26. Kapitel

10 . Januar 1930

Lotte liebte es, zu früher Stunde allein in der Küche zu sein, denn dann lag eine ganz eigene und friedliche Stimmung im Raum. Und sie liebte es, Kuchen und Kekse zu backen. Die Herstellung der Lebkuchen hatte sie zwar noch viel mehr gemocht, doch da die Weihnachtszeit vorbei war, ließen sich diese nicht mehr verkaufen. Für den Laden hatten sie sich nun eine neue Geschäftsidee überlegt: Es gab heiße Schokolade mit Sahnehäubchen und einem Stück Apfelkuchen im Angebotspreis. Die Idee war von Lotte gekommen, und sie funktionierte ausgezeichnet. Die Kundschaft erschien zahlreich, und oftmals wurden auch die von Lotte neu kreierten Haferkekse erworben, die sie in Papiertütchen hübsch verpackt anstatt der Lebkuchen nun zum Verkauf anboten. Diese Kekse nahmen sogar einige der von Josef angeworbenen Kioske mit in ihr Verkaufsangebot auf, und auch Resi hatte sie in ihrem Kolonialwarenladen verkaufsgünstig neben der Kasse platziert.

Lotte rührte noch mehr Haferflocken in die Schüssel, denn der Teig war noch zu flüssig. Das Rezept hatte sie in einem alten Backbuch ihrer Großmutter entdeckt, die sie inzwischen regelmäßig besuchte. Anneliese und Lotte hatten sich in den letzten Wochen immer mehr einander angenähert, und wenn Lotte zu ihr in ihre hübsche Altbauwohnung kam, dann wurde sie bereits freudig mit Kakao, Bienenstich und einem Kartenspiel erwartet. Anneliese mochte Rommé und freute sich riesig darüber, in Lotte eine Mitspielerin gefunden zu haben.

Lotte probierte etwas vom Keksteig und rührte noch etwas mehr braunen Zucker hinein. Sie mussten ihrer Meinung nach ordentlich süß sein, denn das war gut für die Seele. So hatte es Fanny immer gesagt. Die gute Fanny vermisste sie schmerzlich. An so manchen Tag glaubte Lotte sogar noch, Fanny würde jetzt gleich die Küche betreten. Doch sie würde es vermutlich niemals wieder tun. Obwohl Fanny Sehnsucht nach ihnen zu haben schien – sie hatte ihnen inzwischen schon zwei Briefe geschrieben, die beide Lotte beantwortet hatte. Genauestens hatte sie Fanny von ihrer aktuellen Lage berichtet, von der geschäftlichen, aber auch von der privaten. Ihr Vater arbeitete weiter an seinem Steckerl-Eis-Projekt. Das Gesicht des Eis-Clowns für die Werbeplakate hatte er inzwischen bereits mehrfach verändert, nie war er ihm gut genug gewesen. Inzwischen dachte er sogar wieder darüber nach, die Idee mit dem Clown gänzlich zu verwerfen. Auch tüftelte er jeden Tag viele Stunden an den Eisrezepten und probierte alles Mögliche aus. Am gestrigen Tag hatte er erste Versuche gestartet, das fertige Steckerl-Eis mit Schokolade zu überziehen, doch so recht hatte ihm das nicht gelingen wollen. Ihre Mutter plagte aktuell eine üble Erkältung, weshalb Lotte im Moment zusätzlich zu ihrer Backerei auch noch die Kundschaft im Laden bediente, was ihr jedoch große Freude bereitete. Ihr verletztes Bein zog sie inzwischen nur noch ein ganz klein wenig nach, und es zitterte auch gar nicht mehr, wenn sie länger stand oder lief. An manchen Tagen hatte sie so viel zu tun, da vergaß sie beinahe komplett, dass sie körperlich eingeschränkt war. Frieda arbeitete weiterhin bei Tietz. Ohne das Gehalt, dass sie dort verdiente, würde es im Moment gar nicht gehen, denn die Einnahmen durch den Verkauf deckten nicht sämtliche Unkosten ab. Dieser Umstand war auch der Grund dafür, weshalb bisher für Fanny kein Ersatz gesucht worden war. Wenn das Geschäft im Frühjahr mit dem Steckerl-Eis richtig in Gang gekommen war, konnte man sich immer noch nach einer Ersatzkraft für sie umsehen. Frieda litt noch immer unter der Trennung von Erich, aber sie hatte inzwischen endlich damit aufgehört, abends im Bett zu weinen. So ein ausgewachsener Liebeskummer, der kann einem die ganze Freude am Leben nehmen , das hatte Anneliese neulich bei einer ihrer Kartenspielrunden gesagt. Aber Liebeskummer hatte die Angewohnheit, dass er auch wieder vorbeiging. Andere Mütter haben auch schöne Söhne, und gewiss würde sich Frieda bald wieder neu verlieben.

Lotte entschied, dass der Teig für die Haferkekse nun perfekt war, verteilte ihn in kleinen Häufchen auf den bereits eingefetteten Backblechen und verfrachtete die dann in den bereits vorgeheizten Ofen. Sobald die Kekse fertig waren, konnte sie sie zum Abkühlen stehen lassen und ihre tägliche Auslieferungsrunde mit den bereits verpackten Keksen starten. Diese begann sie jeden Tag pünktlich um neun Uhr, dann war sie rechtzeitig wieder zurück im Salon, der um elf öffnete. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Es schneite leicht, und am Nachbardach hingen einige Eiszapfen. In der Silvesternacht war es noch mild und regnerisch gewesen, doch am Neujahrstag war der Wetterwechsel gekommen, seitdem herrschte strenger Frost, und es schneite immer wieder. Noch im letzten Jahr hatte sie ihre Nachmittage an solch kalten Tagen gemeinsam mit ihrer Freundin Ilse Schlittschuh laufend auf dem Kleinhesseloher See zugebracht. Doch mit ihrem kaputten Bein war an solch eine sportliche Betätigung wie Eislaufen gar nicht zu denken. Am Ende würde sie noch stürzen, und es könnte wieder schlimmer werden. Außerdem war Ilse nicht mehr ihre Freundin. Nach ihrem Unfall hatte sie sich zwar einige Male bei Erna nach ihrem Befinden erkundigt, aber nur ein einziges Mal war sie zu Besuch gekommen. Das war kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus gewesen. Aus dem Sanatorium hatte Lotte ihr noch einen Brief geschrieben, der jedoch unbeantwortet geblieben war. Lotte hatte nach ihrer Rückkehr nach München lange darüber nachgedacht, ihr einen Besuch abzustatten, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Doch dann war sie Ilse im Englischen Garten durch Zufall über den Weg gelaufen. Sie war in Begleitung von einigen anderen jungen Frauen gewesen, die Lotte nicht kannte. Sie hatten nur wenige Worte gewechselt, Ilses Blicke waren kühl geblieben. Sie besucht nun die Sekretärinnenschule, hatte sie gesagt, und dabei immer wieder Lottes Beine beäugt. Lotte hatte nach der Begegnung eine Weile niedergeschlagen auf einer Bank gesessen, und die Wut auf sich selbst hatte erneut die Oberhand gewonnen. Am Ende hatte sie zu weinen begonnen. Wäre sie doch damals nur nicht so dumm gewesen und so achtlos auf die Straße gelaufen! Es war eine alte Frau, die sich neben sie gesetzt und sie mit tröstenden Worten beruhigt hatte. Lotte erzählte der vollkommen fremden Frau von ihrer Situation und von dem, was eben geschehen war. »Auf eine solche Freundin kannst du getrost verzichten«, erklärte die Alte. »Die richtigen Freunde, die ein Leben lang bleiben, denen ist es egal, wie du ausschaust oder ob du humpelst. Es gibt nicht viele von denen. Wenn du so einen gefunden hast, dann halt ihn fest.«

Bisher war Lotte bedauerlicherweise kein solcher Freund über den Weg gelaufen. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Von ihren ehemaligen sogenannten Freundinnen und ihren mitleidigen Blicken hatte sie jedenfalls gehörig die Schnauze voll.

Erna erschien und umarmte ihre Tochter mit einem müden Lächeln.

»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte sie. »Wie das hier wieder duftet! Du bist ein Goldschatz.«

»Du bist heute aber früh wach«, konstatierte Lotte mit Blick auf die Uhr.

»Ich konnte aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht mehr schlafen«, antwortete Erna. »Da dachte ich, geh ich mal nach dir sehen. Vielleicht kann ich dir ja irgendwie zur Hand gehen. Sind denn schon alle Kuchen gebacken?«

»Ja, sie sind alle fertig und stehen auch bereits im Laden in der Vitrine. Auch die Kekse hab ich aufgefüllt, und die zur heutigen Auslieferung liegen bereits im Korb. Ein weiterer Schub ist im Ofen. Ich wollte gleich nachher zur Auslieferung losziehen.«

»Wenn du möchtest, kümmere ich mich um die Kekse im Ofen, dann kannst du gleich los. Wenn später noch Zeit bleibt, könnten wir bis zur Ladenöffnung noch ein wenig am Fenstertisch sitzen und plaudern. Früher hab ich das öfter mit Fanny gemacht, aber seit sie fort ist …« In Ernas Stimme schwang plötzlich Traurigkeit mit.

»Ich vermisse sie auch«, meinte Lotte, und ihre Miene trübte sich ein. »Ohne sie fehlt etwas im Laden. Für mich war sie schon fast wie ein Teil der Familie, obwohl sie gar nicht so lange bei uns gewesen ist.«

»Für mich auch«, antwortete Erna. »Auch unser Ludwig erkundigt sich jeden Tag danach, ob ein Brief von ihr eingetroffen ist. Ich glaube ja, dass er ein wenig in sie verliebt gewesen ist.«

»So etwas Ähnliches habe ich mir auch gedacht. Die beiden wären ein hübsches Paar geworden …«

Kurz herrschte für einen Moment Stille im Raum. Erna war diejenige, die sie brach. Sie fragte: »Wie lange müssen die Kekse denn im Ofen bleiben?«

»Noch fünf Minuten«, antwortete Lotte. »Wenn du magst, kannst du sie nach dem Abkühlen gleich verpacken. Sie sind alle für die Läden und Kioske gedacht.«

»Das mache ich gern«, antwortete Erna.

Lotte öffnete ihr Schürzenband und fragte: »Was ist mit Papa? Schläft er noch?«

»Bedauerlicherweise nicht«, antwortete Erna und stieß einen Seufzer aus. »Er hat sich schon die aktuelle Morgenzeitung organisiert und liest sie mit dicken Sorgenfalten auf der Stirn. Es ist wohl eine weitere Privatbank pleitegegangen, allerdings nicht bei uns in München, sondern irgendwo im Norden. Ihn treibt immer öfter die Sorge um, dass auch unsere Bank von dieser sich immer weiter ausweitenden Krise betroffen sein könnte. Aber bisher scheint alles in bester Ordnung zu sein.«

»Wollen wir hoffen, dass es so bleibt«, antwortete Lotte. »Und vielleicht ist das alles ja auch nur halb so tragisch, und es renkt sich rasch wieder ein. Die Schreiberlinge übertreiben gerne mal ein bisschen. So hat es Anneliese neulich gesagt. Bestimmt wird alles gut bleiben.« Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter mit einer kurzen Umarmung und verließ, den Korb mit den Keksen in der Hand, den Raum.

Zwanzig Minuten später erreichte Lotte ihren ersten Anlaufpunkt des Tages: den sich am Rand des Englischen Gartens befindlichen Kiosk von Anderl Ladinger. Der Kioskbetreiber hatte die Sechzig bereits überschritten, stets eine blaue Schiebermütze auf, und Lotte kannte in ganz München niemand anderen, der solch buschige Augenbrauen hatte.

»Mei, Dirndl, da kommst heut genau richtig«, begrüßte er Lotte. Seine Stimme klang stets etwas rau, als hätte er ständig eine Halsentzündung. »Vorhin grad hab ich das letzte Packerl von deine Keks verkauft. Die kommen bei der Kundschaft gut an. Wennst magst, kannst die auch im Sommer mitsamt dem Steckerl-Eis zu mir bringen. Kekse sind ja nicht an Jahreszeiten gebunden. Ich bin ja schon gspannt, wie des Gschäft mit eurem Steckerl-Eis laufen wird. Aber ich glaub schon, dass des ganz gut gehen könnt.«

Lotte freute sich über den regen Abverkauf und einigte sich mit dem Kioskbesitzer darauf, beim nächsten Mal fünf Packungen mehr zu bringen. Nachdem er mit ihr abgerechnet hatte, zog sie freudig weiter zu ihrem nächsten Anlaufpunkt, einem kleinen Gemischtwarenladen, der nicht weit entfernt in einer Seitenstraße lag. Auch dort hatten sich ihre Kekse gut verkauft, und der Inhaber hatte ebenfalls gefragt, ob es möglich wäre, mehr Packungen zu liefern.

Bestens gelaunt machte Lotte einen Laden und drei Kioske später auf einer Bank im Hofgarten Pause und Kassensturz. Sie hatte in sämtlichen Geschäften ordentlich verkauft, alle Kiosk- und Ladenbesitzer wollten mehr Kekse bei ihr ordern. Sie konnte es kaum glauben! Sie schien ihre Bestimmung im Leben endgültig gefunden zu haben: Aus ihr würde eine Bäckerin werden. Allerdings hatte die Sache nur einen winzigen Haken – ihr Vater plante nicht die größere Auslieferung von Haferkeksen, sondern er wollte mit seinem Steckerl-Eis Erfolg haben. Der Haferkeksverkauf war bisher nur als Nebengeschäft eingeplant gewesen, damit sie besser über die kalte Jahreszeit kamen. Spätestens ab April sollte sie als vollständige Kraft bei der Eisherstellung mitarbeiten, was ihr auch Freude bereitete. Wenn sie jedoch das Keksgeschäft aufrechterhalten wollte, würden ihre Arbeitstage noch länger werden, als sie es sowieso bereits waren. Aber vielleicht klappten ja ihre Pläne, und sie konnten bald wieder eine Hilfskraft für den Laden einstellen, die beim Bedienen der Kundschaft half. Und Mama unterstützte sie bestimmt gern beim Keksebacken – obwohl man sie bei dieser Tätigkeit im Auge behalten musste, denn ihre Mutter naschte gerne …

Lotte erhob sich. Es galt, noch die letzten beiden Stationen ihrer Runde abzulaufen: einen unweit des Hofgartens in der Theatinerstraße gelegenen Kiosk und den Laden von der Resi, der jedes Mal ganz am Ende drankam.

Sie war nur wenige Schritte gelaufen, da entriss ihr plötzlich ein junger Bursche ihren Korb.

Verdutzt sah sie dem Dieb nach, der wie der Teufel zum Ausgang des Hofgartens rannte. Sie erholte sich rasch von ihrem ersten Schreck und begann, im nachzulaufen und laut zu rufen: »Ein Überfall! Haltet den Dieb! Zur Hilfe! Ein Überfall …«

Normales Gehen fiel ihr inzwischen recht leicht, doch einen schnelleren Lauf hielt sie nur leidig durch. Humpelnd und fluchend erreichte sie den Odeonsplatz. Zu ihrem Erstaunen sah sie hier, dass ein junger Mann den Dieb doch tatsächlich gestellt hatte. Er war blond, trug eine Schiebermütze und hielt den Dieb am Oberarm fest.

»Mein Fräulein«, sagte er zu Lotte. »Ich konnte den Übeltäter stellen. Der Korb gehört Ihnen, nehme ich an.«

Lotte konnte es kaum glauben. Fassungslos sah sie den Dieb an, der sich als schmaler Junge mit einem blassen Gesicht und eingefallenen Wangen entpuppte. Gefährlich sah er nicht aus, eher halb verhungert. Doch trotzdem hielt sich ihr Mitleid in Grenzen. Sie stammte ebenfalls aus armen Verhältnissen, doch sie wäre niemals darauf gekommen, andere Leute zu bestehlen.

»Ja, der Korb gehört mir«, antwortete Lotte. Ihr Held lächelte. Er schien gar nicht so viel älter als sie selbst zu sein. Lotte fielen sogleich seine hübschen braunen Augen auf, die von langen Wimpern umrandet wurden.

»Und was machen wir jetzt mit dem Übeltäter?«, fragte der Mann. »Wir können einen solch dreisten Dieb doch nicht einfach laufen lassen. Vermutlich wäre es das Beste, ihn bei der Polizei abzugeben.«

Im nächsten Moment riss sich der Junge los und rannte davon. Verdutzt sahen ihm Lotte und ihr Retter nach, der zu ihrem Glück noch immer ihren Korb in Händen hielt. Der schmächtige Junge hatte mehr Kraft als gedacht.

»Der ist weg«, sagte ihr Retter. »Da kann man nichts machen.« Er zuckte die Schultern, trat näher an Lotte heran und reichte ihr ihren Korb.

»Vielen Dank«, sagte sie und schlug die Augen nieder. In ihrem Inneren hatte sich ein kribbeliges Gefühl ausgebreitet, das sie in dieser Form noch nie zuvor gespürt hatte.

»Gern geschehen«, antwortete er. »Darf ich erfahren, welchem Fräulein ich zur Hilfe geeilt bin? Mein Name ist Walter Kraus, wohnhaft in Sendling, Beruf Sohn, achtzehn Jahre alt. Meine Eltern haben ein Sanitärgeschäft.« Er zwinkerte ihr zu.

»Lotte«, antwortete sie. »Lotte Pankofer. Wir haben eine Eisdiele in der Kaufingerstraße. Aber im Moment verkaufen wir nur Kekse und Kuchen.«

»Verständlich«, antwortete er. »Für Eis ist es zu dieser Jahreszeit etwas zu frisch.«

Lotte nickte, und es entstand ein seltsamer Moment der Stille zwischen ihnen. Keiner von beiden schien so recht zu wissen, was er nun tun oder sagen sollte.

Es war Walter, der als Erster das Wort ergriff.

»Ich weiß, wir kennen uns nicht«, sagte er. »Aber ich würde mich freuen, wenn ich dich wiedersehen könnte. Vielleicht ja schon heute Nachmittag. Wir könnten auf dem Kleinhesseloher See Schlittschuh laufen. Was meinst du?«

Begeistert von seiner Einladung sagte Lotte zu, obwohl sie doch eigentlich mit dem dummen Bein gar nicht Schlittschuh laufen sollte.