39. Kapitel

16 . Juni 1930

Frieda saß auf dem Fliesenboden der Küche neben der Spüle und lehnte den Kopf an die Wand. Ihre Wangen waren erhitzt, und ihr Haar klebte an ihrer Stirn.

»Geht es wieder?«, fragte Lotte mit besorgter Miene. Sie stand in ihrem Arbeitskleid neben ihr, auf ihrer Schürze befand sich eine Mischung aus Mehl und Schokoladenflecken. Hinter ihr auf der Arbeitsplatte stand ein dreistöckiges Machwerk aus Biskuit und Marzipan, verziert mit Rosen und Schokoladenschnörkeln. Obenauf saß bereits das Brautpaar. Ob die Braut von dem süßen Machwerk jedoch tatsächlich kosten würde, stand im Moment in den Sternen.

»Ich weiß nicht recht«, antwortete Frieda. »Oh, dieser Magen. Das macht er neuerdings ständig mit mir. Vielleicht hab ich mir einen ganz fürchterlichen Infekt eingefangen. Und das ausgerechnet heute!« Tränen stiegen in ihre Augen. Lotte wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Sie beschloss, sich neben Frieda auf den Boden zu setzen. Früher hatten sie das auch immer getan. Ging es einer von ihnen schlecht, suchte die andere ihre Nähe. Obwohl auf dem Küchenboden sitzen heute zum ersten Mal vorkam. Normalerweise kuschelten sie eher unter der Bettdecke. Aber heute war kein normaler Tag, sondern Friedas Hochzeitstag, also spendete sie eben auf dem Küchenboden Trost. Den konnte Frieda auch gut gebrauchen. Für elf Uhr war die standesamtliche Trauung im Rathaus angesetzt. Das hieß, dass sie noch genau fünf Stunden Zeit hatte, um die lästige Übelkeit wieder loszuwerden.

So saßen sie eine ganze Weile nebeneinander und keine von beiden sagte ein Wort. Lotte empfand es als ein gutes Zeichen, dass Frieda ruhig blieb. Sie hatte sogar die Augen geschlossen, ihre Atmung war ruhiger geworden. Vielleicht hatten sie ja Glück, und es würde flott wieder besser gehen. Magen-Darm-Infekte hatten ja meist die Angewohnheit, ebenso schnell wieder zu verschwinden, wie sie gekommen waren. Es könnte aber auch die Aufregung sein, die Frieda auf den Magen geschlagen hatte. Frau heiratete schließlich nicht jeden Tag.

»Hörst du das?«, fragte Frieda irgendwann mit einer rau klingenden Stimme.

Lotte wusste, was Frieda meinte. Es war das gleichmäßige Tropfen von der Dachrinne.

»Ja«, antwortete Lotte. »Es regnet noch immer.«

Frieda stieß einen Seufzer aus. »Das auch noch. Was ist das nur für ein dummer Hochzeitstag! So habe ich mir das nicht vorgestellt.«

»Obwohl es doch angeblich Glück bringen soll, wenn die Braut nass wird«, antwortete Lotte. In Gedanken fügte sie hinzu, dass Frieda froh darüber sein konnte, dass sie heute in den Hafen der Ehe einfahren durfte. Sie und Walter würden noch eine ganze Weile warten müssen, bis das geschah. Noch am selben Abend, an dem Walter ihre Verlobung verkündet hatte, hatte Erna ein ernstes Gespräch mit ihnen geführt. Sie erkannte an, dass Walter ernste Absichten hatte, doch in ihren Augen waren sie für die Verkündigung einer offiziellen Verlobung zu jung. Sie dürften erst heiraten, wenn Lotte volljährig war. Lotte war wütend gewesen, doch Walter hatte Verständnis gezeigt. So würde Lotte noch geschlagene vier Jahre auf ihren großen Tag warten müssen. Von der flotten Verlobung waren auch Walters Eltern nicht begeistert gewesen, hatten sie ihre Schwiegertochter in spe bis zur Verkündung der Verlobung noch gar nicht kennengelernt. Das hatte sich inzwischen glücklicherweise geändert – der Name Pankofer war den Kraus’ durchaus auch vorher schon ein Begriff gewesen, was für Wohlwollen sorgte. Trotzdem war die Stimmung bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, Walters Eltern haten zum Essen geladen, eher unterkühlt gewesen. Die Zeit würde hoffentlich dafür sorgen, dass sich dieses Verhältnis verbesserte. In anderer Hinsicht hatte Walter es an diesem Abend immerhin geschafft, seinen Vater versöhnlich zu stimmen: Er hatte ihm mitgeteilt, Wirtschaftswissenschaften studieren zu wollen. Da war der alte Kraus aufgeblüht, denn er hegte noch immer die Hoffnung, dass sein Sohn eines Tages seinen Betrieb übernehmen würde.

Frieda gab eine grummelige Antwort. »Ich hab es mir eben so schön ausgemalt«, sagte sie. »Und was, wenn es morgen immer noch regnet? Dann können wir die kirchliche Trauung im Garten am Ammersee doch vergessen. Es sollten die perfekten Tage werden, und jetzt geht alles den Bach runter.« Tränen schimmerten in ihren Augen, und sie schniefte.

Lotte fühlte sich hilflos und wusste nicht so recht, was sie jetzt sagen sollte. Wäre es ihre Hochzeit, wäre ihr jetzt vermutlich ebenfalls zum Heulen zumute. Die Idee, die kirchliche Trauung außerhalb der Stadt auf dem Seegrundstück stattfinden zu lassen, hatte Erich gehabt. Er kannte auch den ortsansässigen Pfarrer, der sogleich zugesagt hatte. In den letzten Tagen hatten sie gemeinsam alles organisiert. Die für heute geplante standesamtliche Trauung sollte nur im kleinen Kreis stattfinden, doch am See sollten dann sechzig geladene Gäste dabei sein. Es könnte ein perfekter, unvergesslicher Hochzeitstraum werden – wenn das Wetter mitspielte. Eine Trauung im Freien im Schnürlregen wollte niemand gerne haben.

»Mei, was machts denn ihr zwei um die Zeit scho hier unten? Und warum sitzts ihr aufm Boden?«, war es Fanny, die Lotte aus ihren Gedanken riss und aufblicken ließ.

»Da schau her, die Torte is ja scho fertig!«, fügte sie hinzu und betrachtete das auf der Arbeitsplatte stehende Backwerk mit staunenden Augen. »Die ist aber schee gworden! An dir is a Konditormeisterin verloren gangen, Kind.«

Im nächsten Moment begann Frieda erneut zu würgen. Sie sprang auf und beugte sich über das Spülbecken. Fannys Augen weiteten sich. Lotte erhob sich ebenfalls und betrachtete mitleidig das Geschehen. Friedas Übelkeitsattacke war zum Glück nur kurz, und heraus kam auch nichts mehr.

»Und ich dachte, es würde jetzt aufhören«, brachte sie heraus, und Tränen tropften in die Spüle. »So kann ich doch unmöglich heiraten. Verdammte Übelkeit aber auch! Wieso geht die nicht endlich weg? Seit über einer Woche geht das jetzt schon so.«

Fanny wurde hellhörig. Mit seltsamen Übelkeitsattacken bei jungen Mädchen kannte sie sich aus.

»Des geht also schon länger«, hakte sie nach. »Wann genau is es denn am schlimmsten? Morgens, oder geht des den ganzen Tag?«

Lotte sah Fanny irritiert an. Was waren das denn für seltsame Fragen?

»Morgens ist es am schlimmsten«, antwortete Frieda.

Fanny nickte mit einem wissenden Gesichtsausdruck, dann stellte sie eine etwas indiskrete Frage, die aber sein musste.

»Wann hast du denn des letzte Mal Besuch ghabt?«

Verdutzt sahen sowohl Frieda als auch Lotte Fanny an. Mit einer solchen Frage hatten sie nicht gerechnet.

»Ich weiß nicht recht«, antwortete Frieda ehrlich. »Ich hab da gar nicht drauf geachtet. Es könnt schon ein Weilchen her sein. Aber was hat das denn mit meiner Übelkeit zu tun?«

Fanny trat lächelnd näher.

»Ach, Madl«, sagte sie und tätschelte Frieda den Arm. »A ganze Menge. Wenn ich mich ned irre, und des hab ich mich in an solchem Fall noch nie, dann erwartest du a Kind. Da is es doch gut, dass heute gheirat wird.« Sie zwinkerte Frieda zu.

»Ein Kind …?«, wiederholte Frieda und sah zu Lotte, die ebenfalls verdattert dreinblickte.

Erna betrat nun die Küche. Sie streckte sich gähnend und blickte in die Runde. Die betretene Stimmung schien ihr nicht aufzufallen.

»Guten Morgen, alle zusammen. Ihr seid ja alle schon munter. Habt ihr schon gesehen: Die Regenwolken haben sich verzogen. Das wird bestimmt ein schöner Tag.«

»Mei, wie schön«, sagte Fanny freudig. »Und die depperte Übelkeit bessert sich gwies auch glei wieder. So ist des halt bei Schwangerschaften. Aber was red ich. Des weißt du ja selber, Erna.«

»Schwangerschaften?«, wiederholte Erna und sah sofort zu Frieda, die den Kopf einzog. Verdammte Fanny! Frieda hätte es ihrer Mutter lieber persönlich gesagt.

»Guter Gott, wie blind ich gewesen bin«, sagte Erna und trat neben Frieda. »Vor lauter Steckerl-Eis und Hochzeitsplanung hab ich es nicht bemerkt, derweil hätt ich als Mutter es doch sehen müssen. Ach, Liebes, was für eine Freude. Ein Kindchen, was für ein Glück!«

Sie umarmte Frieda und drückte sie fest an sich. Ihr nächster Satz sorgte dafür, dass die Stimmung im Raum wehmütig würde: »Dein Vater hätte sich so sehr gefreut.«

»Das ist doch verrückt«, sagte Frieda am späten Nachmittag desselben Tages und schüttelte lächeln den Kopf.

»Wieso?«, fragte Erich, der sich gerade damit beschäftigte, die karierte Picknickdecke auf dem Rasen auszubreiten. »Ich finde, es ist eine großartige Idee. Bei diesem schönen Wetter wäre es geradezu frevelhaft, im Haus zu bleiben.«

»Aber es ist unser Hochzeitstag«, sagte Frieda. »Da picknickt man doch nicht im Englischen Garten.« Sie trug noch immer das cremefarbene Kostüm, das sie für die standesamtliche Trauung im Hirschvogel erworben hatte und das mit seiner tailliert geschnittenen Jacke ihre schmale Figur betonte – die allerdings bald nicht mehr so schmal sein würde. Verstohlen lächelnd hatte Frieda mehrfach am Tag die Hand auf ihren Bauch gelegt. Erich wollte sie von der Schwangerschaft jedoch erst erzählen, wenn sie von einem Arzt offiziell bestätigt worden war. Fanny, Lotte und ihre Mutter hatte sie gebeten, so lange Stillschweigen darüber zu bewahren, und sie hatten es fest versprochen.

»Den wir doch perfekt feiern«, antwortete Fanny, die ein altmodisches weinrotes Kleid mit weißen Streublümchen darauf trug, das bis zu ihren Knöcheln reichte. »Mir trinken Kaffee, wie es sich ghört. Halt bloß ned im Kaffeehaus oder an irgendam Tisch, sondern im Englischen Garten auf der Wiesn. Des ist doch sowieso viel schöner. Und wenn ihr zwei Frischvermählten wollts, könnts nachher noch a Runde Ruderboot fahren. So wie des anständige Verliebte machen.« Sie deutete zu dem unweit von ihrem Lagerplatz entfernten Bootsverleih, an dem reger Betrieb herrschte.

»Also ich finde die Idee klasse«, sagte Walter und stellte einen gut gefüllten Picknickkorb neben die Decke. Er hatte das Jackett seines Anzugs abgelegt, ebenso die Krawatte, und seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt. »Oft sind Hochzeitsfeiern eher spießig, diese hier ist viel entspannter.«

»Mir gfällts sowieso immer in unserm Englischen Garten«, meinte Ludwig. Er trug einen altmodischen Anzug und eine rote Fliege, die etwas schief stand. »Bloß mit dem aufm Boden hocken hab ich es ned so. Da komm ich am End nimma hoch. Aber dafür hab ich Abhilfe gschaffen.« Er öffnete einen Klapphocker und setzte sich fröhlich grinsend darauf.

»Also so einen Hocker könnte ich jetzt auch gut gebrauchen«, merkte Anneliese an, die als Einzige etwas angesäuert dreinblickte. Die Planänderung schmeckte ihr nicht sonderlich. Ihrer Meinung nach verbrachten anständige Leute ihren Hochzeitstag nicht auf einer Decke im Park. Sie fügte sich jedoch in ihr Schicksal. Es galt zu hoffen, dass die kirchliche Trauung am See in gesitteteren Bahnen ablaufen würde.

Die Picknickidee war Erich spontan gekommen. Eigentlich war geplant gewesen, nach dem Mittagessen im Hofbräuhaus, wo sie einen Tisch im etwas feineren und ruhigeren Restaurationsbereich im ersten Stock reserviert hatten, noch ins Café Luitpold zu gehen. Dort war ihnen ein Platz im Innenbereich zugewiesen worden, was ihnen so gar nicht schmeckte. Draußen herrschte schönster Sonnenschein, was einem Wunder gleichkam, wie Ludwig mehrfach betont hatte, und sie mussten drinbleiben. Nachdem Erich seinen Picknick-Vorschlag gemacht hatte, waren alle aufgestanden und hatten unter dem missbilligenden Blick des Oberkellners das Etablissement verlassen.

Erich hatte sein Jackett ebenfalls abgelegt, auch seine hübsch bestickte Weste lag jetzt im Gras, und seine Hemdsärmel waren ebenfalls aufgekrempelt. Von seiner Verwandtschaft hatte der Trauung im Standesamt bedauerlicherweise niemand beiwohnen können. Sein Onkel hatte in Hamburg noch einen wichtigen geschäftlichen Termin gehabt und würde München erst am späten Abend erreichen.

Erna verteilte fröhlich Teller auf der Picknickdecke. Es gab von Lotte gebackenen Streuselkuchen vom Vortag und Obsttörtchen, die sie beim Bäcker geholt hatten. Die Hochzeitstorte befand sich inzwischen bereits auf dem Weg zum Ammersee. Hoffentlich würde der von ihnen engagierte Fahrdienst auch gut auf das süße Machwerk achtgeben. Erna holte Kaffeebecher aus dem Korb, sogar an Sektkelche hatte Fanny gedacht. Und an noch etwas, was Erna in der Kühltasche entdeckte und was ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte: Steckerl-Eis. Fein säuberlich hatte sie sie in eine kleine Metalldose geschichtet und diese auf einen Kühlpack gelegt.

»Seht nur, was unsere Fanny eingepackt hat!«, sagte sie und hielt eines in die Höhe.

»Oh, wie schön«, rief Lotte, die in ihrem fliederfarbenen Backfischkleid entzückend aussah. »Auf ein Eis hab ich jetzt richtig Appetit.«

Erna verteilt die Köstlichkeiten, und plötzlich empfand sie ein ganz besonderes und warmes Gefühl in ihrem Inneren, das ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Josef kam ihr in den Sinn, und der Gedanke an ihn stimmte sie in diesem Moment seltsamerweise nicht traurig. Sie wusste, dass er, wo auch immer er jetzt war, stolz auf sie sein würde. Sein JOPA -Eis eroberte die Stadt und vielleicht bald ganz Deutschland. Sie lebten seinen Traum vom Eis.