Als sie wieder im Auto saßen, riskierte Luc einen Blick auf die Uhr. »Schaffen wir es überhaupt noch zu dem Campingplatz? Wir müssen doch eigentlich mal nach Aurélie sehen …«
Anouk legte ihre Hand auf seine. »Du bist ein Helikoptervater«, sagte sie lachend, »Hugo schafft das spielend. Und ich muss erst wieder in drei Stunden stillen, es ist also alles gut. Los, sehen wir uns die écolo -Teens an.«
Die Straße wand sich in kleinen Kurven in Richtung Westen, rechts lag das Flüsschen tief in seinem Bett, umgeben von hohen, schattenspendenden Bäumen. Links standen verstreut ein paar Gebäude, Scheunen und dergleichen, die zu den umliegenden Höfen gehörten. Auf den Wiesen dahinter liefen Enten in Scharen herum und pickten vom saftigen Grün des Frühlings.
»Nein, allein ist Guillaume mit seiner Profession hier wirklich nicht«, sagte Luc.
»Das ist die größte Geflügelregion Europas«, antwortete Anouk. »Na, Ungarn noch, aber die Zustände dort – ich habe mal eine Dokumentation gesehen, unglaublich.« Sie schüttelte den Kopf.
»In New York dürfen Restaurants Foie gras nicht mal mehr anbieten. Das hat die Züchter schwer getroffen. Viele andere Länder haben das Stopfen der Tiere längst verboten. Besonders in Europa. Es verstößt auch gegen die Tierschutzgesetze der EU .«
»Und warum ist es in Frankreich anders?«
»Hm«, murmelte Anouk, »weil in Frankreich eben einiges anders ist, besonders wenn es um Lebensmittel geht. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als das Gesetz in der Mache war, damals habe ich noch in Nizza gelebt und davon in der Zeitung gelesen und fand es einfach nur unglaublich. Die Nationalversammlung hat dann, das ist jetzt fünfzehn Jahre her, entschieden, Foie gras zum nationalen Kulturgut und zum gastronomischen Kulturerbe zu machen. Diese Erklärung wurde dann ins Landwirtschaftsgesetz übernommen und steht nun über allen Tierschutzgesetzen. Selbst wenn die immer strenger werden, ist die Stopfleber damit unantastbar.«
»Puh, wahrscheinlich hab ich damals, als ich in Paris lebte, alles ausgeblendet, was mit dem Südwesten zu tun hatte.«
»Oder du hast einfach jeden Abend zu hart gefeiert.«
»Auch eine Möglichkeit.« Sie lachten beide. »Aber findest du nicht, dass es die Tiere bei Guillaume Fontaine schon gut haben? Er hat mir gezeigt, wie sie leben. Ich meine, sie wachsen ein halbes Jahr in völliger Freiheit auf, können Gras fressen, welches Zuchttier hat es schon so gut?«
Anouk zog ihre Stirn in Falten. »Kann schon sein. Aber dann kommt das Mästen. Einige schlimme Tage.«
»Es ist wirklich eine schwierige Angelegenheit«, erwiderte Luc, gerade als sie in Saint-Sever einrollten.
Es war kein großes Dorf, wirklich nicht, aber schon nach ein paar hundert Metern riefen Anouk und Luc fast gleichzeitig: »Wow!« Der Ort war eine Aneinanderreihung von sehr schön sanierten Sandsteinhäusern, die sich alle um den Mittelpunkt gruppierten: die alte Benediktinerabtei aus dem elften Jahrhundert. Sie stand so zentral in der Dorfmitte, dass die Bewohner in all den Jahrhunderten ihre Häuser einfach angebaut hatten, sodass der Fensterladen des Obsthändlers und die Markise der Boulangerie quasi den Eingang zum Kloster streiften.
»Das ist ja echt pittoresk hier«, sagte Anouk, als sie in Richtung Campingplatz abbogen.
»Es ist immer das Gleiche in der Aquitaine«, stöhnte Luc. »Kaum hat man sich auf einen Ort für den Wochenendausflug festgelegt, schon findet man um die Ecke einen anderen, der noch schöner ist, und alles wird wieder durcheinandergeworfen.«
Wieder mussten beide lachen.
»Bis wir wieder Liebeswochenenden verbringen, werden wir wohl noch etwas warten müssen, oder?«
»Wieso?«, fragte Luc mit weit aufgerissenen Augen. »Wir haben doch Hugo.«
Anouk grinste. »Der wird uns was pfeifen. Aber mal im Ernst: Dein Papa würde sich bestimmt freuen, wenn er Aurélie mal über ein Wochenende haben kann. Dann kann er ihr das Bassin zeigen oder so etwas.«
»Das stimmt«, erwiderte Luc. »Das würde ihn sehr stolz machen.«
Alain Verlain hatte die Geburt seines Enkelkindes tatsächlich neue Lebenskraft gegeben. Wegen ihm war der Commissaire vor knapp drei Jahren ja erst aus Paris in den Südwesten zurückgezogen, in dem Moment, als eine Krebsdiagnose dem Vater nicht mehr viel Zeit gegeben hatte – und Luc einmal ein guter Sohn sein wollte. Doch die gemeinsam verbrachten Monate und eine lange Therapie mit anschließender Reha hatten den Zustand des alten Mannes so weit verbessert, dass er im Falle der ermordeten Austernzüchter sogar bei den Ermittlungen helfen konnte. Genau wie im Falle des toten Bürgermeisters am Cap Ferret – mit welchem Elan sein Vater da zugange gewesen war. Und mitten in den Ermittlungen kam Aurélie zur Welt – fortan war es das Größte für Alain geworden, den Kinderwagen stolz durch Carcans Plage zu schieben, ständig stehen zu bleiben und allen Bewohnern, Urlaubern und anderen Flaneuren seine Enkelin vorzustellen.
Anouk hatte recht: Alain würde sich toll um Aurélie kümmern, wenn sie mal eine Nacht für sich sein wollten – er hoffte, dass sein Vater noch lange die Kraft zum Opasein haben würde.
Die Straße wurde schmaler und schmaler, und hinter einem Fußballplatz wies ein großes Schild auf den Campingplatz Paradis Les Rives de l’Adour hin.
Luc lenkte den Wagen über den Sandweg und durch eine offen stehende Schranke auf den Parkplatz vor der Rezeption. Der Platz wirkte nicht überfüllt, aber das hätte den Commissaire auch gewundert. Das hier war höchstens die Vorsaison, insbesondere für die Camper aus Holland und Deutschland.
»Niemand da«, sagte Anouk, als sie einen Blick durch das Fenster der Rezeption geworfen hatte, die sich in einem Container aus Holz befand. »Na, dann gehen wir mal nachsehen«, antwortete Luc. Sie gingen an den Mobile Homes vorbei, die in Reih und Glied standen, aus weißem Holz mit blau gerahmten Fenstern, eines so ausgestattet wie das andere. Ein Sommerurlaub in so einem Haus – das wäre ein Graus, dachte Luc.
Weiter hinten kamen die Abstellflächen der Wohnmobile und Zelte. Schlafen unter freiem Himmel, das wäre schon eher sein Ding. Sie sahen zwei Wohnmobile mit den gelben Kennzeichen der Niederlande. In der Ferne hörten sie Musik. Anouk wies Luc auf ein Laken hin, das mit schwarzer Schrift bemalt zwischen zwei Bäumen in der Luft flatterte. Vive les animaux stand da.
»Ich glaube, hier sind wir richtig«, sagte Anouk. Hinter dem Laken befand sich eine Ansammlung von alten Wohnwagen, die in einem Viereck standen wie eine Wagenburg. So war das Innere des Platzes nicht zu sehen. Luc betrachtete die Kennzeichen: schwarz auf weiß, die europäische Flagge, der Buchstabe D. Er fand es immer witzig, dass ausgerechnet im Automobilland Deutschland so viele Leute so ökologisch waren.
Die Musik schien aus einem der Wohnwagen zu kommen, laute Rockmusik, nicht melodisch, nur ärgerlicher Lärm. Sie suchten die Lücke zwischen den Wagen, doch bevor sie eine gefunden hatten, bewegte sich im Inneren des nächsten Wagens eine Gardine. Dann hörten sie die Stimme eines Jungen, der rief: »Cops, lauft!«
Auf einmal ging alles ganz schnell. Anouk und Luc zwängten sich durch eine der Lücken, stiegen über eine Anhängerkupplung, und dann sahen sie schon, wie auf der anderen Seite zwei Gestalten davonpreschten. Verdammt. Luc klemmte seine Waffe im Holster fester, damit sie auf keinen Fall herausfiel. Der Junge, der die anderen eben gewarnt hatte, stellte sich ihnen in den Weg und wollte Anouk aufhalten, doch Luc schubste ihn zur Seite. Dann rannten sie beide hinter den Flüchtigen her.
»Police, warten Sie!« Doch die jungen Leute – jetzt erkannte er eine Frau mit langen blonden Haaren und einen großen Jungen mit dunklem Teint und Flipflops – waren viel zu weit vor ihnen. Sie rannten in Richtung Fluss. »Bleibt stehen!«
Sie sahen die beiden einen Hügel runterrennen, und dann hörten sie schon das Platschen des Wassers. Hellblau sah der Adour hier aus, der tief in seinem Bett floss, aber als die beiden Polizisten näher kamen, mussten sie feststellen, dass die Jugendlichen es auf der anderen Seite schon wieder herausgeschafft hatten.
»Okay, das können wir vergessen«, sagte Anouk. »Die kennen sich hier viel zu gut aus. Da drüben ist alles voller Wald.«
Luc nickte, dann nahm er sein Telefon aus der Tasche. Er verscheuchte die Mücke, die sich ihm auf die Wange gesetzt hatte und wählte anschließend Hugos Handynummer. Der Brigadier hob sofort ab.
»Hugo? Wir sind es. Wie geht es Aurélie?«
»Bestens, Commissaire. Sie hat eben ihren ersten Schritt gemacht.«
»Sehr witzig. Kannst du bitte die Kollegen schicken? Ganz egal ob Police Municipale oder Gendarmerie. Wer schneller hier ist. Wir sind auf dem Campingplatz von Saint-Sever. Hier campieren Umweltschützer aus dem Ausland, die offenbar Ärger mit den Geflügelbauern suchen. Ich brauche einen Durchsuchungsbeschluss für alle Wagen, und ich möchte, dass die Camper in unsere Feuerwache gebracht werden. Jedenfalls die, die nicht vor uns weggelaufen sind. Nach den anderen fahnden wir, wenn wir wissen, wer sie sind.«
»Alles verstanden, Commissaire.«
»Gut. Wir sehen uns noch hier um, und dann kommen wir wieder. Hältst du es noch eine Stunde mit der Kleinen aus?«
»Ich versuche ihr noch ein paar ganze Sätze beizubringen.«
»Oder Klavier. Klavier wäre noch besser.«
Er hörte Hugo lachen, dann legte er auf. Zusammen gingen sie zurück zu den Wohnwagen. Der Weg am Fluss war ein wahres Mückenparadies. Schon nach wenigen Minuten mussten sie sich beide kratzen.
»Na, jetzt ist der letzte Vogel natürlich auch ausgeflogen«, sagte Anouk, als sie wieder den Platz zwischen den Wagen erreichten, der nun völlig verlassen dalag. In der Mitte des Rondells glommen die Überreste eines Lagerfeuers, daneben lagen leere Bierflaschen aus dem Discounter, nur eine halb volle Flasche Rotwein war stehen geblieben.
Anouk wollte eben in den größten Wagen hineinsehen, aber Luc griff sie am Arm. »Lass mich«, sagte er und zog seine Waffe. Sie wussten nicht, um wen es sich hier handelte. Vielleicht waren es harmlose Naturfreunde, vielleicht aber auch nicht. Er riss die Tür auf und ging nach drinnen. »Sicher!«, rief er, als er auch die hintere Tür zur muffigen Toilette geöffnet hatte. Der Wagen war leer. Anouk kam dazu und sah sich um. Der Gang war so eng, dass sie nur hintereinander stehen konnten. »Verdammt, wie hält man es denn in diesem Mief aus?«, fragte sie und hielt sich die Nase zu.
»Riecht wie eine WG von zwölf jungen Männern«, antwortete Luc.
»Hast du da Erfahrungswerte?«
Er zog die Schubladen der kleinen Küche auf. Schmutziges Besteck, eine Ölflasche, drei Konserven, deren Aufdruck schon abgeplatzt war. Kein Hinweis darauf, wovon sich diese Leute ernährten.
Anouk machte sich an der Sitzbank zu schaffen, wo normalerweise Fahrer und Beifahrer saßen, darüber war ein Bett heruntergezogen. Sie drückte es wieder nach oben an die Decke und pfiff durch die Zähne. »Bingo!«, rief sie und hielt einen Farbeimer hoch. Rote Farbe, ein ausländisches Etikett. Deutsch, wenn Luc sich nicht täuschte.
»Manchmal kann es so einfach sein«, erwiderte Luc.
»Fast zu einfach.«
»Jedenfalls würde ich um eine störungsfreie Nacht im Gartenzelt wetten, dass es diese Farbe war, die an Guillaumes Scheune geschmiert wurde.«
»Nun müssen wir die Schmierer nur noch erwischen und gucken, ob sie auch als Mörder infrage kommen.«
»Jemand muss hier Wache stehen. Die wollen ja sicher bald zurück nach Hause. Hier sind ihre Wohnwagen. Hier ist ihr ganzes Hab und Gut.«
»Ja, lass uns die Wagen fest verschließen. Mit dem hier.«
Luc hielt den Autoschlüssel in der Hand, der im Schloss gesteckt hatte, damit die Elektrik funktionierte.
»Sehr gut. Aber auf die Kollegen sollten wir schon noch warten.«
In der Ferne erklangen Sirenen.
»So schnell sind die Kollegen aber selten …«
»Hugo hat wohl ganze Arbeit geleistet.«