Samedi – Samstag Eine Villa am Meer

Kapitel 5

Luc war beeindruckt von der Fähigkeit der beiden Piloten, denn als sie die Innenstadt von Bordeaux verlassen hatten, waren die Lichter fast vollständig unter ihnen verschwunden, da war nur eine glatte dunkle Fläche, selbst die Bäume waren nur noch sich vereinzelt abzeichnende Schemen, und doch wussten die Männer vor ihren grün leuchtenden Bildschirmen genau, was sie tun mussten. Luc saß neben Hugo, der Notarzt ihnen gegenüber, alle fünf Insassen trugen Headsets.

Der Hubschrauber beschrieb eine scharfe Linkskurve, und auf einmal teilte sich das Bild in drei verschiedene Schattierungen: Da war links das tiefe Schwarz des Waldes, dann folgte das helle Grau, der Sand des Strandes von Cap Ferret. Luc sah, wie die Sichel immer enger wurde, sie flogen nach Süden, die Halbinsel wurde von Meter zu Meter schmaler. Kurz erinnerte er sich an seinen letzten Fall, der ihn genau an die Spitze des Caps gebracht hatte, in einer katastrophalen Sturmflut in der Nacht von Aurélies Geburt. Die Auflösung des Falls war so tragisch wie folgenreich gewesen.

Und dann kam rechts neben dem Strand das helle Grau: das Wasser des Ozeans, immer wieder gekrönt von den weißen Flecken, die die Wellen waren und wie sauber gezogene Linien gen Osten flossen.

Nun überflogen sie die Inselspitze, das offene Meer rauschte heran, um die Kurve zu kriegen in das Bassin d’Arcachon, das größte Austernbecken des Landes. Und dann links, nun flogen sie genau darüber hinweg, die höchste Düne des Kontinents, die Düne von Pilat, hell wie eine Erscheinung aufragend, hatte der Sand bizarre Formen angenommen, wie eine gigantische Welle genau vor dem Wald, selbst jetzt in der Nacht schien die Düne zu strahlen. Luc musste unwillkürlich lächeln.

Darüber, dass ihn sein Weg hierher zurückgeführt hatte, in die Aquitaine, in dieses neue Leben, das glücklicher nicht hätte verlaufen können. Und nun gab es sogar noch einen Flug am Meer entlang, auch wenn der Anlass dafür wiederum kein glücklicher war.

»Hier an der Düne müssen wir langsamer machen wegen der Sandverwehungen, gleich geht’s wieder schneller«, versprach der Pilot übers Mikro. Gleich darauf schien er aber den Gashebel wieder durchzuschieben, der Hubschrauber beschleunigte, und sie flogen über den endlosen Strand hinweg, an den sich alle paar Kilometer einer der herrlichen Strandorte schmiegte, die nun genauso wie Carcans Plage, Lucs Heimat, in tiefem Winterschlaf lagen. Da waren Biscarrosse, Mimizan, Contis und schließlich genau unter ihnen die schmale Straße von Saint-Girons-Plage, die aufs Meer zuführte, von nur wenigen Häusern gesäumt, in denen sich Restaurants und Bars befanden, die aber erst im Frühjahr wieder ihren Betrieb aufnehmen würden. Dann kam der Hauptort Saint-Girons in den Blick.

Luc durchfuhr es, aber nicht in dieser unangenehmen Art, eher vorfreudig. Saint-Girons. Genau. Er hatte ganz vergessen, wer da jetzt wohnte. Er würde später wieder darüber nachdenken. Aber er sah in Hugos Gesicht, dass der den gleichen Gedanken hatte.

Und dann setzte der Pilot zur Landung an, und schon sahen sie die Lichter des Gebäudes, das dort oben mitten in den Dünen stand und in dem noch niemand ins Bett gegangen zu sein schien.

Anmutig sah diese Cabane aus, ein Strahlen auf der Anhöhe, und der Commissaire versuchte einen Blick in die Fenster zu erhaschen, was ihm allerdings nicht gelang, weil der Heli bei der Landung am Strand zu viel Sand aufwirbelte.

»Danke, Hauptmann!«, rief Luc. Der Pilot drehte sich um und reckte den Daumen hoch. »Raus mit Ihnen. Viel Glück bei den Ermittlungen.«

Luc öffnete die Tür und sprang zuerst hinaus, Hugo folgte ihm auf dem Fuße. Sie entfernten sich schnell vom Hubschrauber und duckten sich, als der mit großem Getöse wieder abhob. Schon in etwa fünfzig Metern Höhe beschrieb er eine Kurve über dem Meer und flog dann Richtung Landesinneres davon.

Der Lärm der Rotoren klang noch in Lucs Ohren nach, erst allmählich hörte er das Getöse der Wellen wieder, und dann spürte er auch die Kälte, die hier mitten am Strand herrschte. Sie nahmen den Weg, der mit hölzernen Bohlen ausgelegt war, natürlich für die Gäste, die zwischen den Gängen einen Spaziergang machen wollten, aber sicher auch für jene Gäste, die wie sie mit dem Hubschrauber hier ankamen, wenn auch aus anderen Gründen.

Es ging steil bergan, die Düne hinauf, dann kam ein niedriges Gartentor aus verwittertem Holz, das knarzte, als Luc es öffnete.

»Wow«, entfuhr es Hugo. »Ich bin nie hier gewesen. Ist wohl auch nicht ganz unsere Liga, hm?«

Der Bohlenweg führte sie in Richtung des hell erleuchteten Hauses, das ein weißes Schild mit einer geschwungenen Schrift als Villa Auguste auswies. Aus dem Schornstein quoll Rauch.

Leise öffnete Luc die Eingangstür, und die beiden Polizisten fanden sich im Gastraum wieder. Im Kamin prasselte ein Feuer, aber noch beeindruckender war die große Anzahl weiß und schwarz gewandeter Menschen, die sich im Zentrum des Raumes an ein paar zusammengeschobenen Tischen niedergelassen hatten. Manche starrten in die Luft, andere hatten die Gesichter in den Händen verborgen, der Commissaire sah Verzweiflung und Wut, aber es konnte auch Erschöpfung sein.

Gerade in dem Moment, in dem die Kellner und Köche sie bemerkten, nahm auch schon etwas anderes ihre Aufmerksamkeit in Anspruch: Die Schiebetür zur Küche öffnete sich, und ein Mann kam heraus, ein Koch wie aus dem Märchenbuch, groß und dick, das Gesicht rosig, und die Art, wie er seine weiße Kluft trug, die Trikolore am Kragen, sein forscher Gang – kurz, alles an ihm strahlte die stolze Würde aus, die erst Erfahrung und anhaltender Erfolg einem angedeihen ließen. Dieser Mann war zweifelsohne der Koch, der diesem Restaurant seinen Namen gab.

»Meine Herren, ich habe Sie ankommen sehen. Ich bin Auguste Fontaine. Es ist ein sehr unerfreulicher Anlass, dennoch heiße ich Sie hier willkommen.«

»Guten Abend, Monsieur«, sagte Luc und ergriff die ihm angebotene Hand. Der Mann war genauso groß wie Luc, wirkte aber deutlich größer, und allein sein Bauchumfang hielt die Polizisten auf Abstand. »Das ist Kriminalassistent Hugo Pannetier, ich bin Commissaire Luc Verlain. Wir sind von der Brigade criminelle in Bordeaux, und wir übernehmen die Ermittlungen in diesem Fall.«

»Ist es also wirklich ein Fall, wie ich es befürchtet hatte? Der arme Ugo.«

»Sie kennen ihn gut?«

»Ich kenne ihn so lange, wie ich koche. Es ist …«, er räusperte sich, »wie geht es ihm?«

»Wir hoffen, dass wir etwas für ihn tun können. Er ist im Hôpital de Bordeaux in guten Händen, aber ich fürchte, seine Aussichten hängen an unseren Ermittlungen.«

»Es ist …« Er hob die Hände in den Himmel, in einer Geste, die so dramatisch war, dass sie nur verstehen konnte, wer wusste, welche Stellung Chefköche in Frankreich hatten: den von Gottheiten. »… Es ist eine Tragödie, und ausgerechnet an diesem Abend.«

»Können Sie uns bitte genau schildern, was vorgefallen ist?«

»Natürlich, Commissaire. Kommen Sie.« Er ging voran und führte sie zu einem Tisch in der Ecke des Raumes. Einen Augenblick später stand schon ein junger Mann neben ihnen, der sich unbemerkt von seinem Platz erhoben hatte. Er sah die drei Männer fragend an.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Auguste Fontaine.

»Ehrlich gesagt: Ein Kaffee wäre gut. Es verspricht eine lange Nacht zu werden.«

Auguste nickte, und der junge Mann verschwand. Dann sprach der Chefkoch leise in seinen Jackenärmel. »Florentine?« Hugo und Luc sahen den alten Fontaine fragend an. Der nickte. »Wir sind hier alle über Funk miteinander verbunden. Anders können Sie in einer Sterneküche nicht kommunizieren.«

Gleich darauf stand eine junge Frau neben ihnen und reichte den Beamten freundlich die Hand.

»Das ist Florentine Silva. Sie ist meine Restaurantleiterin. Sie hat heute Abend Ugo betreut und hat ihn – nun ja – buchstäblich vom Stuhl fallen sehen.«

»Horrible , der Arme«, sagte sie, und ihr Blick sprach Bände, »ich sehe es noch vor mir, er wurde kreidebleich, und dann hat er so gewürgt, es war … Wissen Sie, ich kenne Ugo schon so lange, niemals hätte ich gedacht, dass ich mit ihm einmal so eine Tragödie erleben muss. Man …«, sie stockte, »man liest so viel über ihn, dass man denken könnte, er sei kein sympathischer Mann, aber ich kann Ihnen versichern, hier ist er immer tadellos.«

Luc und Hugo tauschten einen schnellen Blick.

»Was hatte Ugo Gennevilliers zu diesem Zeitpunkt schon alles gegessen?«, fragte Luc und nahm einen Schluck von dem starken und heißen Espresso, der ihn augenblicklich in einen Zustand äußerster Spannung versetzte. Die Restaurantleiterin musste nicht einmal einen Zettel konsultieren, die Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen.

»Als Amuse-Gueules haben wir heute den legendären Markknochen von Auguste serviert, mit lauwarmem Pulpo, danach die gedämpfte Lachsforelle im Blätterteig. Allerdings haben alle Tische den gleichen Gruß aus der Küche bekommen, und niemand anders hat diese Symptome gezeigt, deshalb glauben wir, dass es daran …«

Auguste Fontaine räusperte sich. Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Ich denke, wir müssen gar nicht lange herumdrucksen, Florentine. Wir wissen wohl schon, woher diese außerordentliche Katastrophe rührt – nun ist es an Ihnen herauszufinden, warum.«

Luc wollte nachfragen, aber der Sternekoch fuhr gleich darauf fort.

»Wir haben während des Service einen Anruf aus Grenade-sur-l’Adour bekommen, dort wohnt mein wunderbarer Sohn, Commissaire. Guillaume. Er ist Entenzüchter. Ich wusste es bisher nicht, er teilt seine Sorgen nicht gern mit mir, weil er meint, ich hätte auch so genug zu tun, aber es gab offenbar einen Anschlag auf seine Produkte, eine Erpressung oder was weiß ich – Guillaume ist außer sich, er versteht die Welt nicht mehr. Er hat uns zwei oder drei Minuten vor dem Zusammenbruch angerufen und gefragt, ob wir schon seine Foie gras serviert hätten – und ja, nun, offenbar hatte Monsieur Gennevilliers ausgerechnet eine Scheibe der Entenleber bekommen, die …« Er schüttelte wütend den Kopf. »Ich kann es alles nicht fassen, es ist ein Anschlag – ein Anschlag auf mein Erbe. Und wenn ich den in die Finger kriege, der hier meinen Ruf zerstören will, dann bringe ich ihn um.«

In wenigen Sekunden war aus dem distinguierten älteren Herrn ein bebender Koloss geworden, die Kochmütze zitterte auf seinem Kopf, und sein Gesicht war so rot, dass sich Luc ernsthaft zu sorgen begann. Auch am Tisch der Küchenbrigade wurden Köpfe in die Luft gereckt, doch niemand schien sich ernsthaft zu wundern – dies war der Ton, der in den großen Küchen der Welt bis heute gepflegt wurde.

»Das klingt allerdings wie ein ernstes Verbrechen«, sagte Luc. »Ist Ihr Sohn schon auf dem Weg hierher?«

»Er wollte es eigentlich sein. Allerdings ist seine Frau zusammengebrochen, als sie davon gehört hat, sie ist eine sehr nervöse Person. Er musste auf den Arzt warten, und wir haben verabredet, dass wir uns morgen treffen.«

»Ich verstehe. War denn Monsieur Gennevilliers der Einzige, der von der Foie gras gegessen hatte?«

»Nein, wir hatten bereits zwölf Teller geschickt«, sagte Florentine. »Sie müssen wissen: Die lauwarme Entenleber von Guillaume ist eine Spezialität des Hauses. Allerdings dachten wir …« Sie blickte zum Tisch. »Also, vielleicht ist es besser, wir würden mit dem Souschef sprechen, er verantwortet die wichtigen Vorspeisen hier im Haus.«

»Ja, wir sollten besser in die Küche gehen«, sagte auch Auguste Fontaine und erhob sich, Florentine tat es ihm nach, also standen auch Luc und Hugo auf – es schien, als wären es hier nicht die Polizisten, die den Ton angaben.

»Roland«, sagte der Chef, und sofort erhob sich in der Mitte des Raumes ein großer schlanker Mann. Sein Gesicht erinnerte an das eines Windhundes, da waren nur Wangenknochen, nichts, was man als Wangen hätte bezeichnen können, die hohe Stirn unter dem wilden grauen Haar lag in Falten. Zu fünft gingen sie auf die Schiebetür zu, die sich lautlos öffnete und hinter Hugo wieder schloss, und dann standen sie in dem riesigen Raum ohne Fenster – nein, Luc korrigierte sich, dort hinten war ein Fenster, ein kleines, das hinausging zum Meer. In der großen Küche war es heiß, obwohl hier doch schon seit Stunden nicht mehr gekocht wurde. Der Commissaire konnte nicht umhin, die feinen Düfte aufzunehmen, ein reiches Bukett aus Gewürzen und Kräutern, aber da lag auch etwas Schwereres in der Luft, der Geruch von Jod und Eisen, als hätten sich die Essenzen aller Fische, Lämmer und Rinder, die hier über die Jahre zubereitet worden waren, in den Wänden festgesetzt.

»Roland, die Herren sind von der Polizei, das ist Roland le Correc, der Souschef der Villa Auguste.«

»Hmm …«, murmelte der Windhund, und seine Wangenknochen bewegten sich einmal nach oben, genau wie seine dünne Nase, deren Flügel sich hoben und senkten, als hätte sie Witterung aufgenommen.

»Monsieur le Correc, können Sie uns sagen, wie es mit der Vorspeise abgelaufen ist, die Monsieur Gennevilliers serviert wurde?«

Die Augen des Kochs lagen tief in ihren Höhlen, viele rote Äderchen waren darin zu sehen, sie bildeten ein erstaunliches Muster. »Nicht nur dem Kritiker. Auch einigen anderen Gästen.« Er antwortete leise, als erzählte er all das beiläufig irgendeinem uninteressierten Zuhörer.

»Sind Sie generell mit den Vorspeisen befasst?«, fragte Luc und legte einige Strenge in seine Stimme. Ihm war die Art des Mannes zuwider, und er wollte zu dieser späten – oder frühen – Stunde nicht derart behandelt werden.

»Wo denken Sie hin? Ich bin der Souschef des Restaurants. Ich befasse mich mit allen Soßen, und ich kontrolliere die Teller am Pass.« Er wies zu der großen Anrichte, über der die Wärmelampen hingen. Der Pass befand sich direkt an der Tür, die zum Gastraum führte, sie war die Verbindung zwischen Küche und Service. »Allerdings«, fuhr le Correc fort, »kümmere ich mich eben auch um die wichtigsten Gerichte des Restaurants, und da gehört die Foie gras nun mal auf jeden Fall dazu. Das ist ein Teller, den können Sie jungen Leuten nicht anvertrauen. Sie müssen die Entenleber lieben – und mich können Sie nachts um vier wecken, und ich schneide Sie Ihnen blind auf.«

»Gut, ich werde einmal drauf zurückkommen, wenn ich nachts um vier Hunger habe«, sagte Luc. »Können Sie uns Ihren Arbeitsplatz zeigen?«

Der Souschef wies auf einen metallenen Tisch weiter hinten im Raum, von dem aus er die ganze Küche überblicken konnte.

»Zeigen Sie uns bitte, wie Sie die Teller angerichtet haben.«

Als sie näher zu dem Platz kamen, hörte der Commissaire, wie sich Auguste Fontaine räusperte. »Na, hier sieht es aber aus«, sagte er. Roland le Correc wollte einen Lappen nehmen, der bereitlag, um die roten Soßenflecken zu entfernen, doch Luc ging gerade noch so dazwischen.

»Sie müssen bitte alles so lassen. Das hier ist ein … Tatort.«

Er musste dem Koch den Lappen förmlich aus der Hand nehmen. Luc ahnte, dass der Souschef nur deshalb so herablassend zu anderen war, weil er oft genug vom alten Auguste genauso behandelt wurde.

»Hier bereiten Sie also die legendäre Foie gras zu.«

»Ganz recht. Es ist ein Teller mit einer sehr simplen Zusammenstellung, wenn man in dieser Kategorie von simpel sprechen kann: Ich schneide eine dicke Scheibe von der Stopfleber ab, würze sie mit Salz, Pfeffer und Piment d’Espelette und erwärme unsere Creme aus Süßwein und schwarzem Pfeffer, die ich aber erst am Pass angieße. Dazu gibt es einen sehr grazil angerichteten Salat aus jungem Spinat und unser hausgebackenes Brot. Es ist die vielleicht erlesenste Vorspeise, die wir bieten.«

Luc besah sich die schmutzigen Schneidebretter und Messer, die herumlagen. Dann blickte er den Souschef direkt an.

»Und alle haben das Gleiche bekommen?«

Der Seitenblick des Souschefs zu Fontaine dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, und doch bemerkte Luc ihn und sah den Maître kaum merklich nicken.

»Ähm«, räusperte sich der Souschef, »nun ja, es ist so, dass …«

»Hören Sie, Monsieur Gennevilliers kämpft um sein Leben, ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie hier nicht so herumdrucksen würden.«

»Nein«, antwortete le Correc mit nun fester Stimme. »Es haben nicht alle das Gleiche bekommen. Wir haben ungefähr eine Ahnung, wann der Kritiker des Guide Michelin hier eintrifft, der Besuch bei uns ist für Ugo … verzeihen Sie, für Monsieur Gennevilliers immer der krönende Abschluss seiner Testreise. Und als unser Voiturier gesehen hat, dass er in der Wagenschlange stand, hat er uns gleich Bescheid gegeben. Damit haben wir in der Küche Zeit, die besten Produkte, die wir in diesen Tagen bereitgelegt haben, anzurichten. Bis zur Perfektion.«

Auguste Fontaine trat zwischen seinen Souschef und die Polizisten, und seine gewaltige Erscheinung ließ Hugo einen Schritt zurückweichen. »Nicht dass Sie das falsch verstehen, Commissaire. Ich will, dass Sie die Wahrheit erfahren. Natürlich kriegt hier jeder Gast die besten Produkte – ich halte es stets mit Oscar Wilde.«

Luc lächelte. »Der sagte: ›Ich habe einen sehr einfachen Geschmack – ich bin immer mit dem Besten zufrieden‹?«

»Ich wusste, dass Sie belesen sind, Commissaire. Ganz genau. Das könnte mein Motto sein. Aber natürlich gibt es bei jeder Lieferung in der Woche den einen Steinbutt und den einen Hummer und die eine Entenstopfleber, die – nun ja – makellos sind. Gar kein Fettrand, keine Sehne, die man mühevoll ziehen muss, eine Frische, die aus allen Poren dringt. Und wenn wir wissen, dass Ugo anrückt, nun ja, dann haben wir eben noch mal ein Prozent mehr Qualität. Die anderen Gäste werden das nicht schmecken, aber Ugo, Ugo schmeckt es.«

»Sie haben eine sehr hohe Meinung von diesem Kritiker?«

»Wir sind … Nun ja, wir sind vor vielen Jahren Koch und Kritiker gewesen. Heute sind wir Freunde – und es erfüllt mich deshalb mit großer Traurigkeit, was Ugo ausgerechnet in meinem Haus zugestoßen ist.«

Luc verkniff sich die Frage, warum Ugo Gennevilliers dann über die Sternevergabe seines Freundes Auguste entscheiden durfte – gerade redeten alle so frei von der Leber weg, da hätte jede Provokation nur gestört.

»D’accord , Monsieur le Correc. Können Sie mir dann die Produkte zeigen, die Sie verwendet haben? Für den Teller von Gennevilliers, aber auch für die anderen Gäste.«

Der Souschef nickte, bückte sich und öffnete die Kühlklappe, dann entnahm er zwei Metallkästen, die abgedeckt waren. Er hob die durchsichtigen Deckel ab. Aus dem einen schauten sattgrüne Salatblätter heraus, in dem anderen lagen vier Entenstopflebern.

»Diese hier habe ich für die meisten Teller benutzt«, er wies auf zweieinhalb Stücke, die auf der linken Seite des kleinen Schiebers lagen, »und diese hier war für Ugo.« Die angeschnittene Foie gras auf der rechten Seite sah tatsächlich tadellos aus, golden in der Farbe, die hellen Flecken des Schmelzes glänzten durch die Kälte.

»Ich bitte Sie, auch jetzt nichts anzufassen. Wir müssen unbedingt herauskriegen, womit Ugo vergiftet wurde. Die Ärztin in Bordeaux wartet auf eine Analyse, damit sie ihn schnell behandeln kann.«

Luc sah Hugo an. »Bringst du die Proben ins Labor? Jetzt gleich?«

»Dann rufe ich wohl besser wieder den Helikopter, was?«

Der Polizist, der früher bei der Sondereinheit CRS gearbeitet hatte, war sehr versiert im Umgang mit komplizierten Delikten. Sofort zog er aus seiner Innentasche zwei Beweismittelbeutel und Handschuhe. Dann entnahm er vorsichtig die Leber und verpackte sie. »Nimm auch die anderen mit«, sagte Luc, »wir müssen auf Nummer sicher gehen.«

Hugo tat, wie ihm geheißen. »Noch etwas, Commissaire?«

»Sie sollten bitte auch eine Probe der Amuse-Bouches einpacken, Monsieur le Correc, ist das möglich? Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir alles in Betracht ziehen.«

»Natürlich, Commissaire.«

Während der Souschef nach vorne zum Pass ging, wählte Hugo die Nummer der Leitstelle, und Luc hörte, wie er leise, aber bestimmt ins Telefon sprach.

Auguste Fontaine stand im Gang seiner hell erleuchteten Küche und sah etwas verloren aus. Er fing Lucs Blick auf und straffte sich.

»Das ist das Schlimmste, was einem Koch passieren kann, wissen Sie das, Commissaire?«

»Weil nun Ihre Sterne auf dem Spiel stehen?«

Fontaine winkte mit seiner Hand durch die Luft, als verscheuchte er eine lästige Fliege.

»Ach was, ich bitte Sie. Dieser Sternekram. Wissen Sie, seit wann ich drei Sterne habe? Damals hatte ich noch volles Haar.« Er lachte bitter. »Nein, es geht um Vertrauen. Die Menschen kommen zu mir, weil sie mir vertrauen. Sie vertrauen darauf, dass ich sie auf eine Reise schicke, eine Reise im Kopf, eine Reise in die Welt der Genüsse. Von so etwas … Gift … und zerstörtem Vertrauen … davon kann man sich nur schwer erholen.«

Luc trat ein Stück näher und senkte seine Stimme.

»Wir werden herauskriegen, was passiert ist. Und dann klärt sich das alles auf, Maître.«

»Das hoffe ich«, antwortete Auguste Fontaine und schien durch das kleine Fenster am Ende des Raumes aufs Meer hinauszusehen. Luc folgte seinem Blick. Da war nur undurchdringliches Dunkel.

»Hören Sie, wir werden die Proben nun analysieren. Wenn wir ein Ergebnis bekommen, sollte ich schon mit Ihrem Sohn gesprochen haben. Damit wir weitere vergiftete Stücke abfangen können. Haben Sie wirklich keine Idee, was dort genau das Problem ist?«

»Wie gesagt, Commissaire, er teilt seine Probleme nicht gerne mit mir. Nur seine Erfolge. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, nur Florentine. Und als ich später anrief, war er ganz kurz angebunden, weil seine Frau in Ohnmacht gefallen war.«

»Sie sollten mir seine Adresse geben, damit ich mich gleich auf den Weg machen kann.«

»Natürlich, Commissaire. Kennen Sie Grenade-sur-l’Adour? Es ist la petite France – und meine Heimat. Wenn ich nicht hier wäre, dann wäre ich dort. Ich wollte mich dahin zurückziehen, sobald mein Stern im Sinken begriffen ist. Aber dass es so schnell geht …«

Luc hätte ihn gern aufgemuntert, aber der alte Mann sah nur in die Weite. »Es ist ein Dörfchen im Inneren der Landes, richtig?«

»Ja, dort hat Guillaume seinen Bauernhof. Es ist das Zentrum der Geflügelzucht in Frankreich, müssen Sie wissen.«

»Ich werde mich gleich dorthin aufmachen.« Luc sah auf die große Uhr, die über einem Herd in der Ecke hing. Drei Uhr dreißig. »Dann werde ich bei Tagesanbruch dort sein.«

»Viel Glück, Commissaire.«

»Wir werden uns noch heute wiedersehen«, antwortete Luc.

»Werden Sie das Restaurant zwangsschließen?«, fragte der Koch.

»Wenn es wirklich an der Foie gras lag, die wir ja bereits sichergestellt haben, dann wird das nicht nötig sein. Könnten Sie denn morgen Abend wieder öffnen?«

»The show must go on« , sagte Auguste Fontaine schulterzuckend. »Wir sind wie jeden Tag ausgebucht. Aber es kann auch gut sein, dass alle ihre Tische absagen, wenn das hier durchsickert.«

»Wir werden die Presse nicht informieren, Maître«, sagte Luc.

»Das ist auch nicht nötig. Wenn ich’s mir recht überlege: Die Gourmets, die zu mir kommen, sind so gut vernetzt – dass der führende Kritiker des Landes vom Stuhl gefallen ist, weiß mittlerweile wahrscheinlich jeder Koch und jeder Gast von hier bis nach Paris.«