Kapitel 7

Anfangs war es nur ein wenig Blau im Dunkel des Himmels, dann aber, gerade als Luc auf der schnurgeraden Straße in den Seekiefernwald eintauchte, begannen die hohen, schlanken Bäume mit ihren vom Wind gebogenen Stämmen rechts und links zu schimmern, das untrügliche Zeichen dafür, dass der Tag erwachte – und kurz darauf konnte der Commissaire sogar durch den Helm und über das Surren des Motors hinweg hören, wie die Vögel mit ihrem Gesang den Morgen begrüßten.

Beim Anblick des dichten grünen Waldes war kaum zu glauben, dass hier vor dreihundert Jahren nur Sümpfe und Morast gewesen waren. Denn dafür stand das französische Wort lande – für eine landwirtschaftlich unbrauchbare Heidelandschaft, eine wirtschaftlich abgehängte Region. Doch dann ließ Napoleon Teile der Sümpfe trockenlegen und aufforsten, und zwar mit den hierfür besonders geeigneten Seekiefern, die pins maritimes , die heute noch hier stehen, dicht an dicht. Die Landes erlebten mit der Harzgewinnung aus den Bäumen eine schnelle Blüte, die aber ebenso schnell wieder verging. Mittlerweile war der Landstrich ein Wirtschaftsfaktor für die Holzgewinnung und Papierherstellung – und gleichzeitig ein Naturparadies.

Luc drehte am Gashebel, und die Maschine machte einen Satz nach vorne, schnell lagen die Strandorte hinter ihm, er fuhr in den kleinen Ort Léon ein, unter dessen hübschem Kirchturm die fleißigen Händler gerade begannen, alles für den Markt vorzubereiten, der Gemüsemann stellte eben seine Artischockenkisten auf den Holztisch, über dem Platz hingen blau-weiße Wimpel. Luc raste wieder aus dem Ort hinaus, durchquerte Minuten später Magescq und nahm nur ganz kurz die breite vierspurige Départementale 824 , wo er die Maschine auf hundertfünfzig Stundenkilometer beschleunigen und geschwind die wenigen Pendler überholen konnte, die zu dieser Stunde bereits der Arbeit entgegenfuhren. Beim Anblick des Motorrads eines Ordnungshüters, Blaulicht inklusive, hielten sich alle anderen sowieso an die Verkehrsregeln.

Hinter Dax fuhr er wieder ab und nahm die gerade Landstraße gen Osten, bis er hinter Saint-Sever wusste, warum er das Motorrad genommen hatte. Vor ihm tauchte die Landschaft auf, die er so sehr liebte: die grünen Hügel, die wie hingetupft aussahen, mit ihren Buchen und Platanen obendrauf, es war fast wie in der Toskana, ein Meer aus geschwungenen Feldern und kleinen Wäldern, links und rechts wechselten sich Mais- und Getreidefelder ab, ab und zu stand da eine Kuhherde, und die enge Straße begann sich in ausschweifenden Kurven den Hügel hinaufzuwinden. Um diese Uhrzeit war nicht mit Traktoren zu rechnen, deshalb nahm Luc die Kurven mit zunehmender Geschwindigkeit und immer größerer Freude. Er war zuletzt vor einigen Jahren hier gewesen, sein Vater hatte einen Freund gehabt, der am Fluss Adour Lachsforellen züchtete, aber leider vor einiger Zeit verstorben war. Dennoch erkannte er Grenade-sur-l’Adour sofort wieder, als er das Städtchen erreichte. Und sofort wusste er auch, was Auguste Fontaine mit seinem Ausspruch von la petite France gemeint hatte. Es war tatsächlich Frankreich im Kleinen. Nach einem Blick auf den Tachometer bremste er kurzerhand auf dem Marktplatz und bockte die Maschine auf dem Parkplatz auf. Da stand er nun, mitten in diesem Dorf, und fand sich im Vierklang der französischen Lebensart wieder: Am Ende der Straße lag die Kirche aus grob gehauenen Steinen mit ihren zwei Türmen und den Fensterbildern, die in Richtung Ortskern zeigten. Vis-à-vis war die Post in einem hübschen Gebäude aus hellem Sandstein, das gelbe Schild hing genau unter den grauen Fensterläden der oberen Etage. Schräg gegenüber das Hôtel de France, weiße Fensterläden mit roten Markisen. Und auf der anderen Seite wiederum – dafür war der Ort bekannt – lagen Bäcker, Fleischer und zwei Cafés unter einem ausladenden Arkadengang, der an heißen Tagen Schatten spendete. Luc erinnerte sich, hier mit seinem Vater nach der Beerdigung des Freundes ein Bier getrunken zu haben. Und auch heute steuerte er direkt auf das Café rechter Hand zu, der Wirt hatte eben die Rollläden hochgezogen.

»Bonjour« , sagte Luc, den Helm unter den Arm geklemmt. »Kann ich denn schon einen Kaffee haben?«

»Wenn ich geöffnet habe, gibt es auch Kaffee. Was soll ich denn sonst trinken?«, fragte der Mann mit Vollbart und Handtuch überm Arm und grinste. »So früh schon im Dienst, Brigadier?«

Er hatte die Aufschrift Gendarmerie auf dem Helm bemerkt.

»Leider ja«, sagte Luc, ohne den Wirt zu korrigieren. Der mahlte erst in aller Ruhe die Bohnen, dann stopfte er das Sieb in die Maschine und drückte auf die Taste. Allein der Geruch des starken Espresso machte Luc eine Spur wacher. »Merci beaucoup« , sagte er, als der Mann die Tasse auf den alten Zinktresen stellte, und nahm sogleich einen Schluck.

»Was Ernstes?«, fragte der Mann.

Luc überlegte nur kurz. Ein wildes Stille-Post-Spiel über vergiftete Kritiker am potenziellen Ort der Vergiftung wäre zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen sicher keine gute Idee.

»Ein Bauer hat uns gerufen. Es gab wohl irgendein Problem mit seiner Zucht.«

»Oh, hat er also doch gemacht, was ich ihm gesagt habe, Gott sei Dank. Ich dachte schon, er will alles wieder alleine regeln.«

»Sie meinen …« Luc ließ die Worte in der Luft hängen.

»Na klar, Guillaume.«

»Sie haben Guillaume Fontaine empfohlen, sich an uns zu wenden?«

»Mit diesen grünen Jungs braucht man sich nicht anzulegen, hab ich ihm gesagt. Gut, dass Sie da sind. Das, was die seit Wochen machen, grenzt ja schon an Ökoterrorismus.«

»Was meinen Sie?«

Die Augen des Wirtes wurden zu schmalen Schlitzen, und er musterte Luc. Auf einmal schien er auf der Hut zu sein. »Na, da fragen Sie mal lieber Guillaume, wenn Sie ohnehin zu ihm unterwegs sind.«

»Die Straße runter, richtig?«

»Genau, über die Brücke und dann rechts, raus aus dem Ort, zwei Kilometer in Richtung Eugénie und kurz nach dem Wasserturm nach rechts. Können Sie nicht verfehlen. Der Name steht bei dieser Familie ja immer groß dran.«

»Vielen Dank. Ein Euro?«

»Lass mal stecken. So wie eure Gendarmerie bezahlt wird, muss man euch ja unterstützen, wo man kann.«

»Merci« , sagte Luc und verließ die Bar, bockte das Motorrad wieder ab und setzte auf, dann betätigte er den Startknopf, und die Ruhe auf dem Marktplatz von Grenade-sur-l’Adour war dahin. Er lenkte die Maschine auf die Départementale Nummer 11 , fuhr auf die kleine rote Brücke und warf einen Blick nach rechts. Unvorstellbar: In Bayonne im Baskenland war der Adour ein riesiger Strom, der sich hundert Meter breit durch die Stadt wand und kurz darauf in den Atlantik mündete. Hier aber war er ein hübsches kleines Flüsschen, das gemütlich in seinem Bett lag, überragt von Weiden, deren Äste im Wasser lagen. Auf der rechten Seite standen die Dorfhäuser eng am Fluss, die Balkone und Terrassen gingen hinaus aufs Wasser, ein Bewohner hatte sogar schon die Angel ausgeworfen, quasi aus dem Wohnzimmer heraus – so konnte man sich auch um sein Mittagessen kümmern, frischer ging es nicht.

Der Wirt hatte die Strecke gut beschrieben, zur Rechten fuhr Luc an einem hohen Maisfeld vorbei, gerade als die Sonne aufging, dann bremste er hinter dem Wasserturm und erblickte auch schon das Schild Ferme du canard heureux , darunter in ebenso großen Buchstaben Foie gras de qualité – hier gab es offenbar nichts zu verstecken. Luc fuhr langsam über den Kiesweg und ließ die Maschine ausrollen, doch gerade als er absteigen wollte, flog schon die Tür auf, und ein großer Mann kam herausgestürzt. Dass er mit Auguste Fontaine verwandt war, war offensichtlich: Er war genauso hochgewachsen und massig, ein junges Abbild seines Vaters. Sein Gesicht war wütend, und er rief: »Weg hier, scher dich weg!«, aber dann blickte er genauer hin, schien der Aufschrift auf dem Motorrad gewahr zu werden. Er wurde eine Spur blasser, und Luc hörte ihn deutlich freundlicher, fast peinlich berührt, sagen: »Oh, excusez-moi, Monsieur , ich dachte, Sie wären einer von denen.«

Er setzte seinen Helm ab und ging auf den Mann zu, sie waren ungefähr gleich groß, und auch die Dreitagebärte sahen ähnlich aus, genau wie die Augenringe, dachte Luc. Nur kamen seine von Aurélies nächtlichen Ruhestörungen, während die von Guillaume Fontaine vermutlich Zeugen seiner Sorgen waren.

»Entschuldigen Sie die frühe Störung«, sagte der Commissaire, »Luc Verlain, Police nationale aus Bordeaux.«

»Nein, ich muss mich entschuldigen, ich wäre fast mit einem Gewehr aus der Tür gelaufen, und dann wären Sie wohl kaum so nett zu mir. Aber meine Nerven liegen wirklich blank.«

»Wie geht es Ihrer Frau?«

»Oh, Sie wissen davon?«

»Ich komme direkt von Ihrem Vater …«

»Auguste«, er lächelte sanft, »er hat ihnen doch bestimmt erzählt, dass meine nervöse Frau einen ganz schlimmen Zusammenbruch hatte, oder? Er ist ein alter Leuteschinder – und er kann schlecht damit umgehen, wenn jemand Gefühle zeigt. Aber eigentlich mag er Corinne sehr gern. Der Arzt aus dem Dorf hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, jetzt schläft sie endlich.«

»Ihr Vater mag auch Ugo Gennevilliers, hatte ich den Eindruck – und er ist sehr besorgt um ihn. Deshalb würde ich gerne wissen, was es mit den Entenstopflebern auf sich hat, die nicht in Ordnung gewesen sein sollen.«

»Na, dann kommen Sie mal, Commissaire. Ich saß die ganze Zeit im Sessel und hab Wache gehalten. An Schlaf ist bei mir heute eh nicht zu denken. Und in einer halben Stunde würde ich auch an normalen Tagen aufstehen.«

Das Haus war hübsch, dachte Luc, eines dieser typischen Landaiser Bauernhäuser mit weißen Mauern und roten Schmucksteinen, die fachmännisch zu kleinen Mustern gelegt worden waren. Die weißen Sprossenfenster sahen frisch gestrichen aus, und sogar von außen konnte Luc sehen, dass hier eine weibliche Hand das Haus hegte und pflegte. Im Vorgarten war ein buntes Kräuterbeet angelegt. Als sie um das Haus herumgegangen waren, änderte sich die Szenerie. Hier sah alles nach Arbeit aus: Da war eine große Scheune mit rotem Dach und daneben die Weide, grünes Gras bis zum Horizont, auch hier standen Kräuter und Blumen – und Luc musste kurz innehalten, als er erkannte, dass auf der Wiese Hunderte Enten umherwatschelten, große und kleine, die munter dabei waren, ihren Morgen mit dem Fressen frischen Grases zu verbringen.

»Ja, die sind Frühaufsteher«, sagte Guillaume Fontaine. »Hier, ich bin noch nicht zum Putzen gekommen, und die Sauerei ist noch auf der Wand, es war einfach zu viel los.«

Die Schrift lief über die ganze Länge der Wand. Tortionaire. Rote Farbe.

»Herrgott«, stieß er aus. »Wann ist denn das passiert?«

»Wann? Das passiert hier andauernd. Seit ein paar Monaten. Seit eine kleine Gang von verblödeten Stadtkindern sich entschieden hat, dass ausgerechnet ich ihr Feind bin. Nicht irgend so ein großer Konzern, der die Tiere hält wie Sau, nein, an die kommt man nicht ran, weil die sich mit Stacheldraht schützen. Aber ich kann und will keinen Stacheldraht, und deshalb, Weg des geringsten Widerstands, haben sie mich auserkoren, um mir die Wand vollzukritzeln – und um noch weiterzugehen.«

Luc betrachtete die Schrift und runzelte die Stirn. »Da ist ein Fehler drin.«

»Bitte?« Guillaume sah ihn überrascht an.

»Na dort, ein Schreibfehler. Es heißt Tortionnaire mit Doppel-N.«

»Meinen Sie, ich schaue auch noch genau hin, wenn mich jemand beleidigt?« Der Bauer griff Luc beherzt am Arm und zog ihn mit sich. »Kommen Sie, ich zeig Ihnen was.« Sie gingen ein Stück hinaus auf die Wiese, Guillaume Fontaine griff in sein Hemd und zog eine Trillerpfeife hervor. Sie war kaum hörbar, als er hineinblies, doch der, auf den es ankam, reagierte sofort. Offensichtlich hatte der Hund in der Entenschar geschlafen, denn plötzlich erhob er sich und kam auf sein Herrchen zu.

»Den brauchen wir, wegen der Räuber. Hier gibt es so viele Füchse. Und bald kommen auch noch die Wölfe aus den Pyrenäen. Aber wir … Wir sind die Mörder.« Er zeigte auf die Enten, die in ihrem weißen Gefieder über die Wiese schnatterten, der Hund in ihrer Mitte machte sie etwas nervös.

»Sehen Sie? Die Enten sind draußen, sechs Monate lang. Sechs Monate können sie Gras fressen, die Sonne genießen und kriegen weder Medikamente noch irgendwelches Zuchtfutter. Glauben Sie, irgendeins der Schweine, die am Ende im Supermarkt landen, hatte es so gut? Aber vorm Intermarché, da demonstriert keiner.«

»Ich glaube, den Tierschützern geht es eher um den anderen Teil Ihrer Zucht, oder?« Luc war nachdenklich geworden, denn die Enten sahen in der Tat sehr glücklich aus, wie sie im tief stehenden Sonnenlicht über die taufeuchte Wiese spazierten.

»Das weiß ich auch«, sagte Guillaume Fontaine schroff, »aber ich kann Ihnen auch diesen Teil ohne Scham zeigen, denn auch dort bin ich ganz bestimmt kein Folterer. « Er zog das Wort in die Länge, sein Ton irgendwo zwischen Ironie und Fassungslosigkeit. »Ich würde es Ihnen gerne zeigen, aber«, ein Blick auf die Uhr, »dann würden wir die Enten aufwecken. Dort drinnen ist es noch dunkel, und ich achte auf den Rhythmus der Tiere.«

»Das ist in Ordnung«, sagte Luc und war ganz froh, dass er vor dem Frühstück und nach einer langen Nacht nicht in diesen Stall musste. »Sie werden doch eine Idee haben, wer verantwortlich ist – für die Schmierereien?«

Guillaume Fontaine schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste. »Wenn ich das wüsste, würde ich mich auf mein Motorrad setzen und mir denjenigen vorknöpfen. Ich arbeite immer mit offenem Visier, so bin ich. Wenn jemand ein Problem mit mir hat, dann soll er mir das sagen, dann klären wir das. Aber so …?«

»Sie werden ja nicht der einzige Züchter sein, dem das widerfahren ist.«

»Doch, hier im Dorf bin ich wohl der Einzige. Na klar, ab und zu hört man von Tierschützern, aber so langsam wird es doch mehr. Das ist Fundamentalismus, wissen Sie? Da wollen Leute uns allen ihre Ideen aufzwingen, ganz Frankreich soll nur noch Gurken und Körner fressen. Aber wissen Sie was? Diese Leute sind nicht aus unseren Dörfern, nie. Die wissen überhaupt nichts, die kommen aus der Stadt und haben überhaupt keine Ahnung von unserer Arbeit – und von unserer Tradition.«

»Ich muss mir unbedingt den Ort ansehen, an dem Sie die Foie gras lagern.«

»Den hier sollten Sie sich auch ansehen.« Der Bauer griff in seine Hosentasche und reichte dem Commissaire den Drohbrief. »Meine Frau hat ein Rotweinglas fallen lassen vor Schreck, deshalb sieht das so aus. Die wahren Folterer sind diese Menschen. Die arme Corinne …« Luc betrachtete die verlaufene Schrift und das völlig durchtränkte Papier. Ein Wunder, dass noch etwas zu lesen war. Er überflog die Zeilen, dann las er sie noch einmal genau. Er runzelte die Stirn. »Hier ist auch ein Fehler.«

»Hm?«

»Sehen Sie: Tierqwal. Mit einem W statt einem U. Hier schreibt jemand, wie er spricht. Das ist … merkwürdig.«

»Sind vielleicht nicht die hellsten Leuchten, diese Tierschützer«, murmelte Guillaume. »Kommen Sie«, sagte er dann und führte den Commissaire in Richtung einer kleineren Scheune, die mit der großen durch einen Gang verbunden war. Er öffnete eine Tür, und sie betraten einen schummrigen Raum. Stickig war es hier drinnen, und dichter Stallgeruch waberte durch die Luft. Luc meinte aber noch etwas anderes zu riechen: Blut. Die Maschinen, die hier standen, waren aus Metall, ein langes Fließband mit Haken, er verstand sogleich. Das war der Raum, den die Enten am Ende ihres Lebens sahen. Er hielt die Luft an. Gottlob führte ihn Guillaume weiter, nebenan roch es frisch und steril, ein Fenster war offen, Hunderte Dosen standen auf großen Paletten, daneben ein großer Kühlraum. »Hier konservieren wir die Keulen und die Brüste, wir verkaufen alles Fleisch an die Kunden«, sagte der Bauer. »Und hier geht’s weiter.«

Er drückte den Griff nach unten und zog die schwere Stahltür auf, sofort strömte die Kälte als Nebel in den Raum, und die beiden Männer betraten die Kühlkammer.

In diesem Raum gab es auf den ersten Blick nur ein Produkt: Auf langen Metallbrettern lagen Hunderte vakuumierte Entenstopflebern, Luc erkannte die feine Maserung, das helle Gelb, alles sah frisch und sehr hygienisch aus.

»Hier lagern wir die Foie gras. Die konservieren wir nicht. Wir vakuumieren sie nur. So verkaufen wir sie an die Köche der Region – und bis nach Paris. Die Besten sind natürlich immer für meinen Vater.«

Luc ging die Regalbretter ab und betrachtete die Innereien. Sie alle lagen in blanker Folie, alle sahen unversehrt aus. Er verzichtete darauf, sie zu berühren, die Spurensicherung müsste sich alle vornehmen. Am untersten Regalbrett war ein laminierter Zettel angebracht. VA stand darauf. Darüber lagen sechs oder sieben gesonderte Pakete. Guillaume schien seinen Blick bemerkt zu haben.

»Das sind die absolut makellosen Stücke. Sie sind für die Villa Auguste. Ich liefere einmal in der Woche persönlich ins Restaurant.«

»Sie stehen Ihrem Vater sehr nah?«

»Er ist mein Vertrauter – und mein Mentor. Was er für die Küche der Region getan hat, ist einmalig.«

»Das klingt …«, Luc zögerte, »… ehrlich gesagt nicht so, wie ich über meinen Vater reden würde. Es klingt … professionell.«

Guillaumes Miene verzog sich zu einem klugen Lächeln. »Ja, das könnte stimmen. Wissen Sie, als wir Kinder waren, stand mein Vater am Herd. Morgens, wenn wir frühstückten, hat er mit seiner Küchencrew das Mittagessen vorbereitet. Abends, wenn wir aus der Schule kamen, hat er den Abendservice vorbereitet. Wir hatten nicht viel Zeit zusammen. Am Herd steht er heute noch, es ist sein ganzes Leben. Und doch hat er mich alles gelehrt.«

»Aber Koch werden wollten Sie trotzdem nicht?«

»Ich setze die Tradition der Familie lieber auf dem Bauernhof fort, meine Familie betreibt seit vier Generationen die Entenzucht. Auguste war der Erste, der aus dieser Tradition ausgebrochen ist. Und zwar sehr erfolgreich. Drei Sterne – können Sie sich vorstellen, was das heißt? Wie viel Arbeit das ist? Für mich wäre das jedenfalls nichts, ich wusste es von Anfang an. Hier bin ich viel näher an der Natur. Und an den guten Produkten.«

»Sie sagten: wir. «

»Hm?«

»Eben gerade. Als Sie sagten: wenn wir aus der Schule kamen – wer ist denn der andere Fontaine?«

Wieder war da dieses sanfte Lächeln. »Rémy. Er ist vier Jahre jünger als ich. Und … na ja, ganz anders. Dabei wäre er fast in Papas Fußspuren getreten.«

»Er ist auch Koch?«

»Na ja, wenn Sie so wollen, ja, dann ist Rémy Koch. Aber er ist das genaue Gegenteil von Papa und mir. Er lebt in Monaco – und erfreut sich an allem, was so weit von der Natur entfernt ist, wie es nur geht. Ich meine das gar nicht böse, ich mag Rémy sehr, aber er wollte, als er achtzehn geworden war, nichts lieber, als so weit wie möglich von hier wegzukommen.«

»Weiß er schon, was passiert ist?«

»Ich habe keine Ahnung. Er hat mich vor ein paar Tagen angerufen. Aber ich hatte noch keine Zeit, ihn zurückzurufen. Vielleicht sollte ich das heute mal tun.«

Luc nickte, dann zeigte er auf die Holztür, die von draußen ins Lager führte.

»Sagen Sie, ist dieser Raum normalerweise abgeschlossen? Vorhin haben Sie die Tür einfach nur aufgedrückt.«

»Hier schließt niemand seine Tür ab, da können Sie jeden fragen. Wir sind hier ja nicht in Paris. Das war immer ein sicherer Ort, an dem der eine Nachbar dem anderen vertraut. Aber diese Schmierereien – und dass jetzt noch viel mehr passiert? Das wird alles verändern.«

»Das heißt, jeder konnte hier rein und raus?«

»Eigentlich schon«, sagte Guillaume schulterzuckend. »Aber Otis ist ja immer in der Nähe. Ich würde es niemandem empfehlen, so ein Hund, der Enten hütet, ist nicht ohne.«

»Es tut mir leid, Monsieur Fontaine. Aber ich muss all Ihre Produkte beschlagnahmen.«

»Was?«, fuhr der Bauer auf. »Wissen Sie, wie viel Geld hier lagert? Wie viel Qualität? Das ist meine Produktion des ganzen letzten Monats. Wenn Sie das mitnehmen, dann …«

»Ich verstehe Sie. Aber wir müssen wissen, was mit Ihrer Foie gras geschehen ist. Ich werde jemanden vorbeischicken, der Proben entnimmt. Das müsste für den Moment reichen. Wir sind uns eben immer noch nicht sicher, wie und womit die Foie gras vergiftet wurde.«

Widerstrebend nickte Guillaume. Dann gingen sie rasch aus dem Kühlraum hinaus. Luc drehte sich abrupt um, sodass der Bauer ganz nah vor ihm zum Stehen kam. Ihre Gesichter waren auf gleicher Höhe, Luc senkte seine Stimme.

»Ihre Scheune wird beschmiert, sogar mehrfach, Ihre Frau erhält eine Nachricht, Ihre Foie gras wird vermutlich vergiftet – und Sie wollen mir sagen, Sie haben keine Idee, wer dahintersteckt. Ich glaube Ihnen nicht, Monsieur Fontaine.«

Der Mann wurde eine Spur blasser um die Nase, aber seine Miene zeigte nur Trotz. »Ich habe doch gesagt, ich weiß es nicht. Ich … Sie sollten Ihre Arbeit machen.«

»Das werde ich. Auch wenn meine Arbeit leichter wäre, wenn Sie ehrlich wären.«

»Wird er durchkommen? Monsieur Gennevilliers, meine ich.«

»Man kämpft in Bordeaux um sein Leben«, sagte Luc kühl. »Es wäre gut, wenn wir schnell herausfänden, was die Vergiftung ausgelöst hat. Meine Kollegen werden deshalb rasch herkommen. Sie sollten hierbleiben.« Luc machte eine Pause, dann sah er den Bauern ernst an. »Und schließen Sie endlich die Tür zum Lager ab.«