Als sie wieder in den Gastraum kamen, hatten die Bediensteten das Licht gedimmt, sodass der Raum viel gemütlicher wirkte mit seinen runden Holztischen und den violett bespannten Stühlen. Über jedem Tisch hing eine dieser nackten Designerlampen, in denen der Glühfaden rot schimmerte. Die Angestellten saßen an der großen Fensterfront zum Meer an einer langen hölzernen Tafel, in deren Mitte eine Flasche Rotwein und mehrere leere Flaschen Bier standen, alle wirkten zutiefst niedergeschlagen, plauderten nur leise, zwei hatten schon den Kopf in die Hände gelegt und waren scheinbar eingenickt. Luc fühlte mit ihnen: den ganzen Nachmittag vorbereitet und gekocht, dann der Service abends und dann dieser schreckliche Zusammenbruch, klar, dass nun irgendwann das Adrenalin weg war und die Müdigkeit kam.
Florentine war die Einzige, die aufstand und sich zu Luc und ihrem Chef gesellte.
»Commissaire, Sie sollten unbedingt noch Monsieur Joffe besuchen.«
»Monsieur Joffe?«
»Ah, natürlich, Sie kennen ihn wohl besser unter Commissaire Joffe. Er war bei der Polizei in Dax, und er wohnt gleich nebenan. Wir haben ihn vorhin direkt alarmiert, und er ist sofort zu uns gekommen. Als die Rettungskräfte eintrafen, hat er sich zurückgezogen. Aber er wollte mit Ihnen sprechen.«
Commissaire Joffe, natürlich. Luc hatte den altehrwürdigen Beamten der Polizei des Département Landes als junger Polizist kennengelernt. Nun war er wohl parallel mit Commissaire Preud’homme, Lucs ehemaligem Vorgesetzten, in Rente gegangen.
»Sehr gut, vielen Dank, das ist bestimmt hilfreich«, sagte Luc. Ein Polizist als erster Augenzeuge, besser ging es nicht. Weil er und seine Kollegen schon im ersten Jahr auf der Polizeischule gelernt hatten, worauf sie in solchen Situationen achten mussten. »Ich werde mich aber erst mal auf den Weg zu Monsieur Fontaine junior machen.«
Sie verabschiedeten sich voneinander, und gerade als Luc sich dem Ausgang zuwandte, fing er den Blick einer jungen Frau auf, die am Ende des Tisches saß. Sie war asiatischer Herkunft oder Abstammung, hatte lange dunkle Haare, und ihr Gesicht fiel ihm als explizit hübsch auf. Sie wirkte scheu, doch das konnte an ihrem angsterfüllten Blick liegen. Auf die Entfernung und im gedämpften Licht war er sich nicht sicher, ob sie geweint hatte. Er riss sich los und öffnete die Tür, dann trat er hinaus in die Kühle der Nacht. Sofort umfing ihn das Rauschen des nahen Ozeans, der Mond tauchte den Sand um ihn herum in ein helles Glitzern. Er musste sich erst mal orientieren, es dauerte einen Moment, ehe das Haus nebenan als Schemen erkennbar wurde, das Haus, das genauer gesagt eine Villa war wie diese hier, die das Restaurant beherbergte. Das Haus des Monsieur Joffe lag gänzlich im Dunkeln, und er entschied, dort jetzt am Morgen um kurz vor vier nicht zu klingeln. Stattdessen wandte er sich an den jungen Gendarmen, der an einem rot-weißen Absperrband Wache hielt, was hier draußen in der Einöde einem Gastronomiekritiker gleichkam, der Kettenraucher war. »Guten Morgen, Brigadier, Commissaire Verlain, Police nationale de Bordeaux.«
Obwohl sie offiziell nicht derselben Truppe angehörten – schließlich war der Gendarm ein Soldat, der dem Verteidigungsministerium unterstand, während Luc dem Innenminister gehorchen musste –, salutierte der junge Mann. »Haben Sie noch Kollegen hier vor Ort?«
»Ja, der restliche Trupp geht Patrouille, Anweisung des Lieutenant.«
»Darf ich mir das für einige Stunden ausleihen?« Luc wies auf das blaue BMW -Motorrad mit der weißen Aufschrift Gendarmerie , das im Sand aufgebockt stand. »Wir sind mit dem Helikopter gekommen, und ich muss dringend einen Zeugen befragen. Es würde sehr helfen.«
Der junge Brigadier sah sich ratsuchend um. »Ja, äh, na gut, Commissaire … Aber Sie müssen es heil wiederbringen, ich will keinen Ärger kriegen.«
»Keine Sorge, Brigadier. Um diese Jahreszeit sind zwar viele Rehe unterwegs, aber ich bin ganz gut im Hakenschlagen.«
Luc nahm den Helm vom Sitz und setzte ihn auf, dann drehte er den Schlüssel im Schloss und spürte die leichte Gänsehaut, als der schwere Motor mit einem satten Röhren in Gang kam. Er hatte in Paris aufgehört, schwere Motorräder zu fahren, denn im Wahnsinn des Hauptstadtverkehrs fuhr man auf einer Vespa einfach angenehmer und sicherer. Hier draußen im Südwesten aber hatte er im Falle des toten Winzers das erste Mal wieder auf einer Maschine gesessen und das Glück der Geschwindigkeit und der rasanten Kurvenfahrten genossen. Er legte einen Gang ein, suchte den Schleifpunkt, und der Koloss von Motorrad setzte sich sofort in Bewegung.