23. Kapitel

21 . November 1929

»Jetzad mach ma auf alle Lebkuchen noch a Schokolad drauf, pappen die Mandeln in die Mitte, und wenn sie schön getrocknet sind, dann kannst heut Nachmittag glei die nächsten Packerl zur Resi in ihren Laden bringen«, sagte Fanny. »Des is a so a feine Sach von ihr, dass sie unsere Lebkuchen auch mitverkauft. Aber von der Resi hätt ich nix anders erwartet. Die war scho immer a ganz a Hilfsbereite.«

»Ja, sie ist wirklich lieb«, antwortete Lotte, die kräftig in der Schüssel mit der geschmolzenen Kuvertüre rührte. Sie trug eine rot-weiß karierte Küchenschürze und hatte ihr Haar zurückgebunden. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen strahlten regelrecht. Erna, die gerade einen Apfelstreuselkuchen für den Laden aus dem Ofen holte, erfreute sich an der Energie, die Lotte in den letzten Tagen und Wochen ausstrahlte. Es schien, als hätte das Mädchen endgültig seinen Platz im Leben gefunden. Sie war wieder gut zu Kräften gekommen und verzichtete vollkommen auf ihre Gehhilfe. Erst letzte Woche waren sie mal wieder bei einem der Nachuntersuchungstermine in der Klinik, und der Arzt war erstaunt darüber gewesen, welch große Fortschritte Lotte gemacht hatte. Allerdings hatte er sie dahingehend enttäuschen müssen, dass es noch besser werden würde. Das rechte Bein würde sie auch weiterhin stets etwas nachziehen.

Im Salon war herbstliche Gemütlichkeit eingezogen, und ihr Kuchen- und Kaffeeangebot wurde von den Passanten gut angenommen. Erna und Lotte hatten mit Rosis Unterstützung die Tische hübsch mit bunten Blättern und Astern dekoriert, Kerzen auf den Tischen sorgten zusätzlich für Gemütlichkeit. Besonders der Apfelstreuselkuchen, den Erna mit Zimt verfeinerte, war bei den Gästen beliebt, aber auch die Lebkuchen fanden immer mehr freudige Abnehmer. Die Idee von Fanny, sie in dem unweit des Salons gelegenen Kolonialwarenladen von Resi Hintermayr anzubieten, sorgte für eine zusätzliche Einnahmequelle. Josef hatte auch bei einigen Kiosken und Geschäften angefragt, die ab nächstem Frühjahr das Steckerl-Eis verkaufen wollten, doch die hatten allesamt abgewunken. Lebkuchen und anderes weihnachtliches Gebäck wurde in der Vorweihnachtszeit an jeder Straßenecke feilgeboten, dazu öffneten ja auch bald die Christkindlmärkte ihre Pforten.

Josef arbeitete im Moment nicht im Tagesgeschäft mit. Die Herstellung der Backwaren überließ er den Frauen, auch an dem täglichen Betrieb im Café beteiligte er sich nicht. Ab und an saß er bei Ludwig am Tisch, und die beiden unterhielten sich über Politik. Der Börsencrash in Amerika wirkte sich so langsam auch auf Deutschland aus, und die ersten Banken waren in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Diese neue Unsicherheit sorgte dafür, dass Josef wieder rastloser geworden war und an seiner Kreditaufnahme zweifelte. Bereits mehrfach hatte er bei der Bank nachgefragt, doch jedes Mal war er beruhigt worden. Alles wäre in bester Ordnung, war ihm versichert worden. Er müsste sich keine Sorgen machen. Doch in Josefs Ohren klangen die Worte des Mitarbeiters nur wie beschwichtigende Phrasen. Auch Ludwig blieb in dieser Angelegenheit skeptisch. Seiner Meinung nach war es in den letzten Jahren in Deutschland nur deshalb bergauf gegangen, weil die Amerikaner den Deutschen mit günstigen Krediten entgegengekommen waren. Sollten sie jetzt durch diese Krise immer weiter den Geldhahn zudrehen, wäre es bald vorbei mit dem bisschen Wohlstand, von dem außerdem nicht jeder ein Stück abbekommen hatte. Auch in München musste man nicht weit laufen, um Not und Elend zu finden. Besonders die Kriegsversehrten hatte es hart getroffen: Noch heute bettelten viele von ihnen auf den Straßen. Hinzu kam, dass sich das Vater-Tochter-Verhältnis zwischen Josef und Frieda nicht besonders gebessert hatte. Frieda hatte Erna erzählt, was ihr ihr Vater berichtet hatte, und Erna war aus allen Wolken gefallen. Sie hatte Josef zur Rede gestellt, wieso er ihr davon nie etwas erzählt hatte. Er hatte sie nicht beunruhigen wollen, hatte er geantwortet. Damals waren sie doch alle nervös gewesen, sie habe sich um die Sicherheit der Mädchen gesorgt. Erna hatte seine Erklärung akzeptiert, doch trotzdem blieb ein schales Gefühl in ihrem Inneren zurück. Was hatte er ihr noch verschwiegen? Sie waren Eheleute! Sollte man da nicht ehrlich zueinander sein?

Frieda hatte sich von der Familie endgültig zurückgezogen, selbst den Kontakt zu ihrer Mutter suchte sie nur noch selten. Sie hatte eine Anstellung im Kaufhaus Tiez in der Schuhabteilung angenommen und wohnte weiterhin bei Hilde. Erna wusste, dass sie mit Erich nicht über die Gesinnung seines Vaters gesprochen hatte. »Ich hab das einfach nicht fertiggebracht«, hatte sie Erna bei einem kurzen Treffen in einem Café vor einigen Tagen gestanden. Erna konnte ihre Tochter verstehen. Das Erlebte von damals war für ihren Vater schrecklich, es war eine Tragödie, die sich nicht ungeschehen machen ließ. Doch die Kinder sollten nicht mit hineingezogen werden. Noch immer wünschte sich Erna, dass Josef endlich das Gespräch mit seinem zukünftigen Schwiegersohn suchen würde. Denn dass Frieda Erich heiraten würde, stand auch weiterhin außer Frage.

»Ich hätte da noch an Vorschlag«, sagte Fanny plötzlich. »Mir is des heut früh eingfallen, als ich am Bäcker Hofbauer vorbeiglaufen bin. Der hat doch den Straßenverkauf, und des läuft bei dem ganz gut. Ich hab mir denkt, ob mir jetzad in der Weihnachtszeit ned a so was machen wolln. Auf der Kaufingerstraß sind immer viele Leut unterwegs, Weihnachtseinkäufe, Besuche auf dem Christkindlmarkt. Wenn mir vorm Gschäft verkaufen täten, könnt ma bestimmt noch mehr Umsatz machen. Was meinst?«

»Das ist keine schlechte Idee«, antwortete Erna. »Aber es könnte mit der Umsetzung schwierig werden. Wir kommen doch jetzt schon kaum mit dem Backen hinterher, dazu das Bedienen im Laden. Wer soll dann noch einen Verkaufstisch auf der Straße betreuen? Zusätzliches Personal können wir uns nicht leisten. Gerade so bekommen wir es hin, dir deinen Lohn auszuzahlen.«

»Daran hab ich auch schon denkt«, antwortete Fanny. »Es könnt doch auch amal wieder der feine Hausherr im Betrieb anständig mitarbeiten, oder? Was macht der denn den ganzen Tag da droben in der Stubn? Die ganzen Planungen für des nächste Frühjahr können doch ned so viel Zeit kosten. Ich weiß scho, dass Lebkuchen und Kuchen ned so seine Sach sind, aber mei. Dann muss er sich halt amal arrangieren.«

Erna antwortete mit einem Schulterzucken. Fanny hatte schon recht mit dem, was sie sagte, aber sie wollte Josef nicht drängen, denn er war wegen der wirtschaftlichen Situation im Land sowieso schon mehr als angespannt. Sie mochte gar nicht daran denken, was geschehen würde, sollte die Bank auch ihnen den Bankkredit kündigen. Dann wäre Josefs Traum endgültig ausgeträumt. Andererseits täte es not, den Verkauf auszubauen, denn schon jetzt mussten sie auf ihre bescheidenen Rücklagen zurückgreifen, um sämtliche Ausgaben tragen zu können. Sich in der Wohnstube zu verkriechen und zu grübeln, brachte sie nicht weiter.

»Weißt du was«, sagte Erna plötzlich. »Du hast recht. Der Sepp hat nur noch seine Pläne für den nächsten Sommer vor Augen und verliert dabei vollkommen das gegenwärtige Geschäft aus dem Blick. Er muss ja nicht unbedingt unter die Bäckermeister gehen, aber Lebkuchen und vielleicht auch heiße Getränke an Passanten verkaufen, das kann auch er.«

Sie verließ entschlossen die Küche. Im Treppenhaus blieb sie dann jedoch verdutzt stehen. Auf der Treppe saß die Witwe Moosgruber, heulend. Sie schien aus gewesen zu sein, denn sie trug noch ihren Mantel und einen Hut. Erna ahnte sogleich, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Sie trat näher.

»Grüß Gott, Frau Moosgruber. Wieso weinen Sie denn? Ist etwas passiert?«

Die Moosgruberin antwortete mit einem Schluchzer. Erna seufzte innerlich. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die ungeliebte Nachbarin zu trösten. Sie setzte sich neben sie, legte den Arm um sie, tätschelte ihr die Schulter und sagte: »Na, so schlimm wird es doch nicht sein. Da muss man doch nicht so arg weinen.«

»Doch, das muss man«, antwortete die Moosgruberin. »Das täten Sie an meiner Stelle auch. Ich hätt da gar ned erst hingehen sollen. Mein Gustl hat immer gsagt, wenn man erst amal in die Fäng von dene Weißkittel is, dann is alles aus. Die machen einen kränker als ma is.«

»Sie waren also beim Arzt«, schlussfolgerte Erna.

»Wo denn sonst?«, entgegnete die Moosgruberin ruppig. »Und der Gscheidmeier hat mir gsagt, dass ich nur noch wenige Wochen hab. Ich hätt auf die depperte Trudi ned hörn und wegen dem Knubbel im Busen ned so a Aufhebens machen sollen. Des hab ich jetzad davon. Wie soll ich des denn meinem Erwin beibringen? Der arme Bua hat ja dann niemanden mehr.« Erneut begann die Moosgruberin zu schluchzen, und sie schniefte in ein kariertes Stofftaschentuch. Ernas Miene wurde betroffen. Ihre Nachbarin hatte Krebs? Eine ihrer besten Freundinnen war vor zwei Jahren ebenfalls an dieser scheußlichen Krankheit gestorben. Sie war wegen einer Schwellung unter der Achsel zum Arzt gegangen, ein halbes Jahr später hatten sie sie beerdigt. Wie tröstete man eine Frau, die nur noch wenige Wochen zu leben hatte, und die man noch dazu eigentlich bisher nicht leiden konnte? Die Erwähnung der »depperten Trudi« kam ihr in den Sinn. Das war bestimmt eine gute Freundin der Moosgruberin. Immerhin hatte sie sie dazu gebracht, den Arzt aufzusuchen.

»Sie sollten jetzt nicht allein sein«, schlug sie vor. »Was halten Sie denn davon, wenn Sie die Trudi anrufen? Mit ihrem Zuspruch wird es bestimmt leichter.«

»Na, die ruf ich ned an«, antwortete die Moosgruberin. »Wegen ihrer hab ich doch den ganzen Kummer. Sie ist schuld dran.«

Erna sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Möge der Herrgott ihr Geduld senden.

»Aber die Trudi ist doch nicht schuld daran, dass Sie krank sind«, antwortete sie. »Nun hat der Arzt leider etwas gefunden, aber so haben Sie und auch Ihr Sohn wenigstens Gewissheit. Sie sollten Trudi nicht böse sein. Sie ist doch Ihre Freundin, gewiss wird auch sie betroffen sein. Rufen Sie sie an. Und sollten Sie sonst noch irgendwelche Unterstützung benötigen, dann wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«

»Sie ham ja recht«, lenkte die Moosgruberin ein. »Mei, dass Sie mal so nett zu mir sein werden, hätt ich ned gedacht. Ich war scho immer arg bös zu Ihnen und Ihrer Familie. Des tut mir jetzad schon leid. Danke fürs Zuhörn.« Sie tätschelte Erna die Hand, dann erhob sie sich und ging die Treppe nach oben. Erna blieb noch so lange auf der Stufe sitzen, bis ihre Wohnungstür ins Schloss gefallen war. Sie atmete tief durch. Im nächsten Moment hörte sie, wie sich erneut eine Tür öffnete. Josef kam die Treppe nach unten gerannt. Die Tatsache, dass seine Frau seltsamerweise im Treppenhaus saß, schien ihn nicht zu interessieren. Er war vollkommen außer sich.

»Stell dir vor«, rief er. »Das Großglockner brennt!«