»Mon cher« , er hörte ihn schon von weitem, »mon cher, ça va? So schön, dich zu sehen.« Alle Gäste im Restaurant folgten mit den Augen dem Mann mit der gewaltigen weißen Kochmütze auf dem Kopf und der Schärpe in bleu-blanc-rouge. Die französischen Nationalfarben am Kragen – das bedeutete, dass dieser Koch einmal zum Meilleur Ouvrier de France gewählt worden war, zum besten Koch Frankreichs. Und nun blieb eben dieser Koch vor ihm stehen. Ugo stand auf und umarmte ihn, lang und innig.
»Na, du alter Gauner? Lässt du dich immer noch auf Rechnung ehrbarer Leute verköstigen?«
»So lange deine Gäste noch meine Zeitung lesen …«
»Nun sieh uns an«, flüsterte Auguste Fontaine, »wie sehr wir in die Jahre gekommen sind. Ist das nicht wunderbar – und zugleich eine Katastrophe?«
»Du sagst es. Ich kann abends nur noch eine Flasche Lacour trinken, wenn ich es auf eine zweite ankommen lasse, muss ich bis zum Mittag schlafen.«
»Du Armer.«
»Wie geht es dir, Auguste?«
»Gut. Was soll ich sagen? Sehr gut. Ich dachte, ich erhole mich nicht mehr, nach Sylvies Tod. Aber die Tage haben wieder eine Form.«
»Und dennoch willst du abtreten, und zwar mit meinen drei Sternen.«
Auguste Fontaine nickte, aber er zwinkerte dem Kritiker dabei zu.
»Das ist es, was die Leute sagen.«
»Ach komm, Florentine hat schon so was angedeutet. Raus mit der Sprache.«
»Du sollst nicht mit Florentine flirten, damit sie dir die Geheimnisse verrät, du Gauner.«
»Auguste …«
»Ich habe gesagt, dass ich aussteige«, flüsterte der Koch, wohl wissend, dass immer noch alle Augen auf ihnen ruhten. »Aber das muss ja nicht heißen, dass es hier nicht weitergeht.«
»Sag nicht, dass du die Villa verkaufst.« Unvorstellbar, die Häuser am Meer waren unbezahlbar.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Was ist dann dein Plan?« Ugo war außer Rand und Band.
»Wenn es spruchreif ist, bist du der Erste, versprochen. Aber nun genieß erst mal, was ich dir vorsetze. Ich kann dir sagen, einen besseren Steinbutt habe ich seit Monaten nicht mehr gesehen. Du weißt eben, wann du vorbeikommen musst. Bis nachher, mon cher. «
Und damit verschwand er. Ugo sah ihm lächelnd nach. Dann öffnete er sein Buch und blickte auf die beiden leeren kleinen Teller vor sich, bevor er schrieb:
Amuse-Gueule: halber Markknochen mit gedämpftem Pulpo und Wildkräutern aus eigenem Garten: zart, würzig, schmelzend 10 /10
Amuse-Gueule: Millefeuille von Pyrenäen-Lachsforelle, perfekt 11 /10
Er klappte das Notizbuch zu, auch diese Bewertung würde er niemandem zeigen. Elf von zehn Punkten, ein kleiner Scherz nur für ihn selbst. Aber er musste zugeben, selbst überrascht gewesen zu sein von der Zartheit des Süßwasserfischs, der sicher nicht aus einer Aquakultur stammte.
Der Lautstärkepegel im Restaurant hatte sich in den letzten Minuten verdoppelt, alle Tische waren nun besetzt, und er sah glänzende Augen, die sich über Vorspeisen beugten; die Gläser klirrten, es wurde geredet, der Stress des Tages fiel von allen ab. Egal wie viele Sterne das Restaurant hatte, egal wie teuer das Menü war: Die Entspannung und die Freude über diesen Ort waren mit Händen zu greifen – der schlichte Vorgang des Essengehens wurde in Frankreich gefeiert, zelebriert, und es war der pure Genuss, dabei zuzusehen.
»Monsieur«, ein junger Kellner war an seinen Tisch getreten, »ich darf Ihnen den ersten Gang präsentieren: die Foie gras von Guillaume Fontaine, lauwarm serviert, dazu unser Apfelchutney mit Piment d’Espelette und das selbst gebackene Brot von Maître Auguste. Bon appétit. «
»Vielen Dank«, erwiderte Ugo, nahm noch einen Schluck Wein und widmete sich dann seinem Teller. Er begann immer, indem er jede einzelne Komponente auf dem Teller probierte: Also nahm er erst mal ein Stück von der Entenstopfleber. Er schloss kurz die Augen und spürte die Zartheit und den Schmelz. Dann testete er einmal das tiefrote Chutney, ohne dabei auch vom Fleur de Sel zu nehmen, damit er nicht gleich einen versalzenen Mund hatte. Und schließlich achtete er darauf, alle Komponenten zusammen zu probieren, den sogenannten Akkord herzustellen: Er nahm alles zusammen auf die Gabel. Und schloss wieder die Augen, weil das Ergebnis so fein und gut war, dass selbst er, der legendäre Kritiker, von der Einfachheit, aber Qualität dieses Tellers hingerissen war: Die Foie gras war hauchzart, nicht die Spur dieser quietschigen Konsistenz, die sie in weniger guten Restaurants hatte. Ihr Geschmack war ganz unverstellt und voller Fülle – das Salz störte nicht einmal, es machte alles nur noch besser, genau wie der Apfelgeschmack mit dieser bitterscharfen Note der baskischen Paprika. Es war ein Wunder.
Er wollte gerade noch ein Stück der Foie gras nehmen, da hörte er Schritte von der Seite. Es waren die hohen Absätze von Florentine, keine Ahnung, wie sie das schaffte, den ganzen Abend in diesen Schuhen.
»Excusez-moi, Monsieur Gennevilliers« , ihr Ausdruck war auf einmal ganz anders, und wenn er sie nicht schon länger gekannt hätte, wäre ihm das Lächeln aufgesetzt vorgekommen, aber nein, sie war alarmiert. Sie hatte Angst. »Haben Sie schon gegessen?« Sie sah auf seinen Teller, bemerkte das fehlende Stück.
»Ist alles in Ordnung?«
»Selbstverständlich, Monsieur. Ich denke nur, die Küche hat hier einen bedauerlichen Fehler gemacht. Aber keine Sorge, Sie kriegen sofort eine andere Vorspeise. Verzeihen Sie.« Sie griff seinen Teller, bevor er etwas erwidern konnte, und er sah sie davonstürzen. Er glaubte ihr kein Wort. Betreten und nachdenklich griff er zu seinem Wein.
Er dachte gerade darüber nach, warum der Porsche im fünften Gang immer so ein kleines Gasloch hatte und ob er über die verschwundene Foie gras schreiben sollte, sicher würde es die Leser interessieren, da spürte er auf einmal einen Druck auf den Ohren. Er griff an sein linkes Ohr, vorsichtig, damit es niemand bemerkte, er hörte irgendwie die Musik nicht mehr richtig. Dafür war das Licht im Saal auf einmal viel heller, er musste die Augen zusammenkneifen, es wirkte grün und gelb, wie von einem verrückten Maler erdacht. Und dann wurde ihm übel. Nicht flau im Magen, wirklich übel. Ihm wurde nie übel, er hatte einen Kuhmagen, wie sein Vater. Und dann … Dann merkte er, wie die ganze Welt nach links wegrutschte. Oder war es rechts? Über diesen Gedanken verlor er den Halt und sah auf einmal nur noch die indirekte Deckenbeleuchtung genau über sich, eine Sekunde, vielleicht zwei, bevor alles dunkel wurde.