Kapitel 4

Das Telefon hatte in den vergangenen Monaten so selten geklingelt, dass er richtig erschrak, als in einer Ecke der Holzhütte der sonore Ton erklang. Luc musste wirklich überlegen, wo er das Handy hingelegt hatte, bis er es endlich aus einem Wäschehaufen ausgrub. Gerade noch rechtzeitig nahm er ab.

»Hey, sorry, ich störe dich absolut ungern. Ich weiß, Luc, du bist noch gar nicht wieder richtig an Bord, aber … kannst du kommen? Wir haben ein ernstes Problem.«

Der Commissaire lauschte Hugos aufgeregter Stimme, während Anouk mit Aurélie auf dem Arm durch die Cabane lief, um sie nach dem Baden fürs Bett fertig zu machen. Sie sah interessiert zu ihm herüber.

»Was ist denn los, mon cher

»Dieser Restaurantkritiker, dieser berühmte, du weißt schon …«

»Ugo Gennevilliers?«, fragte Luc wie aus der Pistole geschossen – jeder Franzose über vierzig, der in seinem Leben schon einmal ein Restaurant besucht hatte, kannte den Namen, der Mann war eine Legende.

»Genau der. Er ist zusammengebrochen, und die Restaurantleiterin ist besorgt, dass es eine Vergiftung sein könnte – ich meine, eine mutwillige Vergiftung.«

»Herrgott, welches Restaurant?«

»Die Villa Auguste.«

»In den Landes?«

»Ganz genau. Saint-Girons-Plage. Du weißt ja, bei Kapitalverbrechen sind wir auch dort zuständig. Die Kollegen in Dax bearbeiten nur kleine Fälle.«

»Okay, ich mache mich auf den Weg.«

»Ich weiß, Luc, es ist Wochenende, und du bist noch in Elternzeit, aber …«

»Hugo, alles gut, ich fahre sofort los.«

»Warte, eine Sache noch. Es sieht sehr ernst aus. Der Hubschrauber bringt den Mann nach Bordeaux, hier haben wir wohl Spezialisten für so was. Danach können wir immer noch in den Süden fahren.«

»Gut, dann komme ich ins Universitätskrankenhaus. Ich treffe dich dort, einverstanden?«

»Luc, ernsthaft? Mir fällt ein Stein vom Herzen.«

»Bis gleich.«

»Grüß Anouk.«

»Liebe Grüße von Hugo«, sagte Luc, als er sich zu ihr umwandte, er spürte in sich plötzlich eine längst verschollen geglaubte Energie.

»Oh, deine Augen funkeln ja so«, sagte Anouk und beobachtete ihn aufmerksam, »wenn ich wetten dürfte, würde ich sagen: Du hast einen Fall.«

Der Commissaire nickte, aber in seinen Blick mischte sich eine Spur des Bedauerns. »Ja, ich weiß, es ist unser letztes freies Wochenende, aber … Es gibt einen vergifteten Restaurantkritiker, unten in den Landes und … Wenn es nicht geht, sage ich Hugo ab, dann muss sich die Brigade aus Bayonne darum …«

»Vergiss es, Luc, wir Mädels machen es uns hier gemütlich, und du tust, was du tun musst. Nun fahr schon. Weißt du, ob du unten übernachten musst?«

Luc sah auf die Uhr. »Alles andere würde mich wundern. Ich meld mich, ja?«

»Nein, ich werde mit Aurélie ins Bett gehen, ich bin fix und alle. Wir hören uns morgen. Und dir«, sie beugte sich zu ihm vor und gab ihm einen langen Kuss, »wünsche ich viel Glück. Die Verbrecher im Südwesten sollten sich warm anziehen. Verlain ist zurück.«

Er lächelte sie an. »Danke. Und du …«, er küsste Aurélie und genoss den Duft ihrer warmen Babyhaut, »schlaf gut und schenk Maman eine ruhige Nacht.«

Luc ging zu der hölzernen Kommode im hinteren Teil der Cabane und zog die Schublade auf, die er seit Monaten nicht mehr angefasst hatte. Er entnahm ihr den Ausweis der Police nationale und die orangefarbene Armbinde, die ihn als Beamten in Zivil auswies. Seine Dienstwaffe lagerte im Keller des Hôtel de Police, aber er ging nicht davon aus, dass er sie im Krankenhaus benötigen würde.

Ein letztes Winken, dann trat er hinaus in die Nacht. Die Kälte der Luft überraschte ihn. »Eisig«, murmelte er. Von November bis Februar war es sogar für die Aquitaine außergewöhnlich mild gewesen, sie hatten am Strand und im Seekiefernwald stundenlange Spaziergänge mit Aurélie im Tragetuch oder Kinderwagen unternommen und es sich zur Regel gemacht, sogar einmal am Tag auf der Terrasse vor der Cabane im Freien zu essen, die Wintersonne hatte sie von oben beschienen, es hatte so gut wie keine verregneten oder grauen Tage gegeben. Doch nun bot der Winter in seinen letzten Zügen noch einmal alles auf, seit einer Woche waren die Temperaturen auf knapp null Grad gesunken, morgens kratzte Anouk die Eissterne von der Fensterscheibe. Luc wusste, dass sein Freund Richard und die anderen Winzer im Médoc nun jeden Abend nervös auf die Barometer starrten, denn normalerweise war der März hierzulande mild, und die Reben begannen nun langsam auszutreiben und ihre ersten Knospen zu zeigen. Ein einziger Frost konnte die Triebe zerstören – und damit die mögliche Ernte eines ganzen Jahrgangs minimieren.

Luc stieg in seinen alten Jaguar XJ 6 , den er seit Wochen nicht mehr bewegt hatte. Der Motor sprang dennoch beim ersten Versuch an und schnurrte wie ein Kätzchen. Er lenkte den Wagen aus der Avenue des Dunes in die Avenue des Sables, vorbei an den hölzernen Buden, in denen im Hochsommer Crêpes verkauft wurden, Waffeln und Churros, diese fetttriefenden Schmalzteigstangen, die man nur guten Gewissens essen konnte, wenn man danach zwei Stunden auf seinem Surfbrett paddelte.

In diesen Monaten lag Carcans Plage im Winterschlaf. Die Urlauber aus der Schweiz, aus Holland, Deutschland und England waren daheim, genau wie die Sommerfrischler aus Paris. Nur die rund fünfzig Carcanaisen, die ganzjährig hier lebten, harrten in ihren Holzhäusern aus, fachten die Kaminfeuer an, trafen sich morgens im winzigen Supermarkt, der auch frisches Baguette backte, und genossen die Ruhe und Ursprünglichkeit des Ortes und die frische, salzige Luft, die der Ozean über die hohe Düne schickte, als Gruß an die Winterbewohner – eine verschworene Gemeinschaft, die Luc über alles liebte. Alle Carcanaisen hatten Anouk und Aurélie in ihr Herz geschlossen, sie beide gewissermaßen adoptiert – es hatte seit Jahren keinen Babynachwuchs mehr im Strandort gegeben.

Luc bog im kleinen Zentrum nach rechts ab, der große Zeltplatz lag zu seiner Linken, und dann nahm er die Anhöhe, hinaus aus dem Dorf und in den dunklen Wald, auf der schnurgeraden Straße, die ihn am Lac de Carcans, dem größten Süßwassersee Frankreichs, vorbei und dann in Richtung Bordeaux führte.

Anouk hatte recht: Er hatte die Zeit mit seiner kleinen Familie so sehr genossen wie keine andere Zeit in seinem Leben zuvor – und doch hatte er bei Hugos Anruf die Vorfreude auf das Adrenalin gespürt, das sein Leben als Polizist für ihn bereithielt. So trat er das Gaspedal noch ein wenig stärker durch, und in der nächsten halben Stunde kam ihm außer dem Postauto kein anderer Wagen entgegen.

Hinter Eysines bog er sofort auf die Rocade, die Ringstraße, die einmal um Bordeaux führte, und nahm die fast leere Autobahn bis in die westliche Vorstadt Mérignac. Von hier war es nur noch ein Katzensprung bis zum hoch aufragenden modernen Universitätskrankenhaus. Modern zumindest in jenem Teil, der als Neubau die Notaufnahme und die zentralen Einrichtungen beherbergte, die meisten Stationen aber waren in dem grässlichen Hochhaus aus den Sechzigern untergebracht, das seit Jahrzehnten kaputtgespart und nur noch notdürftig ausgebessert wurde. Auf dem Landeplatz, einem Rondell im Hof des Krankenhauses, stand ein roter Hubschrauber, dessen Lichter leuchteten, als wäre er eben erst gelandet.

Luc erblickte Hugo sofort, der Kollege stand im Eingangsbereich und sah den Commissaire erwartungsvoll an, während der den Oldtimer auf einen Kurzzeitparkplatz stellte.

»Fast so schnell aus Carcans wie ich aus dem Stadtzentrum«, rief Hugo ihm zu, als er näher kam, und dann umarmte ihn der Kriminalassistent kurz. »Ich freue mich sehr«, murmelte er.

»O ja, es ist wirklich eine Ewigkeit gewesen.«

»Und dann gleich so etwas …«

»Was genau ist denn passiert?«, fragte Luc.

»Gehen wir hinein, er ist vor einer halben Stunde per Heli angekommen, und nun behandeln sie ihn direkt in der Notaufnahme.«

»Aber er lebt?«

»Noch«, sagte Hugo betreten. »Die Ärzte wissen nicht, was es ist. Aber es sieht nicht gut aus.«

Sie nickten der Rezeptionistin zu und gingen den langen grell beleuchteten Gang entlang, der von Stühlen gesäumt war, auf denen bleiche Menschen saßen, die offenbar schon lange warteten. Irgendwann standen sie vor der gläsernen Tür mit der Aufschrift Urgence. Ein Pfleger ließ sie hinein.

»Docteur Richard kommt gleich, sie will unbedingt mit Ihnen sprechen«, sagte er, dann verschwand er schon hinter einer der Türen. »Dort drinnen«, sagte Hugo und wies auf ein Fenster. Um das Bett waren so viele Maschinen und Mediziner versammelt, dass die Person darin von hier draußen aus gar nicht zu sehen war. Hugo schlug sein Notizbuch auf.

»Der Anruf kam um kurz vor neun Uhr. Das Restaurant hat den Notruf gewählt und ist in der Leitstelle der Landes in Dax gelandet, von dort wurde Bordeaux angefunkt, und dann sind die Kollegen bei mir gelandet. Das war um einundzwanzig Uhr und drei Minuten. Der Patient heißt Ugo Gennevilliers, zweiundsiebzig Jahre alt, Journalist und Gastrokritiker beim Guide …«

Hugo stockte, weil sich die Tür öffnete und eine Ärztin aus dem Zimmer kam. Sie nahm die Haube ab, und ihre langen dunkelbraunen Haare fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht. Sie strich sie weg und blieb vor den beiden Polizisten stehen. Luc fiel es schwer einzuschätzen, wie alt sie war, er hatte sie noch nie hier gesehen.

»Bonjour , ich bin Docteur Sophie Richard. Ich leite jetzt die Abteilung der Intensivmedizin hier im Krankenhaus. Wir haben den Patienten aufgenommen.« Sie sprach vordergründig ganz ruhig, und doch sah Luc die professionelle Anspannung, die in ihren dunklen Augen blitzte, sie musste wieder hinein, sie wollte diesen Mann retten, aber dafür brauchte sie etwas.

»Commissaire Luc Verlain, das ist mein Assistent Hugo Pannetier, wir sind von der Brigade criminelle hier in Bordeaux.«

»Ich muss Ihnen sagen, dass Ihr Mann sehr krank ist, sein Herz spielt verrückt, wir müssen ihn irgendwie stabilisieren, wir versuchen gerade alles, Atropin, Naloxon, Magnesium, aber Sie müssen mir hier helfen. Die Sanitäter im Hubschrauber haben etwas von einer Vergiftung erzählt, aber ich wurde daraus nicht schlau. So kann ich kein Gegengift suchen – wenn es überhaupt eines gibt. Also, was wissen Sie?«

Luc sah Hugo an, der nun seinen Bericht vollenden konnte. Er blickte in seinen Notizblock, als er antwortete.

»Ich habe mit dem Restaurant telefoniert, die Servicechefin meinte, es gebe den Verdacht, dass etwas mit der Entenstopfleber nicht stimmte.«

»Die Foie gras?« Die Ärztin zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wie denn das? Ein Umweltgift? Das kann nicht sein – das führt alles nicht zu so einer schnellen und drastischen Reaktion des Körpers.«

»Nein, eher, dass jemand dort etwas manipuliert hat.«

»Eine vorsätzliche Vergiftung?« Sie schüttelte den Kopf. »Merde. Dann kann es alles sein. Hören Sie, ich brauche mehr Informationen. Sonst stirbt der Mann. Finden Sie etwas raus, und dann rufen Sie mich an. Hier«, sie reichte Hugo einen Zettel, »auf der Nummer werde ich sofort angepiept. Beeilen Sie sich.« Und dann war sie wieder verschwunden, und Luc sah sie auf der anderen Seite des Fensters ans Bett treten.

»Nun, dann fliegen wir wohl besser, hm?«

»Ich frage die Leitstelle, ob der Heli uns mitnimmt.«