Luc hasste Krankenhäuser, und dass er nun schon in das zweite innerhalb von drei Stunden gehen musste, besserte seine Stimmung nicht gerade. Er hatte die Autobahn 63 nach Bordeaux in Rekordzeit genommen, erst kurz vor der Rocade, der Ringautobahn um die Stadt, war der Verkehr dichter geworden. Das ganze Jahr über war die Route eine der Hauptverkehrsachsen des Güterverkehrs durch ganz Europa, alle Lkws aus Spanien und Portugal passierten Bordeaux auf dem Weg gen Norden. Im Sommer kamen dann auch noch Urlauber vom ganzen Kontinent hinzu, da konnte der Weg nach Arcachon schon mal zwei Stunden dauern, bis ins spanische San Sebastián auch gerne mal die doppelte Zeit. Da war das wendige Motorrad eine sehr gute Fahrtzeitverkürzung; auch wenn sich die Gendarmerie sicher wundern würde, wenn sie die Maschine mit sehr vielen Kilometern mehr – und zwei hübschen Fotos aus dem Blitzerautomaten kurz hinter Liposthey – zurückbekam.
Luc nahm denselben Weg wie in der Nacht zuvor und traf tatsächlich auf dieselbe Ärztin, die ihm mit sehr dunklen Augenringen entgegenkam.
»Sie sind immer noch hier?«
»Na, mir scheint, Sie sind auch noch derselbe. Wie ich gerne sage: Augen auf bei der Berufswahl.«
»Ich habe immerhin eine Stunde am Strand geschlafen.«
»Und ich zwei Stunden im Schwesternzimmer. Ich musste einsehen, dass ich dem Patienten todmüde auch nicht helfen kann. Und ich komme einfach nicht weiter.«
»Wie geht es Monsieur Gennevilliers?«
»Den Umständen entsprechend – ach, wie ich diese Formulierung hasse. Aber es ist so: Wir haben ihn stabilisiert, aber auf niedrigem Niveau. Er kann noch einen Tag durchhalten, vielleicht zwei, aber seine Blutwerte bleiben schlecht. Also, erzählen Sie mir alles, was Sie inzwischen in Erfahrung gebracht haben.«
»Es tut mir leid. Bisher haben wir nichts. In der Foie gras, von der er gegessen hat, konnten wir nichts finden, sonst hätte ich längst angerufen. Wobei die Ärztin in Dax sagt, dass nichts zu finden nicht heißen muss, dass da nichts war.«
»Da hat sie recht. Es gibt Gifte, die verschwinden – oder die einfach nicht nachzuweisen sind.«
»Konnten Sie sein Blut analysieren?«
»Ja, sicher, das haben wir natürlich gemacht, aber wir haben nichts gefunden, nur ein wirklich krankes Blutbild.«
»Und sein Mageninhalt?«
»Ich hab ihn noch in der Nacht auspumpen lassen. Die Analyse läuft. Er hatte ja keine Zeit zur Verdauung, deshalb erhoffe ich mir davon noch etwas.«
»Gut. Dann informiert derjenige den anderen, der zuerst Neuigkeiten hat?«
»Dafür brauche ich aber Ihre Handynummer, Commissaire.«
Luc überlegte nicht zum ersten Mal, ob sie mit ihm flirtete. Er gab ihr seine Nummer und speicherte ihre in seinem Telefon. Dann verabschiedete er sich. Im Vorbeigehen konnte er einen Blick auf den Kritiker werfen, der groß und hager, wie er war, das Krankenbett in voller Länge einnahm. Seine spitze Nase und sein bleiches Gesicht ragten unter der Decke hervor. Der Anblick ließ Luc frösteln.
Als er endlich wieder an der frischen Luft war, galt sein erster Gedanke den zwei wichtigsten Menschen – und er beschloss, dass ihm für die Rückfahrt durchaus ein wenig Zeit blieb. Schließlich würde Docteur Giraud erst mal alle Lebensmittel analysieren müssen – und für den Besuch beim bislang wichtigsten Protagonisten dieses Falles brauchte er auch noch ein wenig Bedenkzeit.
Also setzte er sich auf das Motorrad und schlug statt des Wegs gen Süden jenen nach Westen ein, durchfuhr die Stadtteile Pessac und Mérignac, passierte die Weinfelder des legendären Château Pape Clément, die mitten in der Stadt lagen, überquerte erneut die Rocade und beschleunigte dann endlich auf der schnurgeraden Départementale 6 , die ihn in die immergrünen Seekiefernwälder führte und dann nach Salaunes, um Sainte-Hélène herum und schließlich durch das Dörfchen Brach, das in seinem ersten Fall in der Aquitaine eine unrühmliche Rolle gespielt hatte. Jedes Mal wenn er an dem Wald von Brach vorbeifuhr, musste er an den Schusswechsel denken, der seinem Freund Etxeberria um ein Haar das Leben gekostet hätte.
Nach einer kurvenreichen Strecke durch den Wald von Carcans fuhr er endlich in sein Heimatdorf ein: Carcans Plage, dieses wunderschöne Fleckchen Erde genau am Strand mit seinen Stelzenhäusern, die reiche Pariser in den Wald unterhalb gesetzt hatten, und den einfachen Holzhütten, den Surferhäusern und den kleinen Restaurants in den Strandvillen, die genau hinter der Düne standen.
So langsam erwachte Carcans Plage genau wie die restlichen Stranddörfer nach dem langen Winter zum Leben, so langsam kehrten die Touristen zurück, so langsam begann für die Geschäftsleute, die Gastwirte, die Vermieter, die Betreiber der Fleischerei, der Bäckerei, des Strandladens, des Zeitungsladens und der Surfschulen die wichtigste Zeit des Jahres – aber auch die stressigste. Wie jedes Jahr galt es in wenigen Monaten so viel Geld zu verdienen, dass es auch über den Winter reichte, in dem nichts zu verdienen war, und dabei trotz aller Wünsche und Ansprüche der Touristen immer schön freundlich zu bleiben.
Beinahe alle Geschäfte und Restaurants des kleinen Strandortes lagen in der Avenue de la Plage. Parallel zu dieser geschäftigen Fußgängerzone verlief die viel ruhigere Avenue des Dunes, in der auch die Cabane von Lucs Vater Alain stand. Von jedem Haus in der Straße aus war die große Düne zu sehen. Während die Hausbesitzer am Mittelmeer zumeist einen Blick aufs Wasser hatten, waren die Bewohner der Atlantikküstendörfer gar nicht traurig über den Sandberg in ihrem Vorgarten, schließlich war die bewachsene Düne so etwas wie eine Lebensversicherung, wenn Sturm- und Springfluten den Ozean mal wieder in Richtung des Dorfes peitschten.
Luc konnte sich lebhaft daran erinnern, wie er als kleiner Junge vorm Kaminofen gesessen hatte in solch stürmischen Nächten, wie der Wind an den Fensterläden gerissen hatte und ums Haus getanzt war und wie Alain ihn jede Stunde einmal bei der Hand genommen hatte, um die Düne zu erklimmen, aus zwei Gründen: einmal, um zu sehen, ob sie hielt – und außerdem, weil er seinem Sohn die Herrlichkeit dieses Naturschauspiels nicht vorenthalten wollte. Es hatte funktioniert: Von jeher liebte Luc die Kräfte und die Variationen des Wetters hier am Meer.
Und irgendwie schien er das auch seiner Tochter vererbt zu haben: In den stürmischen Nächten dieses Winters hatte Aurélie in ihrer Wiege am Kamin geschlafen wie ein Murmeltier.
Luc stellte die Maschine direkt vor der Holzhütte ab, dann ging er zur Tür und wollte gerade öffnen, als Anouk schon lächelnd nach draußen trat.
»Sie schläft«, sagte sie fröhlich. »Und ich habe geduscht und sogar etwas gegessen. Ein ganz neues Lebensgefühl.«
Er nahm sie in die Arme, und sie küssten sich, in der Ferne hörten sie das Meer rauschen.
»Wie läuft dein Fall?«, fragte sie, während sie einander noch im Arm hielten.
Luc atmete einmal schwer in Anouks Haar. »Die Foie gras war es jedenfalls nicht, die ihn vom Stuhl geworfen hat. Obwohl davor gewarnt worden ist. Ich verstehe das alles nicht. Und Aubry … bleibt Aubry.«
»So schlimm?« Sie trat ein Stück zurück und sah ihn sorgenvoll an.
»Ich werde nicht fluchen«, antwortete Luc lächelnd. Anouk wollte gerade eine weitere Frage stellen, als sein Telefon klingelte.
»Ja, Hugo?« Anouk machte ihm ein Zeichen.
»Hey, Commissaire. Alles gut mit dem Kritiker?«
»Ja, er ist einigermaßen stabil. Schöne Grüße von Anouk.«
Er hörte Hugos Lachen am anderen Ende. Der Brigadier vermisste seine Partnerin sehr, die beiden waren ein tolles Team gewesen. »Oh, grüßen Sie sie bitte auch von mir. Ich habe übrigens gute Nachrichten.«
»Gibt es doch noch einen Treffer bei der Foie gras?«
»Nein, das bisher nicht. Aber ich habe im Feuerwehrhaus von Saint-Girons die Halle ausräumen lassen. Die Polizei aus Dax stellt uns Computer zur Verfügung. Heute Abend sollten wir einsatzbereit sein.«
»Sehr gut. Jetzt müssen wir nur noch dem Chef Hausverbot erteilen«, flachste Luc.
»Ich habe ihm jedenfalls nicht gesagt, wo unsere Einsatzzentrale ist.«
»Du bist bald mal wieder dran mit einer Beförderung, Hugo.«
»Wann werden Sie wieder hier sein?«
»Ich fahre in einer halben Stunde hier los und komme direkt zu dir. Danach würde ich mir aber mal den jungen Fontaine vornehmen.«
»Alles klar, Commissaire.«
»Und ruf noch mal Docteur Giraud an. Wir brauchen bis zum Abend Ergebnisse.«
Als sie den Anruf beendet hatten, wandte Luc sich wieder Anouk zu. Die hatte die Arme verschränkt und sagte heiter: »Na, dann pack ich mal.«
»Was?« Luc verstand kein Wort.
»Der Fall ist kompliziert, Aubry ist noch komplizierter. Da lasse ich dich nicht mit allein. Außerdem stand in meiner Stellenbeschreibung damals nicht, dass mit einem Kind meine Karriere beendet ist. Und wenn es jetzt sogar eine Einsatzzentrale gibt, kann ich dort ja mit Aurélie sein, oder Hugo passt mal auf sie auf, wenn wir beide zusammen ermitteln.« Sie sah ihn fragend an. »Oder gibt es da irgendeinen Grund zur Widerrede?«
»In diesem Moment bin ich der glücklichste Commissaire der Welt.«
»Komm, lass uns packen.«
Sie nahmen einander an den Händen und gingen plaudernd zurück in die Cabane. Luc konnte nicht anders, er musste wieder einmal feststellen, wie sehr er diese spontane und kühne Frau liebte.