Kapitel 14

Die Fahrt in das kleine Dorf in den östlichen Landes dauerte viel länger als am Morgen, weil der Verkehr nun dichter war. Angesichts seiner netten Begleitung lag es Luc aber fern, deswegen nervös zu werden.

»Ist es nicht ein Wunder, dass wir jetzt wieder gemeinsam im Einsatz sind?«

»Ich könnte es mir nicht anders wünschen, aber dass es gleich beim ersten Fall nach der Pause passiert …«

»Ich genieße wirklich jeden Augenblick mit Aurélie«, sagte Anouk, und Luc lächelte ihr zu und nickte, weil es ihm genauso ging, »aber ich freue mich auch wirklich, dass es jetzt wieder losgeht. Das hier«, sie zeigte auf die Straße, auf das Dorf, durch das sie eben fuhren, gedrungene Häuser um einen Kirchturm herum, weiter hinten eine verwunschene Villa, von wildem Wein berankt, »das ist wirklich immer mein Traumjob gewesen, draußen sein, mit Menschen arbeiten, schwierige Fälle lösen, das will ich niemals aufgeben.«

»Das kommt gar nicht infrage – nur gut aufpassen müssen wir … auf uns beide.«

Für einen Moment kehrte Stille ein. Luc hatte schon oft über dieses Thema nachgedacht, aber ihm schien es, als hätte er es genauso gerne verdrängt wie Anouk. Es war kein Thema, über das Polizisten gern sprachen, auch weil es die eigene Selbstgewissheit in Zweifel zog: dass sie stark waren, dass sie Gefahren einschätzen konnten. Dass sie Dinge sahen und aushielten, die andere Menschen nicht erfahren mussten. Sie wussten beide, dass sie gut waren in ihrem Beruf. Gut und vorsichtig. Und doch kannten sie auch die Unwägbarkeiten: eine Festnahme, die aus dem Ruder lief. Ein Zeuge, der plötzlich eine Waffe zog. Eine scheinbar ungefährliche Ermittlung, in der auf einmal das eigene Leben auf dem Spiel stand.

Das war das Los eines Polizisten, das größte Risiko, der einzige Wermutstropfen in einem Beruf, den auch Luc sein ganzes Leben lang ausüben wollte. Aber nun mit diesem Mädchen, das in einer Feuerwache auf dem Boden spielte, umgeben von ihrem Spielzeug, beschützt von Hugo, dem treuen Kollegen, mit seiner kleinen Tochter also, stand ihm das alles noch mal viel klarer vor Augen – die permanente Gefahr, in der sie schwebten –, und auf einmal war da eine Verantwortung, für die Luc nur beten konnte, sie immer tragen zu können. Dass es Anouk ganz genauso ging, spürte er, als sie mit ihrer rechten Hand das Steuer losließ, seine Hand nahm und fest drückte. Er sah ihren nachdenklichen Blick. »Das wird alles gut«, sagte sie leise. »Nun fangen wir erst mal an.«

Luc musste seine Rührung runterschlucken. Er ließ das Fenster herunter, und der kühle Wind drang herein.

»Wir haben also einen Kritiker, der mit einer Vergiftung im Krankenhaus liegt. Die stammt aber nicht von der Entenstopfleber, die er gegessen hat. Welche wiederum aber auch vergiftet war, zumindest gibt es jemanden, der behauptet hat, sie wäre es – fällt dir dazu schon irgendeine schlüssige Verbindung ein? Mir nämlich ehrlich gesagt nicht so richtig.«

»Deine Ärztin im Institut, untersucht sie auch die anderen Stopflebern?«

»Ja, das macht sie. Aber der Fokus liegt jetzt erst mal auf den anderen Lebensmitteln.«

»Wie du sagst, stellte der Kritiker ja für Auguste Fontaine keine Gefahr da – die beiden waren sogar befreundet.«

»Seit vielen Jahren«, erwiderte Luc.

»Wer kann ein Interesse daran haben, dass der Koch nicht noch mal die höchste Zahl an Sternen erhält?«

»Ein Konkurrent?«

»Oder jemand von innen?«

»Aus der eigenen Brigade?«

»Wenn man so liest, was in Spitzenküchen los ist und wie rau der Ton ist, der da teilweise herrscht, dann könnte ich mir das schon vorstellen.«

»Am besten, du lernst Auguste Fontaine nachher einmal kennen – er wirkte auf mich nicht so, aber wer weiß …«

»Er ist aus der alten Riege der großen französischen Köche. Da oben hält es niemand lange aus, ohne ein dickes Fell zu haben. Und dass sein Sohn so aus der Art schlägt …«

Nun war es Anouk, die ihren Satz nicht zu Ende brachte. »Ist das herrlich hier«, sagte sie, als sie durch Grenade-sur-l’Adour fuhren. »So ein hübsches Städtchen.«

»Ja, in dieser Bar habe ich heute im Morgengrauen meinen ersten Kaffee getrunken. Komisch, fühlt sich an, als wäre es schon drei Tage her.«

»Stell dir vor, einen Apéro unter den Arkaden, wir zu dritt.«

»Heute Morgen hab ich mir das gewünscht.«

Einige Minuten später wies Luc seiner Partnerin den Weg von der Hauptstraße auf den kleinen Feldweg, der sie zum Bauernhof von Guillaume Fontaine brachte. Diesmal kam ihnen der Hund schon bellend entgegen. Otis , erinnerte sich Luc. Als sie ihre Türen öffneten, hörten sie den Pfiff aus der Ferne. Otis besann sich sofort und rannte in Richtung Scheune.

Sekunden später kam ihnen Guillaume Fontaine auch schon entgegen. In der Hand hielt er einen Eimer, an seiner Seite ging eine Frau; Corinne, vermutete Luc.

Als sie einander gegenüberstanden, streckte Guillaume Fontaine erst Anouk die Hand hin, dann auch dem Commissaire. Er hatte sich rasiert. Das Wasser im Eimer war rot, und ein schmieriger Lappen hing über dem Rand. »Willkommen«, sagte der Bauer, »das ist Corinne.«

Guillaumes Frau trug ein schlichtes weites Kleid mit einem diagonalen Streifenmuster, das sehr gut an ihr aussah. Sie hatte langes braunes Haar und eine sehr helle Haut und wirkte eigentlich wie eine fröhliche Frau, jedenfalls konnte Luc sie sich sehr gut lachend vorstellen, aber heute sahen ihre blauen Augen mit einer Mischung aus Traurigkeit und Sorge zwischen den Polizisten und ihrem Mann hin und her.

»Sie sind gerade dabei, die Schmiererei zu entfernen?« Auch auf die Entfernung war blass die zackige Schrift zu erkennen, die nun in Farbschlieren von der Wand lief.

»Ja, ich hab Ihre Kollegen gefragt, und die haben gesagt, es sei in Ordnung«, antwortete Guillaume. »Es ist eine Heidenarbeit, ich weiß nicht, was die benutzt haben. Mir ist immer noch nicht klar, wie die so schnell die ganze Scheune beschmieren konnten. Das war so weit oben, es hätte uns eigentlich auffallen müssen.«

»Commissaire, ich hab wirklich Angst, dass die wiederkommen«, sagte Madame Fontaine schnell und forsch, so als hätte sie lange darauf gewartet, ihre Sorgen zu teilen. »Erst haben sie nur Dinge beschädigt, aber jetzt gehen sie immer weiter. Was soll denn als Nächstes passieren?«

Beruhigend legte Guillaume ihr seine tropfende Hand auf den Arm. »Wir werden gut aufpassen, chérie. Und Otis ist jetzt die ganze Nacht draußen. Die kommen nicht wieder.«

Doch der Blick von Madame Fontaine ruhte weiter auf Anouk und Luc. »Was sagen Sie denn dazu?«

Luc beugte sich hinab und streichelte Otis den Kopf, der sich neben seinen Beinen niedergelassen hatte. Er hatte keinen Zweifel, dass der Hund, so freundlich, wie er jetzt war, den Tätern ganz anders begegnen würde. »Wo war der Hund denn, als die Schmierfinken vermutlich zugange waren?«

»Wir hatten immer zwei Hunde, aber Perleau ist letztes Jahr gestorben«, sagte Guillaume Fontaine mit trauriger Miene. »Es ist nicht leicht, einen guten Hütehund zu finden, der mit den Enten umgehen kann. Einen ausgebildeten Hund können Sie nicht bezahlen, ich werde also selber einen Welpen ausbilden. Aber das braucht Zeit, das mache ich im Sommer, wenn wir keine Enten mästen. Deshalb hat Otis gerade viel mehr zu tun. Nachts ist er mit den Enten draußen, die auf der Wiese schlafen. Wir haben hier Füchse, Seeadler und Bussarde, die wollen alle unsere Tiere jagen. Gott sei Dank noch keine Wölfe, aber in den Pyrenäen gibt es so reichlich davon, es kann also nicht mehr lange dauern.«

»Madame Fontaine, haben Sie eine Idee, wer Ihnen hier solche Probleme bereitet?«

»Ich … Ja, mein Mann wird es ja schon erzählt haben, aber es gibt in Richtung Saint-Sever einen Campingplatz, der liegt genau am Fluss. Da wohnen seit letztem Jahr junge Leute, die ab und zu mal Plakate aufhängen, mit denen sie gegen die Stopfleberproduktion protestieren. Letztes Jahr haben sich ein paar Bauern mit denen angelegt.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Anouk, »woher kommen die?«

»Nicht von hier, ich habe im Super K gehört, die kommen aus Holland und Deutschland. Teenager aus reichen Elternhäusern, die auf einmal glauben, Umwelt- und Tierschutz wäre das Größte, dabei fahren sie selbst mit dicken Jeeps durch die Gegend. Aber was man so hört, die könnten es sein.«

»Das klingt zumindest so, als könnte es passen. Hören Sie, Monsieur Fontaine, wir glauben jetzt, dass es nicht die Foie gras war, die den Kritiker vergiftet hat. Jedenfalls nicht die, von der er gegessen hat.«

»Ach nein?« Der Bauer schien wirklich überrascht.

»Jedenfalls haben wir bisher kein Gift finden können. Irritierend ist daran nur Ihre Aussage, dass Sie eine klare Warnung erhalten haben.«

»Natürlich habe ich das. Glauben Sie mir etwa nicht?« Wieder klang Guillaume wütend.

»Wir wissen, dass Ugo Gennevilliers mit dem Tod ringt. Das reicht mir für meine Ermittlungen. Und es bedeutet eben, dass nun meine Kollegen kommen werden und nicht nur Proben mitnehmen, sondern alles.«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Es ist unglaublich, aber was bleibt mir? Ich kann mich ja nicht an meine Scheune ketten.«

»Das würde ich Ihnen auch nicht raten. Wir werden versuchen, so wenig Ware wie möglich zu zerstören.«

»Und auf den Kosten bleibe ich natürlich sitzen.«

»Aber woran ist er denn …«

Corinne Fontaine stockte und wurde immer blasser. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht wirklich an die ganze Tragödie geglaubt, bis sie es von ihm bestätigt bekommen hatte. Anouk schaffte es gerade noch, an ihre Seite zu eilen, als die Bäuerin schon in ihre Arme sank. »Sie schwitzt ganz stark«, sagte die Polizistin, und Luc half ihr, weil Guillaume Fontaine eher unschlüssig schien, was er tun sollte. »Kommen Sie, wir bringen sie nach drinnen«, forderte die Polizistin ihn auf, und sie trugen die schlanke Frau in das Wohnzimmer des Hauses, wo sie sie auf die Couch betteten und die Beine hochlegten. Anouk fühlte ihren Puls. »Es scheint alles in Ordnung zu sein, nur eine normale Ohnmacht. Ich bleibe bei ihr.« Sie machte Luc ein Zeichen. Der verstand und sagte:

»Monsieur Fontaine, ich würde mir in Ihrer Scheune gerne noch etwas ansehen, würden Sie mich bitte begleiten?«

Widerstrebend ging der Bauer voraus. Als sie draußen standen, wies er zur Scheune. »Was genau wollen Sie ansehen?«

Luc räusperte sich. »Nichts, Monsieur. Ich gebe Ihnen hier die Chance, mir die Wahrheit zu sagen.«

»Was? Was meinen Sie?«

»Dass ich Ihnen nicht glaube, wenn Sie vorgeben, keine Ahnung zu haben, was hier vor sich geht.«

»Ich verstehe nicht …«

Mit einem Mal kam es Luc seltsam vor, dass sie hier so miteinander ringen mussten. Er verstand diesen Guillaume Fontaine ja irgendwo. Weil er genauso ungern seine Sorgen mit der Welt geteilt hatte, bis er Anouk traf – und weil er bis dahin die Dinge am liebsten mit sich selbst ausgemacht hatte. Aber heute begann ihn diese Taktik wirklich zu nerven.

»Es gibt hier so viele Geflügelzüchter – und von allen trifft es ausgerechnet Sie. Warum? Weil Sie ein Aushängeschild der Region sind, ja, das könnte der Grund sein. Ihr Vater ist berühmt. Vielleicht will man Sie auch erpressen. Aber die Schmierereien und all das? Ich denke, Sie wissen ganz genau, was hier gespielt wird. Und als Ihre Frau die Kids vom Campingplatz erwähnt hat, da haben Sie ziemlich gezuckt. Sie hatten mir davon nichts erzählt – dabei wäre es doch naheliegend gewesen.«

»Ich … Ich dachte, dass die nicht so weit gehen würden. Das sind doch harmlose Spinner.«

»Die nicht von hier sind. Sondern aus dem Ausland.«

»Was soll das heißen?«

»Das muss die Erklärung für den Schreibfehler sein – Tortionaire mit einem N. Wären es französische Tierschützer, wüssten die, glaube ich, ganz genau, wie sie ihre Anschuldigungen schreiben müssen.«

»Sie … Hören Sie, ich weiß gar nichts über diese Leute. Gehen Sie doch einfach zu denen und schauen Sie nach, was das für Kasper sind. Ich habe keine Ahnung, was hier passiert ist – und da es den Kritiker ja nicht durch meine Produkte erwischt hat, wie Sie sagen, sollten Sie sich vielleicht lieber dem eigentlichen Fall zuwenden!«

»Na, na, nicht so unwirsch. Sie wollen also nicht wissen, wer das war? Ihre Frau sorgt sich …«

»Wie gesagt: Otis wird sich darum kümmern«, sagte Guillaume Fontaine mit harter Miene. Dann drehte er sich um und ging wieder hinein. Das Gespräch schien für ihn beendet zu sein.

Luc sah ihm noch eine Weile nachdenklich hinterher, dann folgte er Fontaine, um Anouk abzuholen.