36. Kapitel

07 . April 1930

Frieda stand in der im Dunkeln liegenden Wohnstube am Fenster und blickte nach draußen. Es schneite kräftig, und die Kaufingerstraße war bereits von einer recht ansehnlichen Schneedecke überzogen. Schneefall war für Anfang April nichts Ungewöhnliches, aber solche Mengen sah man zu dieser Jahreszeit selten. Ein böiger Wind wirbelte die Flocken durch die Lichtkegel der Straßenlaternen, ein einsamer Fußgänger huschte auf der gegenüberliegenden Straßenseite über den Gehweg. Ihrem Papa hätten diese Wetterkapriolen bestimmt Bauchschmerzen bereitet – ein warmes Frühjahr war für einen Eisverkäufer eindeutig besser. Aber das Wetter konnte man sich nicht aussuchen, schon gar nicht im April. Das Geräusch von schlurfenden Schritten ließ Frieda aufmerken, und sie wandte sich um. Es war Erna, die das Esszimmer betrat. Sie trug ihren Morgenmantel, ihr Haar war offen, gegen alle Moderegeln der Zeit fiel es ihr bis über die Schultern.

Erna schaltete eine kleine, auf einer Kommode stehende Lampe ein, trat neben ihre Tochter und schenkte ihr ein müdes Lächeln.

»Du kannst also auch nicht schlafen«, sagte sie und strich Frieda eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich nehme an, dein Vater schleicht sich ebenso in deine Träume, wie er es bei mir tut?«

»Ja, das stimmt«, antwortete Frieda. Sie ersparte ihrer Mutter die Einzelheiten des eben geträumten Traums, denn sie würden ihr zu sehr wehtun. Die letzten Minuten im Leben des Josef Pankofer verfolgten Frieda noch immer, wie ein Film lief das Geschehene jede Nacht ab. Auch seine letzten Worte wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Bisher hatte sie mit niemandem darüber geredet, aber vielleicht sollte sie es jetzt endlich tun und ihrer Mama davon erzählen. Sie könnte ihr helfen, seine Worte einzuordnen. Als hätte ihre Mutter ihre Gedanken erraten, sagte sie plötzlich: »Hat er dir eigentlich gesagt, dass er dir und Erich seinen Segen geben möchte? Er hatte es mir an seinem Todestag beim Frühstück mitgeteilt. Ich war so erleichtert darüber, dachte sogar, dass es ein gutes Zeichen wäre und er mit der unschönen Vergangenheit endgültig seinen Frieden gemacht hätte. Dass er Erich nun endlich als Teil der Familie anerkennen würde. Ich habe ihm gesagt, wie sehr du dich darüber freuen wirst und dir wünschst, dass er dich zum Altar führen wird.«

In Ernas Augen traten Tränen. Sie fischte ein Taschentuch aus ihrem Morgenmantel und tupfte sich über die Augen. »Er hat gesagt, dass er sich auch schon darauf freut. Ich weiß nicht, ob er zu dem Zeitpunkt bereits gelogen hat. Ob er schon wusste, dass er in den Tod springen wird.«

»Er hat es mir gesagt«, antwortete Frieda. »Kurz bevor er gesprungen ist, hat er es getan. Ich war so glücklich, ich hab ihn umarmt und bin danach von der Brücke gegangen. Er hat gemeint, er würde gleich nachkommen. Ich hab mir nichts dabei gedacht …« Frieda kam kurz ins Stocken. Es war das erste Mal, dass sie laut aussprach, was in jenem Moment geschehen war. Es kostete Kraft. »Ich hab mich so sehr gefreut, dass ich mich am Ende der Brücke übermütig im Kreis gedreht habe. Dann hab ich ihn plötzlich auf dem Geländer stehen sehen, und er ist gesprungen. Einfach so. Ich stand nur ein Stück von ihm entfernt und konnte ihn nicht aufhalten.« In Friedas Ohren begann es zu rauschen, und der kalte Schmerz dieses Augenblicks ergriff erneut Besitz von ihr. Das Gesehene war ein solcher Schock für sie, auch jetzt schien die Erinnerung unerträglich. Da spürte sie die Arme ihrer Mama, die sie umfingen und festhielten. Sie umhüllte Frieda mit ihrem Geruch und ihrer Wärme, so wie sie es so oft in ihrem Leben bereits getan hatte. In den Armen ihrer Mama war jeder Kummer, und mochte er noch so groß gewesen sein, ein Stück kleiner geworden. Auch jetzt beruhigte sich ihr schneller gewordener Pulsschlag wieder, und das Rauschen in ihren Ohren ließ nach. Frieda war diejenige, die sich als Erste aus der Umarmung löste.

»Ich glaube, er hat das mit Erich nur deshalb gesagt, weil er mich nicht traurig zurücklassen wollte«, sprach sie nun auch ihre Bedenken zum ersten Mal laut aus.

»Bestimmt nicht«, antwortete Erna und nahm Friedas Hand. »Er mag in diesem Moment verzweifelt gewesen sein, aber er hat bestimmt die Wahrheit gesagt. Er wollte immer nur, dass seine Töchter glücklich sind. Es ist ihm schwergefallen, Erich zu akzeptieren, aber ich denke, er hat mit ihm tatsächlich seinen Frieden gemacht. Er scheint begriffen zu haben, dass Erich nicht wie sein Vater ist. Er hat euch seinen Segen gegeben, und du solltest seine Worte nicht infrage stellen.«

»Aber du tust es doch auch«, antwortete Frieda, die noch immer nicht so recht daran glauben wollte, dass ihr Vater es tatsächlich ernst gemeint haben könnte. »Er hat doch, was die Kirche betraf, vermutlich schon gelogen. In diesem Moment hat er bereits gewusst, dass er mich niemals zum Altar führen wird. Ich kann Erich nicht heiraten. Nicht, solange diese unbeantwortete Frage im Raum steht.«

»Aber wir werden die Wahrheit nie erfahren«, entgegnete Erna. »Es könnte doch sein, dass sein Sprung in die Isar gar nicht geplant gewesen war, und dass er es aus Verzweiflung spontan getan hat. Hast du daran schon mal gedacht? Dann waren seine Worte nicht einfach so dahingesagt, sie waren kein bitter schmeckendes Abschiedsgeschenk, sondern die Wahrheit. Dein Vater war ein ehrlicher Mann. Wieso sollte er jetzt von seinen Prinzipien abweichen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Frieda. Aus diesem Blickwinkel hatte sie die Situation noch nicht betrachtet. Sie hatte gedacht, er hätte den Sprung bereits geplant, als sie auf die Brücke gekommen war. Aber was war, wenn ihre Mama recht hatte? Wenn sein Selbstmord tatsächlich spontan geschehen war? Dann stimmten seine Worte, und er hatte ihr und Erich tatsächlich seinen Segen gegeben. Darüber musste sie erst einmal nachdenken. Noch vor nicht allzu langer Zeit war ihr die Meinung ihres Vaters egal gewesen, und sie hätte Erich auch ohne seinen Segen geheiratet. Wieso war er ihr plötzlich so wichtig? Weil Josef nun tot war?

»Du solltest dir Zeit geben«, sagte Erna und strich ihrer Tochter liebevoll über den Arm. »Die benötigen wir alle. Am besten wird es sein, wenn du mit Erich über deine Gefühle sprichst. Er hat verdient, dass du mit ihm darüber redest, findest du nicht?«

»Ja, das hat er«, antwortete Frieda, froh darüber, dass ihre Mama sie nicht zu einer Entscheidung drängen wollte.

Es war Fanny, die das Gespräch der beiden durch ihr Eintreten unterbrach. Sie stand plötzlich, missbilligend dreinblickend, nur mit ihrem Nachthemd bekleidet und barfuß in der Tür.

»Mei, was seids denn ihr für zwei Nachtschwärmer! Stehen da in der Stub’n und ratschen. Wisst’s ihr eigentlich, wie spät mir ham? Schauts, dass in eure Betten kommts! Schließlich ham ma morgen viel vor.«

Reumütig zogen Erna und Frieda sogleich die Köpfe ein.

»Entschuldige, Fanny«, erwiderte Erna. »Wir geben jetzt Ruhe. Fest versprochen.«

Nachdem Fanny den Raum verlassen hatte, grinsten die beiden einander an, wie Lausmädchen, die gerade etwas angestellt hatten.

»Sie ist ja schlimmer als meine frühere Lehrerin, Frau Lamprecht, die alte Hexe«, sagte Frieda und unterdrückte ein Kichern. Fanny hatte es mit ihrem Auftritt tatsächlich geschafft, die Stimmung der beiden aufzuhellen.

»Guter Gott!«, antwortete Erna. »Vor der Frau hatte sogar ich Angst. Allerdings muss ich Fanny recht geben – wir haben vier Uhr morgens. Wir sollten versuchen, noch etwas Schlaf zu finden. Morgen gibt es viel zu tun.« Erna streckte sich und gähnte.

Frieda willigte ein, obwohl sie nicht müde war.

Wenig später lag sie wieder in ihrem Bett, lauschte den gleichmäßigen Atemzügen von Lotte, und ihre Gedanken wanderten erneut zu dem eben Gesprochenen. Was war, wenn ihr Vater es wirklich so gemeint hatte? Konnte es wirklich sein, dass er spontan gesprungen war?

»Ach, wärst du doch gleich nachgekommen, wie du es gesagt hast«, sagte Frieda leise. »Wieso nur hast du das getan?« Sie drehte sich zur Seite und nahm sich vor, so bald wie möglich zu Erich zu gehen. Ihre Mama hatte recht. Er hatte Ehrlichkeit von ihr verdient.

Am nächsten Morgen fühlte sich Frieda ausgeschlafener, als sie gedacht hatte, und das veränderte Wetter sorgte zusätzlich für Munterkeit. Der winterliche Spuk der Nacht hatte sich verzogen, und der gefallene Schnee taute im hellen Sonnenlicht. Sie hatten sich für den heutigen Tag den Frühjahrsputz im Geschäft vorgenommen, schließlich musste für die geplante Eröffnung alles aufgehübscht werden, und Erna wollte einiges umdekorieren. Josef hatte vor seinem Tod noch einige Werbemittel beauftragt, die am Vortag geliefert worden waren. Dazu zählten Fähnchen und Plakate, aber auch zwei große Blechschilder mit dem Schriftzug JOPA -Eis darauf, die es aufzuhängen galt. Außerdem plante Erna, den dunklen Kaffeehausmöbeln eine hellere Farbe zu verpassen – schließlich war der Sommer ihr Geschäft, und da sollte ihr Eissalon fröhlich wirken. Nach einiger Überlegung hatten sie sich für einen hellgelben Lack entschieden, in dem die Stühle und Tische heute gestrichen werden sollten. Frieda hatte sich bereits einen Malerkittel, ein altes Hemd ihres Vaters, übergezogen und war gerade mit Fanny dabei, die Möbel in den Innenhof zu verfrachten. Allerdings war Fanny, was das Tragen der Stühle anging, keine große Hilfe. Sie kam schnell außer Atem und benötigte viele Pausen. Auch gerade jetzt setzte sie sich wieder nach Luft japsend auf eine der nach draußen gebrachten Sitzgelegenheiten.

»Mei, die ganze Schlepperei ist nix mehr für a altes Madl wie mich! Wo steckt denn die Jugend, wenn man sie mal braucht? Sonst schrawenzelt dieser Walter doch auch an ganzen Tag hier umanand. Wennst mich fragst, dann is die Lotte scho längst dem sein Gspusi. Habts ihr eigentlich gmerkt, dass die Leut deswegen schon reden? Die Lechnerin vom Nachbarhaus hab ich gestern mit der Gruberin darüber tratschen hörn. Sodom und Gomorra is des, hat sie gsagt.«

Frieda antwortete mit einem Seufzer. Irgendwann hatte es ja so kommen müssen. Walter und Lotte waren seit ihrem ersten Aufeinandertreffen unzertrennlich, und obwohl die beiden noch jung waren, konnte es durchaus sein, dass sie etwas füreinander empfanden. Sie alle hatten die Augen davor verschlossen, dass Gefühle im Spiel sein konnten. Besonders nach Papas Tod waren sie froh über die Unterstützung des jungen Mannes gewesen, der gerade für Lotte einen besonderen Halt darstellte und mit seiner Tatkraft überzeugte. Da konnte man das Offensichtliche schon mal aus dem Blick verlieren. Sie schaute zur Werkstatt. Durch das Fenster waren die beiden zu sehen: Sie waren mit der Eisherstellung zugange, schließlich mussten ihre Lager für die geplante Eröffnung in einigen Tagen gut gefüllt sein. Sowohl Lotte als auch Walter liebten diese Tätigkeit. Vielleicht hatten sich hier tatsächlich zwei gefunden? Lotte wurde im Sommer siebzehn Jahre alt, sie war kein Kind mehr.

»Also auf’m Land war neulich a Hochzeit von einem Dirndl, die nicht viel älter als unsere Lotte gwesn is. Und der Ehemann war meiner Meinung nach auch no ned ganz trocken hinter de Ohren«, merkte Fanny an. »So kann des nimma lang weitergehen, des is euch schon klar, oder? Ihr wollts doch wegen der Sach ned ständig dem Gred der Leut ausgliefert sein. Und was is, wenn die zwei ned aufbassen und da flott a Braten in der Röhre is? Wär ned des erste Unglück, des unbedacht bei junge Leut geschieht. Obwohl a Kindchen ja niemals a Unglück ist. Du weißt ja, was ich mein! Es sind halt immer die Umstände …«

»Also, so weit würde ich jetzt nicht gehen«, wiegelte Frieda Fannys Andeutung ab. Es entsetzte sie, dass Fanny überhaupt solch ein Geschehen in Betracht zog. Dass Lotte … Nein, das konnte unmöglich sein. »Wo du nur hindenkst! Walter ist ein guter Kerl, dessen bin ich mir sicher.«

»Weil wir grad bei guten Kerlen sind«, sagte Fanny und deutete zum Hofeingang. »Da kommt noch einer.«

Frieda wandte sich um.

»Erich«, sagte sie, und sogleich beschleunigte sich ihr Herzschlag.

»Ich geh dann mal schaun, ob die Erna noch Hilfe braucht«, sagte Fanny und schaute Frieda einen Moment lang vielsagend an. »Jetzt ist ihr ja auch noch eingfallen, die Wände neu zu streichen. Des halt ich ja für an Schmarrn, aber wenn´s unbedingt sein muss …« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zurück ins Haus.

Erich blieb vor Frieda stehen, und keiner von beiden schien einen Moment lang zu wissen, was er sagen sollte. Sie sahen einander nur an, und das Kribbeln in Frieda wurde so stark, dass sie glaubte, zu zerspringen. Ihre Hände begannen zu zittern, und weil sie nicht so recht wusste, wohin mit ihnen, steckte sie sie in ihre Rocktaschen.

»Ihr streicht die Möbel neu«, stellte Erich fest und deutete auf das Mobiliar und die Farbeimer.

»Ja, das machen wir«, antwortete Frieda, froh darüber, dass er etwas Alltägliches ansprach. »Mama findet, dass das Geschäft dann freundlicher aussieht. Schließlich verkaufen wir ja Eis.«

»Das ist eine gute Idee«, erwiderte er. »Wenn ihr wollt, gehe ich euch gerne zur Hand.«

»Das ist lieb von dir«, antwortete Frieda und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Zitterte etwa ihre Stimme? »Aber du hast bei Dallmayr bestimmt viel zu tun. Wir kommen schon zurecht. Walter und Lotte wollen später auch noch helfen.« Sie deutete zur Werkstatt.

»Ich habe bei Dallmayr gekündigt«, antwortete er. »Mir ist rasch klar geworden, dass eine Bürotätigkeit nicht das Richtige für mich ist. Außerdem ist der Abteilungsleiter ein Choleriker. Unter einer solchen Person möchte ich nicht arbeiten. Papa mag damals zu unseren Mitarbeitern streng gewesen sein, aber er war stets gerecht. So einen herrischen Zeitgenossen wie diesen hätte er niemals geduldet.«

»Oh, ich … verstehe«, antwortete Frieda. »Und was nun?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt noch nicht so recht«, antwortete er. »Aber ich habe gehört, dass es da eine Unternehmung gibt, die den Verkauf einer absoluten Neuheit plant.« Er trat noch näher an sie heran und legte die Hände auf ihre Schultern. Frieda ließ ihn gewähren. Seine Nähe jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sogleich hatte sie den vertrauten Duft seines Rasierwassers in der Nase. All ihre Zweifel der letzten Tage lösten sich in diesem Moment in Luft aus. Sie dachte an die Worte ihrer Mama: Dein Vater war ein ehrlicher Mann. Sie liebte Erich, er war der perfekte Mann für sie, er würde sie glücklich machen.

»Davon hast du also gehört«, antwortete sie und grinste schelmisch.

»Ja, das habe ich«, antwortete er. »Und ich dachte mir, vielleicht könnte diese Unternehmung etwas professionelle Unterstützung gebrauchen.« Seine Arme umschlossen sie nun, und seine Lippen waren jetzt ganz nah bei den ihren.

»Das könnte sie bestimmt«, antwortete Frieda noch, dann berührten seine Lippen die ihren, und seine Umarmung wurde fester. Frieda glaubte, vor Glück zu zerspringen. Es war eine Bemerkung aus dem Hintergrund, die den romantischen Moment jäh störte.

»Hab ich’s ned gsagt!«, hörte sie die wohlbekannte Tratschstimme der Lechnerin. »Sodom und Gomorra is des. Aber mir will ja keiner glaum.«