Restaurant Le Relais 8. Arrondissement, Paris

Mit dem Rücken zur Wand. Das war die einzige Bedingung. So sagte er es zumindest immer scherzhaft. Dabei ließ er durchblicken, dass es die einzige Bedingung war, die er offen zugab.

Er wollte immer mit dem Rücken zur Wand sitzen, an einem Tisch, der so in einer Ecke platziert war, dass er das ganze Lokal überblicken konnte. Alle anderen Stühle sollten von seinem Tisch entfernt werden.

So war es auch heute geschehen, und zwar ganz ohne dass er sich dazu hätte äußern müssen. Er hatte den Tisch wie üblich unter einem anderen Namen reserviert, so war es gang und gäbe, aber als er dann mit dem Taxi vorfuhr, erkannte ihn der Voiturier natürlich sofort, und die ganze Maschinerie schnurrte los: Der Voiturier informierte den Concierge, der dann wiederum dem Restaurantleiter etwas zurief, und schon begann das große Möbelrücken. Als er kurz darauf eintrat, war bereits alles wieder ganz ruhig und gediegen. »Bonsoir, Monsieur« , hieß es dann, »Bonsoir , welch eine Freude«, und er wurde zu seinem Tisch geführt, hinten in der Ecke, Blick in den Raum, ein Stuhl und ein Gedeck an einem großen runden Tisch. Er kam immer etwas zu spät, damit das jeweilige Restaurant schon gut besetzt war und er, natürlich ohne sich etwas anmerken zu lassen, zusehen konnte, wie auf den anderen Plätzen getuschelt wurde, eine Frau zeigte sogar auf ihn, weil ihr Mann nichts von dem ganzen Aufriss mitbekommen hatte.

Nein, Ugo Gennevilliers war kein Restaurantkritiker, der Blindverkostungen durchführte. Dafür war er viel zu bekannt. Er wusste das – und er konnte nicht verhehlen, dass er es auch schätzte.

Seine Prominenz entsprang einer anderen, lang zurückliegenden Zeit. Als die Menschen noch nicht begonnen hatten, ihr Essen für eine dieser horriblen Internetseiten zu fotografieren, mit ihrem Mobiltelefon, und zwar direkt von oben herab auf den Teller – herrje, wie er das hasste. Wenn er seine Tochter einmal dabei erwischte, würde er sie enterben.

Nein: Damals, vor vierzig Jahren, als sich der Ruf von Ugo Gennevilliers begründete, da gab es nur eine Tageszeitung in Frankreich, die einmal in der Woche ein Restaurant bewertete – und es gab seine Zeitschrift, die einmal im Jahr die Sterne vergab, um die sich jeder Koch riss. Sein Wort hatte den Status eines Gottesurteils, zumindest für die Chefs und für die Gourmets. Es gab noch nicht unzählige Blogs und Nachahmer, es gab nur ihn und seine Kollegen.

Und es erfüllte Ugo mit Stolz, dass sich der Wert seiner Sterne zumindest für die Köche noch nicht verändert hatte.

»Monsieur«, der Chef de Service war unbemerkt an den Tisch getreten – lauernd wie ein Panther, dabei aber so souverän –, kein normaler Gast hätte seine Anspannung bemerkt, Ugo aber sah, wie es in den Augen des livrierten Mannes flackerte, »haben Sie Ihre Auswahl schon treffen können?«

Ugo Gennevilliers ließ die Karte sinken, die er ohnehin nicht beachtet hatte, dann sah er den Mann direkt an. »Ich würde die zwölf Gänge nach der Empfehlung des Chefs nehmen«, sagte er so deutlich, dass es an den Nebentischen gut hörbar sein würde – zwölf Gänge, Wahnsinn! Selbst wer es sich leisten konnte, hier zu essen, blieb bei höchstens acht Gängen, weil alles andere den finanziellen Rahmen sprengte. »Und was den Wein angeht …«

»Was den Wein betrifft, wissen wir natürlich Bescheid. Ich lasse alles sofort vorbereiten, lehnen Sie sich zurück und genießen Sie den Abend im Le Relais, Monsieur.«

Der Mann war die perfekte Besetzung, er erwähnte seinen Namen nicht, er war über alles informiert – herrlich! Ugo lehnte sich in seinem weichen Stuhl zurück, Gott sei Dank hatte sich die Mode der unbequemen Designerholzstühle nicht in jedem Sternerestaurant durchgesetzt, jene mit diesen Foltermöbeln überließ er seinen jüngeren Kollegen. Wenn er den Kopf ein wenig einzog, dann konnte er dort über den Dächern der Rue de Grenelle den Eiffelturm blinken sehen. Einundzwanzig Uhr. Auch wenn die Pariser diese Lichtshow verabscheuten, er sah sie als ein Zeichen: Das hier war schließlich immer noch die glänzende Stadt, die Gastronomiehauptstadt der ganzen Welt.

»So, Monsieur, hier ist er, der 1995 er Château Lacour. Ich habe mir erlaubt, ihn eben schon zu öffnen. Darf ich?«

Ugo nickte, und der Chef de Service nahm sein Glas, um den alten Rotwein aus dem Médoc sanft die Wand des Glases hinablaufen zu lassen. Ein tiefes Rot mit einem leicht öligen Schimmer – so liebte Gennevilliers seine Weinbegleitung. Er hielt sich das Glas an die Nase und nahm einen tiefen Zug, die Früchte des Waldes lagen in diesem Tropfen, Brombeere, Johannisbeere, dazu eine Note von Sandelholz. Die Fässer von Lacour waren Legenden. Er sah, wie die Frau am Nachbartisch den Sommelier zu sich rief. Er musste lächeln, das geschah immer: Sie wollten stets den Wein bestellen, den auch er trank. Aber leider …

Eine junge Frau näherte sich von der anderen Seite. »Wir beginnen mit einem Gruß des Küchenchefs: ein konfiertes Wachtelei mit gegrilltem Salat und Oscietra-Kaviar. Bon appétit, Monsieur. «

Er nickte und griff nach der kleinen Gabel, pikte mit einer Spitze in das Eigelb, das sich sofort cremig in die Schüssel ergoss und sich um den Kaviar legte. Er tauchte in die warme Creme und kostete davon, dann probierte er die einzelnen Elemente, immer wieder schloss er dabei die Augen und tat das alles ganz langsam, es war ein Ritual, von dem er wusste, dass die anderen Gäste es sehen wollten.

Schließlich legte er die Gabel wieder zur Seite.

Er holte sein kleines rotes Notizbuch aus der Tasche, drehte die Kappe seines Füllfederhalters ab und schrieb auf die erste freie Seite: Eigelb/Kaviar, keine kreative Leistung, Ei ein paar Sekunden zu lang konfiert, trocken, 2 / 10 .

Zufrieden blickte er in das Büchlein, dann auf seinen leeren Teller und schließlich noch einmal auf den Eiffelturm, der jetzt wieder golden erstrahlte.

Zwölf Gänge. Der Reigen konnte beginnen.