen Kopfschmerzen.« Seitdem sie auf dem Friedhof gesprochen hatten, war Frieda wieder häufiger zu Hause. Allerdings herrschte zwischen ihr und Josef noch immer eine angespannte Stimmung.
»Die hat sie in der letzten Zeit häufiger«, antwortete Josef. Das Reden über alltägliche Dinge lockerte die Stimmung zwischen ihnen etwas auf, und Josef nahm sich nun ein Herz.
»Denkst du, wir haben noch einige Minuten Zeit? Ich würd dir gerne etwas zeigen und mit dir reden.«
Frieda sah ihn verwundert an, dann nickte sie.
»Gern. Aber nur, wenn du den Korb trägst«, antwortete sie und lächelte sogar ein wenig. »Der ist nämlich schwer.«
»Abgemacht«, antwortete er und nahm ihr den Einkaufskorb ab.
Josef führte sie zu dem Ort, an dem damals alles geschah. Zu dem Platz, an dem sein alter Freund sterbend auf dem Boden gelegen, an dem er ihn angefleht hatte, nicht aufzugeben. Als sein Kopf zur Seite gekippt war, war ein fürchterlicher und unbeschreiblicher Schmerz über ihn hereingebrochen, der ihm den Atem geraubt hatte. Er hatte im Krieg so viele Männer sterben sehen, junge Männer hatten verblutend gebeten, wieder nach Hause zu dürfen. Er hatte gedacht, er wäre dem Tod gegenüber abgestumpft geworden. Doch dieser Augenblick hatte ihn eines Besseren belehrt.
Als er mit Frieda an diesem nichtssagenden Ort unweit der Feldherrnhalle eintraf, blieb er stehen und blickte eine Weile schweigend auf den grauen Asphalt.
»Wieso bist du stehen geblieben?«, fragte Frieda. »Was wollen wir hier?«
»Hier ist es geschehen«, antwortete Josef. »Hier ist mein alter Freund Gerhard Moser durch die Kugel eines Nazis gestorben. Heute auf den Tag ist es fünf Jahre her.«
»Der Hitlerputsch«, zog Frieda die richtigen Schlüsse. »Ich wusste gar nicht, dass du eines der Opfer gekannt hast.« Ihre Stimme klang arglos. Wie sollte es auch anders sein, sie war zu jenen Zeiten ein Kind gewesen und hatte von den Unruhen nichts mitbekommen. Sie war beschützt und behütet gewesen von Erna, die all das Böse nicht an ihre Töchter hatte herankommen lassen wollen. Doch nun war Frieda erwachsen, nun war es an der Zeit, zu reden und Erlebtes zu teilen. Nun war es an der Zeit, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie wehtat.
»Der Tod von Gerhard ist der wahre Grund dafür, weshalb ich Anton Bachmann so sehr verabscheue«, sagte Josef. »Früher war ich mit Anton befreundet – bis er sich von den Nazis hat einwickeln lassen und immer häufiger zu deren Versammlungen gegangen ist. Er ist uns entglitten, und seine Ansichten sind immer radikaler geworden. Er ist damals gemeinsam mit Hitler und den anderen zur Feldherrnhalle gezogen, er hat den Putsch gewollt. Georg hat Anton davon abhalten, ihn zur Vernunft bringen wollen. Ich hab ihm gesagt, dass das nichts bringen wird, aber er hat nicht auf mich gehört, und dann hat ihn eine der Kugeln erwischt. Genau an dieser Stelle ist er in meinen Armen gestorben. Anton war nicht einmal auf seiner Beerdigung. Deshalb verabscheue ich ihn: Weil er meinen besten Freund auf dem Gewissen hat, weil er sich von diesen abscheulichen Ideologien hat blenden lassen. Nicht, weil er ein großes Kaffeehaus hat oder Eis verkauft. Ich weiß nicht, wie er heute denkt, ich weiß nicht, wie sein Sohn die Sache sieht oder ob er überhaupt davon weiß. Aber allein die Vorstellung, dass er dein Schwiegervater wird, raubt mir den Schlaf.«
Friedas Miene war nun wie versteinert. Sie starrte auf den Boden und sagte eine ganze Weile lang nichts. Als sie den Kopf hob, sah Josef Tränen in ihren Augen schimmern. Er hatte sie zum Weinen gebracht und schämte sich dafür. Er war ihr Vater, er wollte ihr nicht wehtun. Doch heute hatte er es um seiner selbst willen getan. Eine erste Träne rann ihre Wange hinab, sie wischte sie fort.
»Aber ich liebe doch nicht Anton, sondern Erich«, antwortete sie. »Und ich weiß, dass er die Nazis verurteilt und sich niemals mit dieser Partei gemeinmachen würde. Nur weil sein Vater es getan hat, muss er es doch nicht auch tun, oder?« Ihr Tonfall klang flehend. »Bitte, Papa. Du musst mit ihm reden. Du musst ihm zuhören, ihn kennenlernen. Du wirst ihn mögen.«
»Vielleicht würde ich ihn mögen«, erwiderte Josef. »Aber ich würde ihn nie ganz akzeptieren können, denn ich weiß, wessen Sohn er ist. Es tut mir leid.«
Frieda rannte fort, und er folgte ihr nicht. Er blieb an dem Ort stehen, an dem er vor fünf Jahren mit seinem sterbenden Freund auf dem Boden gesessen hatte. Am Tag seiner Beerdigung hatten sie geglaubt, dass Hitler besiegt wäre. Ihm und seinen Schergen war der Prozess gemacht, seine Partei verboten worden. Sie hatten gedacht, dass Gerhard nicht umsonst hatte sterben müssen. Doch im Moment sah es so aus, als hätten sie sich geirrt. Hitler und seine Anhänger schmiedeten längst wieder Pläne und schlichen sich erneut an, drangen in das Bewusstsein der Menschen und hatten erneut Macht über sie. Es galt zu hoffen, dass sie niemals die Oberhand gewinnen würden. Fünf Jahre – es war zu wenig Zeit vergangen, der Schmerz saß zu tief. Ein bitterer Schmerz, den er seinen Kindern gerne erspart hätte. Doch es hatte nicht funktioniert.