Luc erwachte abrupt, als eine Welle an seinen Füßen leckte. Die Flut hatte sich bis zu ihm vorgearbeitet. Perfektes Timing, stellte er mit einem Blick auf die Uhr fest, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Er hatte eine halbe Stunde geschlafen, nun fühlte er sich pudelwohl und wach. Er zog sein Hemd wieder über und erklomm die Düne. Der Parkplatz war nun verlassen. Luc stieg auf das Motorrad, ließ den Motor an und machte sich auf in Richtung Dax. Doch als er einige Kilometer weiter nördlich des Restaurants das rot-weiße Ortsschild von Saint-Girons passierte, besann er sich eines Besseren. Da er hier wohnte, würde er sich hier auch auskennen. Wer, wenn nicht er?
Luc hatte die Lage des Hauses ungefähr in Erinnerung, und das Dörfchen war auch nicht so groß, als dass er sich hätte verlaufen können. Er ließ die Maschine vor der Boulangerie stehen und ging den Rest zu Fuß, das Bad und der Schlaf hatten ihn gleichermaßen beruhigt, er hätte gar nicht sagen können, was den größeren Effekt gehabt hatte. Ja, selbst seine Laune war gut.
Erst recht, als er das kleine Häuschen sah, das er das erste und letzte Mal vor zwanzig Jahren besucht hatte, weil es damals eine dringende Sache gab, wegen der er als junger Polizeianwärter den Commissaire von daheim hatte abholen müssen. Es war eines dieser typischen Landaiser Strandhäuschen, wie sie auch für das Baskenland, das sich im Süden an die Landes anschloss, typisch waren: ein rotes Giebeldach und dunkelblaue Fensterläden, die Fassade aus Beton, der von dunklen Holzbalken durchbrochen war. Links die kleine Straße entlang war der Kirchturm von Vieille-Saint-Girons zu sehen, dort befand sich auch der mit Post, Tabac und Boulangerie sehr übersichtliche Ortskern des Dorfes.
Luc drückte die Klingel an dem hölzernen Gartenzaun. Drinnen hörte man den Gong, doch die Antwort kam prompt von draußen: »J’arrive.« Und dann stand er vor ihm, in einer dicken Jacke und mit Hut auf dem Kopf, die Hände steckten in Handschuhen, und er hielt eine Gartenschere griffbereit.
»Commissaire!«, rief er.
»Monsieur Preud’homme«, antwortete Luc und konnte nicht verbergen, wie sehr er sich freute.
»Oh, das überrascht mich jetzt aber. So schön, Sie zu sehen.«
»Sie können sich nicht denken, wie ich mich freue.«
»Nun lassen wir aber mal den Quatsch«, sagte Preud’homme brüsk, »wir sind jetzt ja endlich keine Kollegen mehr, da können wir uns auch duzen, als die Freunde, die wir schon lange sein sollten. Also, Luc, ich bin Paul.«
»Dafür stand also das PP an Ihrem Parkplatz? ’tschuldige, an deinem, ich muss mich erst daran gewöhnen, denke ich.« Schließlich war der Leiter der Bordelaiser Polizei über Jahrzehnte eine Respektsperson für den Commissaire gewesen.
»Das wird schon. Aber sag: Was machst du denn hier am Ende der Welt? Nun komm erst mal in den Garten, ich beschneide gerade die Rosen. Nicht dass noch die Nachbarn tratschen, dass ich Besuch von der Polizei bekommen habe.« Er stieß ein lautes Lachen aus. Luc hatte Preud’hommes Humor immer geliebt.
Davon mal abgesehen aber schien ihm Preud’homme deutlich verändert: Im Büro war er immer in Anzug und Lederschuhen gewandet gewesen, sein Markenzeichen waren die verschiedenfarbigen Fliegen. Hier aber sah er aus wie ein Mann, der die Tage im Freien verbrachte. Er hatte einen grauen Bart, seine Haut war trotz der kalten Jahreszeit wohlgebräunt, und er sah zehn Jahre jünger aus in seinem Gartenoutfit. Aller Stress der Polizeiarbeit war von ihm abgefallen. Alles deutete darauf hin, dass Preud’homme vor über einem halben Jahr die richtige Entscheidung getroffen hatte.
»Bevor die Knospen ausschlagen, will ich noch mal alles etwas zurückschneiden«, sagte Preud’homme und zeigte auf die wilden Rosenbüsche, die eine hölzerne Pagode überspannten. »Du glaubst gar nicht, wie gut mir das tut.«
»Doch, ich kann es sehen«, erwiderte Luc.
»Ja, und es ist auch erstaunlich: Ich weiß endlich wieder, wie meine Frau aussieht. Ich hatte es in den Jahren im Revier vergessen. Und ich kann sagen: Sie gefällt mir sehr gut.« Der alte Mann zwinkerte. »Aber jetzt sag schon, du kommst doch nicht, um einem Mann im Ruhestand einfach so deine Aufwartung zu machen, oder?«
Er fing wieder an, die oberen Äste der Rosen abzuschneiden,
»Nein, es scheint so, als würde das Verbrechen sich in deiner Nähe zu wohlfühlen.«
Preud’homme sah auf. »Dann habe ich mich nicht verhört gestern Abend? Ich dachte, es hätte einen Verkehrsunfall gegeben, wegen all der Sirenen – aber in der Zeitung habe ich nichts finden können, und die weiß bei so was sonst sofort Bescheid.«
»Nein, kein Unfall. Es gab einen Giftanschlag.«
»Wie bitte? Einen Giftanschlag? Hier in Saint-Girons?«
»So ungefähr. Draußen in der Villa Auguste.«
»Was sagst du da?« Die Wangen des alten Polizisten färbten sich rot, und Luc war sich sicher, dass es eher an der Aufregung als an der Kälte lag. »Aber es hat doch nicht etwa Maître Auguste erwischt?«
»Nein, das nicht. Aber der Aufschrei wird nicht weniger groß sein, wenn die Presse davon Wind bekommt. Den Kritiker des Guide , Ugo Gennevilliers, den hat es erwischt.«
»Ach du dickes Ei«, sagte Preud’homme und war sichtlich betroffen. Da kam eine Stimme vom Gartenzaun. »Hallo? Commissaire?«
Überrascht traten Luc und sein ehemaliger Chef aus dem Rosendickicht. »Oh, Ernest, was für eine Überraschung, offensichtlich bin ich ein gefragter Mann, komm rein, schön, dich zu sehen.«
Luc Verlain und der Neuankömmling standen sich einen Moment ungelenk gegenüber. »Darf ich vorstellen? Das ist Commissaire Luc Verlain, du wirst zweifelsohne seinen Namen schon gehört haben, und das ist ein Mann, dessen Namen du auch schon kennst, Luc, das ist Ernest Joffe, ehemaliger Leiter der Polizei in Dax. Wir sind sozusagen gleichzeitig in Pension gegangen.«
»Oh, Commissaire Verlain«, sagte Joffe, und seine Stimme war so freundlich wie angenehm, »sehr erfreut.«
»Das kann ich nur zurückgeben. Und welch passender Zufall. Jetzt muss ich Sie nicht zu Hause stören.«
»Das dachte ich mir, dass wir uns noch kennenlernen werden. Schließlich war ich gestern zuerst vor Ort …«
Es war der alte Polizist, der dem unglückseligen Kritiker am Abend zuvor geholfen hatte. Er hatte zwei Tüten in der Hand, aus denen Baguettes, das bedruckte Papier der Fromagerie, eine Weinflasche und die Schwanzflosse eines Fisches herausschauten. Der Commissaire gab ihm lächelnd die Hand. »Hätte ich mir ja denken können, dass Sie einander gut kennen.«
»Na, Luc, natürlich«, sagte Preud’homme. »Du weißt, wie das ist. Du kommst ja selbst aus einem Dorf. Auch wenn der liebe Ernest ein paar Kilometer weiter und etwas mondäner wohnt: Wir kennen uns schon seit fünfzig Jahren. Wir waren sogar zusammen auf der Schule in Léon. Und beruflich haben wir uns auch nur räumlich voneinander entfernt. Ernest ist im bodenständigen Dax aufgestiegen, und ich bin zu den eitlen Bordelaisern gewechselt.« Alle drei mussten lachen. Das Vorurteil der überheblichen Leute in Bordeaux, die sich selbst für klüger als die Landeier hielten und ihre Stadt für die heimliche Kapitale Frankreichs, hielt sich hartnäckig im Südwesten – und war wahrscheinlich auch nicht ganz falsch.
»Und du warst gestern als einer der Ersten am Tatort?«, fragte Preud’homme. »Warum weiß eigentlich jeder in Saint-Girons von den Neuigkeiten, nur ich nicht?« In Preud’hommes scherzhafter Pose verbarg sich eine Spur von echtem Unverständnis.
»Nun bin ich ja da, um dich darüber in Kenntnis zu setzen, Commissaire général«, sagte Luc heiter.
»Ich war eben in der Bank und hab gesehen, dass Sie hier hinein sind, Commissaire Verlain, und da dachte ich, frage ich mal, wie es Monsieur Gennevilliers geht«, sagte Joffe und fügte hinzu: »Ich weiß natürlich, wie Sie aussehen, so wie ungefähr halb Frankreich, nach der Sache … in San Sebastián.«
Luc spürte, wie ihm ganz heiß wurde. Noch immer konnte er die düsteren Tage nicht vergessen, an denen sein Bild über die Fernsehbildschirme der Republik geflimmert war.
»Tja, ein Polizist lebt gefährlich und stets unruhig«, sagte Preud’homme, wohl auch, um den Moment aufzulösen, »aber nun sag schon, weißt du, wie es dem Kritiker geht?«
»Ganz genau kann ich es nicht sagen, die Ärzte versuchen ihn zu retten. Aber wir können nur hoffen, beten und ermitteln«, antwortete Luc.
»Weiß man denn inzwischen, was die Vergiftung verursacht hat?« Der alte Polizist aus Dax sah erst Luc und dann erklärend Preud’homme an. »Gestern meinten die Angestellten, es gebe eine Verbindung zur Foie gras. Aber sie waren alle so durch den Wind …«
»Die Spurensicherung arbeitet daran«, antwortete Luc und sah, wie Commissaire Joffe ihn musterte.
»Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich nicht ganz sicher sind.«
»Bin ich so ein offenes Buch?«
»Nein, Sie schauen nur so drein, wie ich mich immer fühle, wenn ich einer Sache auf der Spur bin.«
Luc sah sich um, doch der Garten lag mit seinen Rosen und hübsch geschnittenen Buchsbäumen so idyllisch und versteckt da, dass er keine Sorge haben musste, belauscht zu werden. »Ich hege einen großen Zweifel«, begann der Commissaire. »Da ist der beste Kritiker des Landes. Der im besten Restaurant des Südwestens von einer Scheibe Foie gras isst. Eine pure Scheibe, nur ganz leicht angewärmt, aber nicht durchgebraten oder dergleichen. Etwas Salz ist darauf, ein bisschen Pfefferchutney daneben. Aber ein Kritiker beginnt natürlich damit, dass er alle Elemente einmal einzeln probiert.«
»Ist das so?«, fragte Joffe.
»Hab ich auch mal bei Top Chef gesehen«, antwortete Paul Preud’homme. Die drei Polizisten lachten. Die abendliche Sendung im Fernsehen war in Frankreich ein Straßenfeger – es ging darum, dass aufstrebende Jungköche in der Brigade eines Sternekochs, der wiederum in der Jury saß, ihr Talent unter Beweis stellten. Nicht selten wurden die Gewinner später selbst zu Sterneköchen. Es ging um anspruchsvolle Produkte und um anspruchsvolle Gerichte. Kein Wunder, dass die ursprünglich amerikanische Sendung ausgerechnet im Heimatland des Genusses zu einem Riesenerfolg wurde.
»Na ja, und ich glaube, es gibt kaum etwas Zarteres als eine Entenstopfleber.«
»Reden Sie weiter …«
»Gifte sind bitter, das ist eine Binsenweisheit. Die Zunge warnt uns vor ihnen – damit wir uns eben nicht vergiften. Es gibt nur ganz wenige Gifte, die geschmacklos sind. Denken Sie nicht auch, dass der beste Kritiker des Landes in der Lage wäre, auch nur den kleinsten Tropfen Gift in seiner Foie gras zu bemerken? Er hätte doch sofort den Teller zurückgehen lassen. Stattdessen hat er alles aufgegessen und ist erst danach vom Stuhl gefallen.«
Commissaire Joffe sagte leise: »Da haben Sie recht.«
Auch Preud’homme sah Luc nachdenklich an. »Hast du eine Idee, woran es wirklich gelegen haben könnte?«
»Ich werde nach Dax fahren und hoffe, dass ich dort die Antworten bekomme, die Monsieur Gennevilliers retten können.«
»Tun Sie das.«
»Wir waren doch schon beim Du , Paul.«
»Nun ist es mir auch passiert, siehst du …«
»Commissaire Joffe, wenn Sie erlauben, würde ich später einmal bei Ihnen vorbeischauen. Als direkter Nachbar bekommen Sie doch bestimmt relativ viel mit vom Restaurantbetrieb. Mich würden ein paar Details interessieren.«
»Sie sind herzlich willkommen, Commissaire. Jederzeit. Meine Frau freut sich bestimmt sehr, sie liebt es, einen Anlass zu haben, um den besten Rhabarberkuchen der gesamten Region zu backen.«
»Dann à plus tard. «
»Und jetzt kommst du erst mal hier rein, mein lieber Commissaire«, sagte Preud’homme und griff Joffe beherzt unterm Arm. »Ich mach uns einen Kaffee – und das heißt: Ich mach uns eine Flasche Rotwein auf.«
Luc hörte die beiden Männer lachen und ging zu seinem Motorrad. Er war regelrecht erleichtert, den einstigen Commissaire général hier so sehr in seinem Element zu erleben.