Kapitel 21

»Hübsch hier«, sagte Hugo, als sie Saint-Sever erreicht hatten und Luc den Wagen am Rande des Ortszentrums parkte. »Aber wo ist der Campingplatz?«

»Ich will nicht noch mal mit unserem Auto dort einreiten, damit die uns wieder vor der Nase wegrennen«, antwortete der Commissaire. »Auch wenn es nur Buttersäure war – ich will die Kids diesmal drankriegen. Aber dafür braucht’s eine kleine Finte.«

Anouk und Hugo sahen Luc fragend an, und selbst Aurélie schien den veränderten Ton im Auto zu spüren und hörte interessiert zu.

»Du gehst voraus, Anouk. Sie werden nicht am Wohnwagen sein. Aber weit weg sind sie auch nicht. Du hast ja die Fotos gesehen. Mach dir ein Bild.«

Seine Partnerin grinste ihn an. »Und ich weiß auch, wie ich am wenigsten auffalle.« Luc musste gleichfalls grinsen, sie verstanden sich wieder einmal blind.

Hugo lehnte sich vom Rücksitz nach vorne: »Was mach ich?«

»Du hast die wichtigste Aufgabe – du passt noch einmal auf die künftige Polizeichefin von Bordeaux auf. Okay?«

Hugo sah Aurélie lächelnd an. »Sollen deine Eltern doch sagen, dass ich dich adoptieren soll.« Er schnallte das kleine Mädchen aus dem Kindersitz ab. »Na gut, dann schauen wir mal, wo wir eine hübsche Wiese zum Krabbeln finden.«

»Hier«, sagte Luc und gab Anouk aus seiner Innentasche seinen Ohrknopf, der mit dem Funk verbunden war. »Ich folge dir in einigem Abstand, und du gibst mir ein Zeichen, wenn du sie gefunden hast.«

Anouk nickte, steckte sich den unscheinbaren Knopf ins Ohr und befestigte das Signalgerät unter ihrer Lederjacke. »Toi, toi, toi.«

Sie stieg aus und ging in Richtung des Campingplatzes davon. »Viel Spaß euch beiden«, verabschiedete sich Luc von Aurélie und Hugo, dann folgt er Anouk.

Die Avenue du Général de Gaulle stieg in Richtung Norden leicht an, dort wo Luc den Fluss vermutete. Er ging an den alten Landaiser Stadtvillen vorbei: spitze Dächer, weiße Fassaden, kleine Intarsien aus rotem oder petrolfarbenem Holz. Je näher der Commissaire dem Wasser kam, desto erfüllter war die Luft von Insekten, schon so früh im Jahr flogen Zitronenfalter, kleine blaue Libellen tanzten förmlich um ihn herum. In zweihundert Metern Entfernung konnte er Anouk erkennen, die langsam und gemächlich dahinging. Sie war – und er war sicher, dass ihm das nicht nur seine rosarote Brille eingab – die bemerkenswerteste Polizeibeamtin, die er kannte. Sie war in der Lage, sich wie ein Chamäleon an ihre Umgebung anzupassen, obwohl sie so hübsch war, dass sie eigentlich überall hätte auffallen müssen. Und sie war wach und schnell und so überaus klar in ihren Entscheidungen und Taten. Wenn jemand diese jungen Leute finden konnte, dann war sie es. Weil sie sich wie keine Zweite in andere Menschen hineinversetzen konnte.

Er passierte die Einfahrt zum Campingplatz, Anouk hatte nicht diesen Weg genommen, sondern war unterwegs in Richtung der gegenüberliegenden Adour-Seite. Auch Luc betrat die Brücke über den Fluss, blieb dann aber erst mal oben an der Brüstung stehen. Rechts floss das Gewässer breit in seinem Bett stromabwärts, links der Brücke waren die Flussauen mit ihren Abertausenden von Kieseln, die hier und da kleine Bänke bildeten. Die großen Steine und die Kiesel des Flusses wurden hier in der Region schon seit zweihundert Jahren zum Bau der traditionellen Häuser verwendet, wohl auch deshalb liebten die Menschen ihren Adour. Auf einer kleinen Insel inmitten des Stroms standen zwei Angler mit Gummistiefeln und Wathosen, die in regelmäßigen Abständen ihre Fliegenangeln in den Fluss sausen ließen, wahrscheinlich fischten sie hier Lachsforellen. Auch Aale und lamproies , die seltenen Neunaugen, schwammen in dem sauberen Gewässer. Das Geräusch war angenehm gleichförmig. Angel auswerfen, die Sehne flog, das Eintauchen des Schwimmers, das langsame Einholen der Sehne. Und dann wieder alles von vorne. Luc wünschte sich in diesem Moment, in vielen, vielen Jahren, nach dem Ende seiner Laufbahn, auch hier stehen und einfach die Angel in den Fluss werfen zu können. Na ja, vielleicht ging es auch früher, er könnte Aurélie das Fliegenfischen beibringen.

Er ließ die Atmosphäre auf sich wirken, als er auf einmal in seiner Jackentasche das Geräusch des Funkgerätes hörte. Dreimal zischte es. Die Bedeutung war klar: Anouk hatte die Jugendlichen entdeckt. Dreimal, das hieß drei Uhr von der Position, an der er sie zuletzt gesehen hatte. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Luc löste sich von der Szenerie und rannte los, wetzte die Brücke hinab und wandte sich sofort nach rechts, auf die Promenade des Flusses. Hier standen kleine Bänke, die unter schattigen Bäumen zum Verweilen einluden. Gegenüber war der Campingplatz zu sehen, Luc erkannte von hier die beiden Gendarmerie-Fahrzeuge, die den Wohnwagen bewachten. Er verstand sofort: Hier war der perfekte Platz, um die Polizei zu beobachten und zu sehen, wann sie aufgab und abrückte – und wann der Weg zu den Habseligkeiten wieder frei war.

Und dann sah er sie auch schon: zwei junge Leute, die am Ufer saßen. Ein Junge und ein Mädchen, sie hatten Bierdosen neben sich stehen und eine kleine Musikbox, sie saßen dort ganz unscheinbar, die Beine baumelten im Wasser. Doch sie waren nicht versunken in dem Moment, wie es den Anschein hatte, sie beobachteten ihre Umgebung genau – und deshalb sahen sie ihn auch sofort angerannt kommen.

»Merde!« , rief das Mädchen und dann auf Englisch: »Run!«

Der Junge war sofort auf den Beinen, griff nach ihrer Hand, und dann rannten sie los. Verdammt. Sie waren gut fünfzig Meter vor Luc. Da geschah etwas gänzlich Unerwartetes.

Gerade als sie wieder im Wald verschwinden wollten, der an die Promenade angrenzte, kamen sie an der Frau mit dem Kinderwagen vorbei, die aussah, als würde sie hier spazieren gehen. Der Junge rannte an ihr vorbei, da gab sie dem Wagen einen Schubs, und der fuhr dem Typen genau in die Beine. Es gab einen Rumms, der Junge geriet ins Straucheln, riss den Kinderwagen um und fiel selbst zu Boden. Das Mädchen blieb einen kurzen Moment erschrocken stehen. »Adam!«, rief sie und wollte gerade wieder losrennen, doch der Schockmoment hatte lange genug gedauert. Schon war Luc hinter ihr, griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. Und dann war auch Anouk bei dem jungen Mann, half ihm auf die Beine und drehte seinen Arm auf den Rücken. »Police nationale, cher Adam, jetzt wollen wir mal reden, oder?«

»Aber«, stotterte das Mädchen, »Sie sind ein flic ? Ihr Baby …?« Sie war ganz blass.

Anouk richtete den Kinderwagen auf. »Das Baby krabbelt im Dorf. Das hier ist nur … nun ja, eine Attrappe.«

Grimmig sahen sich die beiden Jugendlichen an, während Luc Anouk heiter zuzwinkerte.