Kapitel 23

»Wow, chérie , schau mal, wie hübsch das hier ist.«

Anouk nahm Aurélie aus dem Kinderwagen und zeigte ihr den Fluss und die alten Stadthäuser mit den Balkonen, die zum Wasser ausgerichtet waren. Sie standen auf der Brücke von Grenade-sur-l’Adour. Das kleine Mädchen war fasziniert von dem Wasser, das über die sonnenbeschienenen Steine tanzte, und hielt die kleinen blauen Augen fest darauf gerichtet. Nach ein paar Minuten legte Anouk sie wieder in den Kinderwagen und ging in Richtung Ortszentrum. Sie erinnerte sich an Lucs Beschreibung des Dorfes und fand sich sogleich in der Szenerie wieder, die er beschrieben hatte. Da waren die alte Kirche, die Häuser mit den hölzernen Balken und die Arkadengänge, unter denen Tische und Stühle standen und im lauschigen Schatten zu einem Apéro einluden.

Es war nicht viel los, da saß nur der Postbote bei einem kleinen Glas Weißwein und daneben zwei andere alte Herren, die jeder ein Glas Bier vor sich stehen hatten.

Auch Anouk verspürte großen Durst, also schob sie den Kinderwagen über die hohe Stufe und betrat die schummrige Bar. Hier sah es aus wie im Frankreich der Fünfziger, wenn Anouk es mit den alten Filmen verglich: Da hingen Werbeplakate in Retroschrift an den Wänden, der Tresen war aus furniertem Holz, natürlich in Dunkelbraun, mit der blank polierten Zinkplatte obendrauf. Die Zapfhähne trugen Bierwerbung, die Pernod-Gläser standen in Reih und Glied, und sogar die beiden Männer am Tresen hätten so auch schon vor siebzig Jahren hier stehen können. Nur der laufende Flachbildfernseher in der Ecke störte das Bild.

Die beiden Männer waren der Wirt und ein anderer Gast in einem gänzlich dreckverschmierten Blaumann. Sie unterhielten sich leise, doch als sie Anouk bemerkten, verstummten sie und blickten die junge Frau ungeniert an.

»Bonjour, Messieurs« , sagte sie freundlich. »Ganz schön warm für März. Kann ich ein Perrier haben?«

»Bien sûr , Mademoiselle«, sagte der Wirt, öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine kleine grüne Flasche. Er gab Eiswürfel in ein Glas und schnitt eine Scheibe Zitrone.

»Soll ich es Ihnen rausbringen?«

»Ich find’s hier eigentlich ganz gemütlich. Und Sie? Feierabend?« Sie lächelte den Gast im Blaumann an.

»Na, wird ja auch Zeit. Wenn man so früh anfängt wie ich …«

»Was machen Sie denn?«

»Ich repariere Landmaschinen. Traktoren und so. Da stehe ich mit den Bauern auf. Also um fünf. Da kann man sich abends schon mal ein Gläschen gönnen.« Er wies auf das leere Glas, und der Wirt schenkte ihm sofort einen neuen Weißwein ein.

»Sind Sie aus Paris?«

»Was? Sehe ich so furchterregend aus?«, fragte Anouk, und die Männer lachten. Wenn eines die Menschen im ländlichen Frankreich immer verband, dann war es der Argwohn gegenüber den Leuten aus der Hauptstadt. Ein Witz über Pariser – und die Gesprächseröffnung war perfekt.

»Nee, ich komme aus Bordeaux, bin nur für zwei Tage hier, um mir Wohnungen anzugucken. Ich hab vielleicht eine Arbeit in Eugénie. Mein Kerl«, sie wies auf das Baby, »hatte keinen Bock mehr auf das Geschrei, na ja, und nun habe ich eben mal Lust umzuziehen.«

Der Blick der Männer veränderte sich: Aus der Durchreisenden mit Kinderwagen war auf einmal eine ansehnliche potenzielle Nachbarin geworden. Und die Geschichte mit Eugénie-les-Bains war durchaus plausibel: Das verschlafene Dorf, das schon Napoleons Gemahlin Eugénie so gut gefallen hatte, war von einem legendären Sternekoch zu einem bekannten Kurort mit unzähligen Hotels umgestaltet worden – hier war man immer auf der Suche nach Fachkräften aus dem ganzen Land.

»Na, darauf trinken wir. Willkommen in Grenade-sur-l’Adour«, sagte der Wirt und holte eine Flasche aus der Kühlung. Anouk winkte lächelnd ab.

»Ich stille noch. Aber wenn das vorbei ist, dann trinke ich für zwei.«

Wieder lachten die Männer lauthals mit.

»Ich war gerade in Saint-Sever. Da war die Hölle los, total viele flics , und ich dachte, hier auf dem Lande hätte ich meine Ruhe vor denen.«

»Was? In Saint-Sever? Wo denn dort?«

»Unten am Fluss. Ich war ’ne Wohnung im Dorf anschauen. Und dann hab ich sie auf dem Heimweg gesehen. Die haben irgendwen verhaftet, auf dem Campingplatz. Aber das ganz große Besteck.«

Der Mechaniker und der Wirt sahen sich verschwörerisch an.

»Hab ich dir doch gesagt: Da hat Guillaume echt aufs Ganze gesetzt.«

»Niemals hat der die verraten. Das glaube ich einfach nicht. Das war Corinne.«

»Na ja, ist ja auch egal. Jetzt haben sie sie jedenfalls eingesackt.«

»Selbst schuld, was lässt die sich auch mit den Scheißökos ein.«

Anouk räusperte sich. »Ey, Jungs, nun aber mal Butter bei die Fische, ich will wissen, in was für ein Wespennest ich mich hier setze – nicht dass die Bullen jetzt hier jede Woche ins Dorf einrücken.«

»Haben Sie was zu verbergen?«

»Hm«, sagte Anouk und grinste. Das genügte.

»Nein, keine Sorge. Wir hatten hier nur etwas Ärger mit ein paar Kids aus dem Ausland, die uns alle für Barbaren halten. Können Sie sich das vorstellen? Die fressen nur Möhren und trinken Dosenbier und wollen uns anpissen, weil wir unsere Traditionen hochhalten.«

»Welche Traditionen denn?«

»Na, die Foie gras. Die ist denen ein Dorn im Auge. Angefangen hat das letzten Sommer, da kamen die her und haben Flugblätter verteilt. Dass man die Tierquälerei abschaffen müsse und so. Aber dann sind sie ein bisschen zu weit gegangen. Die haben die Scheune von einem Freund beschmiert. Das hat der natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Deshalb sind nun die Cops hier. Und haben die Kids hochgenommen.«

»Hätte man sich um die nicht anders kümmern können? Die Bauern hier … Das sind doch viel mehr als so ein paar Kids aus dem Ausland.«

»Die Frau versteht uns«, sagte der Mechaniker und grinste den Wirt an. »Wir wollten uns auch um die kümmern, als sie noch hier am Rande des Dorfes gecampt haben. Aber die hatten irgendwann eine gute Tippgeberin, die noch ein Hühnchen mit Guillaume zu rupfen hatte. Die hat den Kids empfohlen, von hier abzuhauen. Dann sind die nach Saint-Sever – und dann war es uns auch egal. Und jetzt hat es ja ohnehin nur noch den einen Bauernhof betroffen.«

»Wie kann man denn was gegen Foie gras haben?«, fragte Anouk und legte die Stirn in Falten. »Die ist doch so lecker.«

»Na, dabei haben Sie die von Guillaume noch nicht mal gekostet. Das ist die beste. Der Typ versteht sein Handwerk.«

»Guillaume – den werde ich mir merken.«

»Aber nicht zu genau hingucken, der ist nämlich verheiratet – wobei er immer ein Auge hat für hübsche Geschöpfe, wie Sie eins sind«, sagte der Wirt.

»Sonst wäre ihm der ganze Ärger wohl erspart geblieben«, fügte sein Kompagnon hinzu.

»Hä? Was soll das denn heißen?«

»Na, nun kommen Sie erst mal hier an, junge Frau, bevor wir Ihnen weitere Geheimnisse unseres schönen Ortes verraten.«

»Da haben Sie auch wieder recht. Hier …«

Anouk kramte etwas umständlich in ihrem Portemonnaie, darauf bedacht, den Polizeiausweis abzudecken, der aus dem ersten Kreditkartenfach herausschaute.

»Nee, lassen Sie mal stecken, Willkommensgeschenk.«

»Also, merci , das nächste Mal stoßen wir dann richtig an«, sagte Anouk und stand eine Minute später mit Aurélie wieder auf der Straße. »Na, chérie ?«, fragte sie leise. »Wie gefallen dir deine neuen Papas?«