»Da seid ihr ja!«, rief Luc, als Anouk endlich aus dem Wagen ausstieg und Aurélie vom Rücksitz holte. Der Commissaire hatte die letzte Stunde damit verbracht, im nationalen Polizeisystem nach Eintragungen zu der jungen Frau zu suchen – vergeblich. Dann hatte er eine Anfrage an die deutsche Polizei gestellt. Schließlich hatte er Hugo gebeten, die finanzielle Situation von Auguste Fontaine zu überprüfen, genau wie die seiner Söhne. Dabei fiel ihm wieder einmal auf, wie sehr sie noch im Dunkeln stocherten.
»Die Fahrt hierher dauert ewig«, gab Anouk zurück. »Und ich musste einmal anhalten, weil die kleine Demoiselle am Verhungern war. Das bin ich übrigens auch.«
»Na, gleich werden wir ein Dîner bekommen, das wir wohl nicht vergessen werden. Wollen wir? Es ist schon fast sieben.«
Hugo trat aus der Feuerwache.
»Salut , Anouk, alles gut? Hast du was rausbekommen?«
»Ja, das habe ich. So ein Kind ist doch ein toller Türöffner.« Sie strahlte Aurélie an. »Wollt ihr meinen Bericht jetzt gleich?«
»Wenn es jetzt nicht unmittelbar ermittlungsrelevant ist, geht ruhig erst mal essen. Luc, ich hab Commissaire Joffe gesprochen. Er denkt einmal scharf nach und ruft seine alten Kollegen an.«
»Meldet er sich dann bei dir?«
»Noch einfacher: Er hat gehört, dass ihr heute in der Villa zu Gast seid. Und er fragt, ob ihr nicht wieder dort schlafen wollt. Dann könntet ihr Aurélie nebenan ins Bett legen, wenn sie müde ist, und weiteressen – und ihr müsstet nach dem langen Dîner nicht noch fahren.«
Anouk und Luc sahen sich lächelnd an. »Wir ermitteln ab sofort nur noch in Orten, in denen pensionierte Commissaires in Strandvillen leben, okay?«
Eine halbe Stunde später parkten sie im Schatten der joffeschen Villa. Luc breitete eine Decke aus, um noch etwas mit Aurélie zu spielen, als eine Limousine auf dem Parkplatz vor der Villa Auguste hielt, die ihm bekannt vorkam. Er stand mit der Kleinen auf und ging hinüber, gerade als der Chefkritiker des Guide ausstieg.
»Monsieur Saint-Roch?«
»Oh, Commissaire. Ich habe gehört, Sie haben das Restaurant wieder freigegeben.«
»Die Gastronomiewelt ist offenbar ein noch kleineres Dorf als die normale Welt.«
»Darauf können Sie Gift nehmen – oh, das ist wohl ein unpassender Vergleich.«
»Und Sie wollen heute Abend testen?«
»Die Villa Auguste ist jedes Jahr der krönende Abschluss unserer Testreise. Ugo hebt sie sich immer für den letzten Tag auf – das Beste kommt zum Schluss , wie er sagt. Ich hoffe, es war nicht wirklich sein letzter Test.«
»Er ist immer noch stabil, Monsieur.«
»Nun ja, jedenfalls gehen wir in einer Woche in den Druck, und deshalb muss ich heute Abend testen – sonst ist die Villa nicht in der Bewertung drin. Und das wäre, als wenn der Eiffelturm auf einer Parispostkarte fehlte.«
»Dann werden wir uns gleich sehen. Wir sind heute auch Auguste Fontaines Gäste.«
»Oh, dann bestehe ich darauf, dass Sie mit mir zusammen essen. Dann können Sie mir von Ihren Ermittlungen erzählen.«
»Das ist uns leider verboten, Monsieur. Aber wir kommen gerne zu Ihnen an den Tisch. À bientôt. «
Eine weitere halbe Stunde später hatte Luc Aurélie ins Bett gebracht und den Joffes das Babyfon ins Wohnzimmer gestellt. Sie hatten versprochen, sofort Bescheid zu geben, sollte die Kleine weinen. Luc hatte sich tausendmal bedankt, dann hatte er draußen auf Anouk gewartet. Als sich die Haustür öffnete, stockte ihm der Atem. Seine Freundin sah hinreißend aus. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid mit freiem Rücken, das ihre sportliche Figur betonte. Dazu hatte sie, was nur sehr selten passierte, ein ganz leichtes Make-up aufgelegt. Um den Hals trug sie die goldene Kette mit einer Muschel, die sie nach ihrem ersten gemeinsamen Surf gefunden hatten.
»Wow«, flüsterte er, »wie soll ich mich denn bei diesem Anblick aufs Essen konzentrieren?«
Sie gingen Hand in Hand die paar Meter durch den weichen Sand und betraten dann den kleinen Vorplatz, auf dem eine lange Autoschlange wartete. Der Voiturier hatte alle Hände voll zu tun. Die schlimmen Nachrichten aus der Villa hatten offenbar niemanden dazu veranlasst, die vor langer Zeit getätigte Reservierung zu stornieren.
Luc hielt Anouk die Tür auf. Das Licht im Restaurant war gedimmt, es war nun ein Meer von Kerzen und hatte gar nichts mehr mit dem sterilen Raum des Tages zu tun. Jetzt war es das Theater des Auguste Fontaine. Am Pult stand schon Florentine Silva und lächelte sie an.
»Bonsoir , Madame Filipetti, bonsoir , Monsieur Verlain, Monsieur Saint-Roch hat mir gesagt, dass Sie gemeinsam essen, ist Ihnen das recht?«
Anouk sah Luc überrascht an. Der nickte. »Ich hab das bei deinem Anblick ganz vergessen. Bist du einverstanden?«
»Na klar, machst du Witze? Ich wollte schon immer von einem Profi erfahren, wie mein Essen schmeckt.«
Beide mussten lachen, dann gingen sie durch den Raum vorbei an den anderen runden Tischen bis ganz nach hinten zur Fensterfront. Dort saß bereits Gilles Saint-Roch und nippte an einem Glas Wasser. Als die Polizisten näher kamen, erhob er sich und bot Anouk den Stuhl zu seiner Rechten an.
»Bitte, Madame, nehmen Sie Platz. Commissaire?« Auch Luc setzte sich. Es dauerte keine Minute, da stand Florentine Silva schon an ihrem Tisch.
»Einen wunderbaren Abend wünsche ich Ihnen allen. Sie sind von Monsieur Fontaine eingeladen, Messieurs dames , der Chef wird Ihnen also eine Menüfolge präsentieren, die alle Elemente seines Schaffens enthält. Darf es für Sie die Weinbegleitung nach meiner Empfehlung sein?«
»Sehr gern«, sagte der Kritiker und kam Luc damit zuvor.
»Sehr wohl, dann wünsche ich Ihnen guten Appetit.«
Die Restaurantleiterin verschwand und kam kurz darauf mit zwei weiteren Wassergläsern zurück, in die sie einschenkte.
Luc sah sich um. Natürlich war er schon manches Mal in Restaurants mit einem Stern gewesen, dies war aber sein erstes Mal avec trois étoiles , der Königsklasse der Gastronomie. Und doch war er verblüfft, dass auch hier die Atmosphäre gar nicht steif zu sein schien. Die Kellner kamen ihm weit weniger hochnäsig vor als in so manchem Pariser Caféhaus, der Kellner am Nebentisch hielt ein lockeres Schwätzchen mit den Gästen, und es wurde lauthals gelacht. Ganz hinten in einer Ecke saß sogar eine Familie mit zwei kleinen Kindern – auch das war im Kernland der Gastfreundschaft kein Problem. Auguste Fontaine hatte es geschafft, den Raum warm und einladend wirken zu lassen. Natürlich gab es gestärkte Tischdecken, weiße Servietten und silbernes Besteck, und doch ließen die vielen Kerzen und die hübschen Gebinde aus Frühlingsblumen das Restaurant geradezu leicht erscheinen, als folgten die Gäste einfach der Einladung eines guten Freundes.
An den anderen Tischen wurden schon die ersten Speisen gereicht, und auch zu ihnen trat nach kurzer Zeit wieder die Restaurantleiterin persönlich, eine Kellnerin im Schlepptau.
»Die Grüße aus der Küche sind an diesem Abend die gebeizte Lachsforelle, die truite de Banka , an Verveine-Emulsion und Rote Bete aus Auguste Fontaines Garten mit einem lang gereiften Brebis-Käse von den letztjährigen estives . Dazu gibt es unser hausgebackenes Brot. Bon appétit. «
Hausgebackenes Brot war eine satte Untertreibung für die Etagere mit sechs oder sieben verschiedenen Sorten von hellem und dunklem Brot mit Nüssen und Feigen sowie den drei Sorten Baguette, die nun in der Tischmitte platziert wurde. Luc nahm sich eine Scheibe, die noch warm war, dazu gab es zweierlei Butter und ein Olivenöl, das so grün war wie der Wald vor dem Fenster, der gerade von der Abendsonne in ein gleißendes Licht getaucht wurde.
»Für den Anfang servieren wir Ihnen drei Coupes vom Taittinger Millésimé 2015 , für den Chef ist er der Inbegriff des perfekten Champagners.« Florentine Silva schenkte ihnen formvollendet aus der Flasche ein.
»Auf das Wohl von Ugo«, sagte der Kritiker und erhob sein Glas, Anouk und Luc stießen mit ihm an.
»Auf Monsieur Gennevilliers!«
»Sehen Sie«, sagte der Kritiker und zeigte auf die beiden Porzellanschalen, die ohne Inhalt so kunstvoll grazil wirkten, dass sie nur sehr teure Handarbeit sein konnten. »Das ist das Geheimnis von Auguste Fontaine. Auch zu einer Zeit, als sich alle Köche damit überschlugen, zwölf überdrehte Schäumchen auf einen Teller zu knallen, Blattgold auf ein Steak zu zaubern und den Aggregatzustand eines Apfels zu verändern, indem sie ihn zu Staub zersetzten, selbst damals, in diesen bitteren zweitausender Jahren, hat der alte Auguste einfach auf seine Produkte vertraut. Schauen Sie hier, diese Lachsforelle ist nur eine Lachsforelle – nun ja, sie ist sicher die beste Lachsforelle, die ein Züchter in seinem Bassin hat und die man für Geld kaufen kann. Aber sie ist pur, unverfälscht, da ist nur die Emulsion dabei. Verstehen Sie? Er hat Vertrauen in seine Produkte und in die Erde, aus der sie stammen – so kann er auf all den anderen Quatsch verzichten. Und auch heute, wo fast alle Köche wieder so kochen, ist Auguste immer noch der beste. Sehen Sie? Die Rote Bete, er züchtet sie selbst. Und dieser Käse – probieren Sie den unbedingt.«
Luc nahm ein kleines Stück von der Lachsforelle, die so zart war, dass sie bei der Berührung mit der Gabel von selbst zerfiel. Er gab ein wenig Emulsion von der Zitronenverbene dazu und kostete die Mischung. »Hmm«, murmelte er, »wow, ist das zart. Ich habe direkt den Fisch in der Natur vor Augen …«
»Sie müssen den Ort besuchen, an dem die Forellen gezüchtet werden. Sie schwimmen drei Jahre lang gegen den Strom, wie in der freien Natur, das Wasser kommt direkt aus den Pyrenäen, es ist ein kleines Tal inmitten des Baskenlandes, ganz ursprünglich, ganz wunderbar.«
»Sie klingen geradezu verliebt in Monsieur Fontaine – und in seine Produkte.«
»Da müssten Sie erst mal Ugo hören. Ich glaube, er hätte Auguste am liebsten geheiratet.«
»Kommen daher die ewigen drei Sterne?«
»Was glauben Sie denn?« Der Kritiker runzelte die Stirn. »Wir sind nicht bestechlich. Ugo am wenigsten. Wenn er zu dem Schluss käme, dass Auguste nachlässt, dann würde er ihn abwerten. Und dennoch wären sie noch Freunde. Geschäft ist Geschäft. Aber Auguste lässt nicht nach. Obwohl die Ereignisse von vorgestern einen Schatten werfen. Andererseits: Das hier ist seine große Kunst – nach wie vor.«
Nun war es an Luc, von der Roten Bete zu probieren. Er nahm ein Stück der Rübe, die noch ein wenig Schale zeigte, es schien sogar noch Erde daran zu sein. Dann gab er etwas von dem hellgrünen Käse dazu. Er probierte es wieder zusammen – und schloss unwillkürlich die Augen.
»Das ist ja …«
»Wahnsinn, oder?« Der Kritiker nahm ein Notizbuch heraus und schrieb schnell einige Worte auf.
»Es ist, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben Rote Bete probieren. Und diese Erde …«
»Ist keine Erde, sondern eine Kräutermischung aus Augustes Garten, die er so stark reduziert hat, dass sie wie Erde aussieht. Aber die Schale ist echt. In der Schale verbergen sich die stärksten Aromen.«
»Sie kennen sich so gut aus«, sagte Anouk. »Und was ist das für ein Käse? Ich fand Brebis bisher immer recht fad, aber dieser hier … ist einfach toll.«
»Ich hatte erst einmal das Glück, auf den estives zu sein, aber ja, wenn Sie mal dort den Sommer verbracht haben, dann wissen Sie, warum dieser Käse so schmeckt. Die Ziegenhirten treiben ihre alten Rassen im Mai nach oben, auf tausend oder zweitausend Meter in den Pyrenäen. Man denkt ja, dort wächst nichts mehr oberhalb der Baumgrenze – aber im Gegenteil: Nirgendwo sind die Kräuter und Gräser so grün wie dort oben. Da leben Mensch und Ziegen zusammen, den ganzen Sommer lang, irgendwo in der Einsamkeit in einer alten Steinhütte, jeden Tag wird gemolken und Käse gemacht. Warum sich das ein Hirte antut? Weil der Käse dann genauso schmeckt wie dieser hier – und weil der Preis viermal so hoch ist wie für normalen Brebis.«
»Ich glaube, ich würde mir das auch antun«, sagte Anouk, »Einsamkeit in den Bergen, das klingt toll. So eine Woche ganz allein, das würde ich echt mal gerne wieder machen.«
»Ganz allein?« Luc war die Frage so rausgerutscht, und Anouks schwärmender Blick traf ihn nur noch mehr.
Als sie fertig waren, kam Florentine Silva und räumte ihre Schüsseln ab, brachte sogleich neuen Wein, einen wunderbaren weißen Sauternes, der anders als die üblichen Weine des Dorfes trocken war. Dann, nach einer Pause, kamen die erste und die zweite Vorspeise, gefolgt von einem geeisten Orangen-Safran-Sorbet, das sie sofort wieder wach werden ließ. Es war ein herrlicher Abend, sogar der Kritiker schien nach dem schwierigen Start am Tag zuvor nun deutlich freundlicher und zugewandter.
Und so wurde es dunkel und die Stimmung im Restaurant immer ausgelassener, was wohl auch an den guten Weinen lag, jedenfalls breitete sich ein friedlicher Klangteppich aus Unterhaltungen über die Tische, und die Ereignisse der letzten Tage schienen keine Rolle mehr zu spielen.
»Messieurs dames , die erste Hauptspeise: die legendäre Sole nach Auguste Fontaine in einer Emulsion aus Cœur-de-pigeon-Tomaten, Caviar d’Aquitaine und dem Jardin de légumes.«
Die Restaurantleiterin war wieder persönlich an ihren Tisch getreten, und jetzt begann das Schauspiel, welches das Restaurant zum Theater machte: drei Kellner, hinter jedem Gast einer, drei Teller in der Hand, cloches , diese silbernen Glocken mit dem kleinen Griff, obendrauf. Dann wurden die Teller gleichzeitig abgestellt, die Kellner blickten zur Seite, um die Synchronität zu wahren, zogen die Cloches wie auf Kommando alle gleichzeitig hoch, sodass jeder Gast sein Essen zur selben Zeit erblickte. Dann lächelten sie, als seien sie selbst erstaunt, wie gut ihre Choreographie wieder funktioniert hatte. Es war ein herrlicher Moment, als sie dann im Gleichschritt wieder Richtung Küche verschwanden. Luc empfand es als ein wundervolles Schauspiel, das es kostenlos zum Essen dazugab, auch wenn es wie aus der Zeit gefallen wirkte, ein Renaissanceritual.
Der Teller selbst war choreographiert: Da lag die Seezunge, als wäre sie von einem Foodfotografen angerichtet worden. Mit einem Seitenblick bemerkte Luc, dass jene sole , die der Kritiker auf dem Teller hatte, mit minimalem Abstand die größte war, hier wurde aber wirklich an alles gedacht. Als Sohn eines Austernzüchters, der auch gerne mal die Angel ausgeworfen hatte, wusste Luc, dass bei Fischen eine eiserne Regel galt: Je größer das Exemplar, desto feiner der Geschmack. Die Ränder der Haut waren leicht angebräunt, doch das Fleisch des Fisches war fast weiß und so glasig, dass er nur ganz kurz gedämpft worden sein konnte. Er lag in einer schaumigen Soße, die aber nicht aussah, als stammte sie von Tomaten. Sie war durchsichtig wie Glas und ließ die hübsche türkisfarbene Musterung des Tellers durchscheinen. Wie war das möglich? Der Kaviar war auf dem Fisch zu feinen Linien arrangiert und vervollkommnete das Kunstwerk.
»Ich dachte, Kaviar kommt immer aus Sibirien«, sagte Luc, und der Kritiker zog sogleich eine Augenbraue hoch.
»Ja, er kommt meist auch immer noch von dort. Aber es ist schon lange kein Kaviar wild lebender Störe mehr, der den Preis auch rechtfertigen würde. Die Fischer haben die Tiere so lange überfischt, bis zwei Drittel der Störarten ausgestorben waren. Mittlerweile kommen die alle aus Aquakulturen – und das schmeckt man auch. Hier sind wir ja aber zum Glück in Frankreich, und seit einige Firmen begonnen haben, in der Garonne und der Dordogne wieder Störe zu züchten, stimmt die Qualität. Sterneköche aus aller Welt schlagen sich um unseren Kaviar!«
»Sie sind also nicht nur Kritiker, sondern auch Patriot?«
»Warum sollte ich ein Produkt aus einem anderen Land empfehlen, wenn ich in der Heimat aller Genüsse lebe?« Der Gourmet lächelte ihn erhaben an, dann griff er fast schon theatralisch zu seinem Besteck. »Nun denn, wollen wir doch mal sehen.«
Anouk und Luc sahen fasziniert zu, wie der Kritiker nicht etwa zuerst in den Fisch schnitt, sondern mit spitzer Gabel zuerst den Gemüsegarten auseinanderpflückte. Das Wort Gemüsegarten war für diesen Versuchsaufbau wirklich treffend: Eine Ecke des Tellers war mit etwas ausgelegt, das Moos glich, Luc erkannte, dass der Maître die Wildkräuter seines Gartens fein gehackt und dann verbunden und damit das Moos nachgestellt hatte. Darauf war eine echte kleine Waldszene gebaut, nur eben aus Zutaten: ein Baum aus einem Brokkoliröschen, daneben eine Karotte, die wie ein Baumstamm gemasert war, Bällchen aus gelben und grünen Zucchini, die wie das Buschwerk auf der Erde aussahen, und obendrauf hellgrüne Wolken aus zarten Chips. Jedes Element probierte der Kritiker einzeln und nahm dann wieder alles zusammen, um den Geschmack zu prüfen.
»Bitte, nun fangen Sie doch an«, murmelte er und sah zu seinen beiden Zuschauern auf.
»Es ist einfach zu spannend, Ihnen zuzusehen«, sagte Anouk. Da legte sich ein Lächeln auf das Gesicht des Mannes, und diesmal wirkte es aufrichtig. Ihm schien das Interesse an seiner Arbeit zu schmeicheln.
»Ich extrahiere sozusagen die Aromen jedes einzelnen Elements. Erst fange ich mit den zarten Gemüsen an. Wenn ich gleich mit Fisch, Kaviar und Soße beginnen würde, könnte ich die feineren Geschmäcker nicht mehr wahrnehmen. Probieren Sie selbst: Fontaine ist ein großer Meister. Ich könnte das Gemüse niemals so auf den Punkt kochen, da handelt es sich um zwei Sekunden mehr oder weniger, in denen eine simple Zucchini zu einem Meisterwerk wird. Und Auguste Fontaine trifft diesen Punkt immer.«
Luc musste an den jungen Koch denken, der am Morgen elf Kilo Möhren geschnippelt hatte. Es war schon eine besondere Herausforderung, so viel zu arbeiten und zu leisten – und dann wurde das ganze Ergebnis doch immer dem einen Mann zugerechnet, dem Chefkoch nämlich. Er probierte einen Chip und sah den Kritiker fragend an.
»Das ist Tapioka, Commissaire. Es wird aus Maniok gewonnen und kann mit allerhand aromatisiert werden, hier wohl mit den Zucchini, deshalb die Farbe. In der Sterneküche ist es wichtig, dass nichts eintönig schmeckt. Zu einer sanften Soße fügen sie immer etwas hinzu, das richtig Biss hat.«
»Können Sie eigentlich noch normal essen?«, fragte Anouk. »Wenn man immer alles bewertet, tut man es dann nicht auch zu Hause?«
»Ich esse nur unterwegs, Madame. Und natürlich bin ich immer im Dienst.« Er wandte sich wieder Luc zu. »Nun probieren Sie den Fisch. Er ist so zart wie die Gemüse, nehme ich an. Der Kaviar kommt erst ganz zum Schluss.«
Luc schnitt die Spitze der Seezunge ab und probierte. Der Fisch schmolz tatsächlich auf seiner Zunge dahin. Und trotz der Zartheit konnte er das Meer schmecken, die pure Frische.
»Parfait« , sagte auch Anouk.
Dann nahm er von der Tomatenemulsion, nur ein winziges bisschen, und doch konnte er es kaum glauben.
»Aber … wie ist das möglich?«, fragte er. Denn es war eine Wucht, es war, als hätte er in zehn Tomaten gleichzeitig gebissen – tiefrote reife Tomaten, von einer alten Frau im Garten geerntet, so wie früher. »Das ist ja … Wie kann etwas, was so sehr nach Tomaten schmeckt, nicht nach Tomate aussehen?«
»Es ist ein Spiel, Commissaire. Auguste Fontaine spielt mit unserem Gehirn. Man erwartet nichts, wenn man diese durchsichtige Soße sieht. Und dann explodieren die Papillen, weil das gänzlich Unerwartete passiert.« Der Kritiker probierte auch von der Soße. »Sehen Sie, so mancher Koch in irgendwelchen Szenerestaurants macht das auch«, er spie das Wort Szenerestaurants förmlich aus, »und serviert eine klare Tomatensuppe. Aber so wie hier funktioniert es nie, weil nicht genug Liebe drinsteckt. Vielleicht auch nicht genug Know-how. Sie müssen die Tomaten einlegen und kochen, mit Schale, komplett, quasi ohne Gewürze, denn Sie wollen ja nur den Tomatengeschmack. Anschließend wird die Suppe passiert, also durch ein Tuch gedrückt. Weil Sie Zeit sparen wollen, wiederholen Sie das vielleicht nur zweimal, dreimal, dann wird die Suppe nicht richtig klar, sie bleibt etwas rot, der Effekt verpufft. Aber Auguste …«, der Kritiker ließ den Namen in der Luft hängen, »er passiert die Soße zehnmal, das erzählt man sich zumindest in unseren Kreisen – er passiert sie so lange, bis er ein Wasser hat, das so sehr nach Tomaten schmeckt, dass man glaubt, man wäre selbst eine Tomate.«
»Unglaublich«, sagte Anouk.
»Genau. Und deshalb kann man mit Sterneküche eigentlich auch nur bis zu zwei Sternen Geld verdienen.«
»Wieso das denn?« Luc war überrascht.
»Bei einem Stern kommen die Sternejäger. Die lesen unseren Guide und reisen danach zu allen Restaurants, die neu auf der Liste stehen. Die sind dann erst mal ein halbes Jahr lang ausgebucht. Da verdienen Sie richtig gut. Bei zwei Sternen können Sie die Preise erhöhen. Da kostet ein Menü dann zweihundertfünfzig Euro. Jetzt kommen die echten Gourmets, die sich das leisten können und auch noch eine Flasche Lynch-Bages dazubestellen – ohne Probleme. Bei drei Sternen aber …«, er räusperte sich, nun hatte er sich warmgeredet und gefiel sich in der Rolle des Fachmanns, »da ist der Anspruch so hoch, die Qualität muss so sehr stimmen, es darf nie auch nur ein Fehler passieren. Sie haben also eine gewaltige Bringschuld, wenn man so will, und die können Sie nur erfüllen, wenn Sie Ihr Personal entsprechend aufstocken – Sie brauchen pro Tisch eigentlich einen eigenen Koch. Bloß: Wer soll das bezahlen, dass die Soße zehnmal passiert wird? Wer? Das Menü müsste siebenhundert Euro kosten – aber dann würde niemand mehr kommen. Das Unternehmen hört auf, wirtschaftlich zu sein. Und doch – wer einmal drei Sterne hat, will die nicht mehr zurückgeben, um keinen Preis, man ist dann eben eine lebende Legende. So, und nun probieren Sie noch vom Kaviar.«
Kaviar. Das war ein Produkt, zu dem Luc keine Beziehung hatte. Auf ihn wirkte es zu elitär, zu hochpreisig, war zu sehr Paris und Monaco, nicht Bordeaux und die Landes. Doch als er von den fein schimmernden dunkelblauen, fast schwarzen Kugeln kostete, musste er aufstöhnen. »O Gott, ist das fein«, sagte er. Es war nicht salzig, es war wie eine Essenz aus Fischen. Auch Anouk nickte zustimmend.
»Und nun kommt der Moment des Kritikers«, sagte Gilles Saint-Roch über sich selbst, »das ist der Moment, in dem alle Elemente auf der Zunge zusammenkommen und einen Akkord bilden. Auch wenn alle einzelnen Teile toll waren, wenn dieser Akkord nicht klingt, wenn eine Note zu schwach ist oder zu sehr hervorsticht, dann hat der Koch verloren, dann muss ich einen Verriss schreiben. Ich habe schon oft einen Stern aberkannt, nur weil der Gesamtgeschmack eines Gerichts nicht stimmte.« Er nahm von dem Teller jedes Element, dann führte er die Gabel zum Mund. Anouk und Luc sahen ihm gespannt zu. Er tat erst mal nichts, sondern schmeckte, dann schloss er genüsslich die Augen und schien alle Teile im Mund hin und her zu schieben, es sah komisch aus, so konzentriert, dann begann er zu kauen, schluckte, doch plötzlich öffnete er die Augen schlagartig wieder. Er sah seine Zuschauer an, sagte aber nichts, plötzlich färbte sich sein Gesicht rot, er öffnete den Mund, sein Blick veränderte sich, war hilfesuchend, er stöhnte, ein Röcheln entfuhr ihm, Luc spannte sich an, der Kritiker war auf einmal ganz steif, er hielt sich mit den Händen am Tisch fest, die Knöchel weiß vor Druck, dann öffnete er den Mund noch mal, hustete, wieder zwei Sekunden später zeigte er auf seine eigene Rückseite. Luc verstand sofort, er sprang auf, dann hieb er mit der flachen Hand einmal kräftig auf den Rücken des Kritikers. Der begann endlich zu husten, mehrfach und sehr stark, und dann, nach einer halben Ewigkeit, sauste ein Stück des Fisches wieder aus dem Mund und auf die Tischdecke. »Mon Dieu!« , rief der Kritiker immer noch unter Husten. Luc sah, wie Florentine Silva auf ihr Funkgerät drückte und im selben Moment zu ihnen eilte. In der Küche glitt die Tür auf, und beinahe gleichzeitig kam Auguste Fontaine angerannt, mit der ganzen Wucht seines Körpers.
»Monsieur Saint-Roch!«, rief er, und auch Florentine war nun am Tisch, sie reichte dem Kritiker ein Glas Wasser. Dann beugten sich alle gemeinsam über die Tischdecke. Ein großes Stück Fisch lag darauf, gänzlich unzerstört, und obendrauf, gut sichtbar für Luc und alle anderen, steckte darin eine spitze Gräte.
»Das ist ja …«, murmelte der Kritiker, immer noch rang er nach Atem. »… Das ist ja unerhört.« Er stemmte die Arme in die Hüften. »Hören Sie, Monsieur Fontaine, ich ahne, dass das kein neuerlicher Mordanschlag war, sondern reine Unkenntnis, aber ich bitte Sie – das hier ist ein Mekka des Genusses! Und das dort …«, er wies auf die Gräte, »das ist unverzeihlich, unverzeihlich. Ich bitte Sie, bringen Sie mir gleich die Rechnung, ich breche meinen Test hier ab – ich werde die Nacht darüber nachdenken, was ich nun tun werde –, aber mit drei Sternen, ich glaube, damit ist es nun ein für alle Mal vorbei.«
Er sah zu Boden, sein Gesicht immer noch rot, aber so langsam hatte er sich wieder im Griff, die letzten Worte hatte er schon wieder mit der ihm typischen Arroganz ausgesprochen. Auguste Fontaine stand da, und Luc sah, dass er bebte. Ganz leise, damit ihn niemand der anderen Gäste hörte, sagte er:
»Monsieur Saint-Roch, ich bitte Sie, nein, ich flehe Sie an, geben Sie uns noch eine Chance, das kann doch nicht – ich meine, ich habe eine neue Kraft am Fischposten, eine junge Frau, sie kommt aus dem Süden, sie hatte beste Referenzen, aber diese Gräte, sie muss ihr entgangen sein, ich weiß auch nicht, ich werde sie sofort entlassen, jetzt gleich …«
Doch der Kritiker unterbrach ihn, indem er wieder aufsah und mit klarem, kühlem Blick sagte: »Das ist nicht nötig, Monsieur Fontaine. Sie haben für Ihr Personal geradezustehen, das wissen Sie. Ich kann da keine Ausnahme machen. Und nun – bitte entschuldigen Sie mich.«
Er stand auf, holte aus seiner Jackentasche eine Geldklammer und legte zwei grüne Hunderteuroscheine auf den Tisch. »Ich habe ja nicht das ganze Menü genossen. Wer weiß, was mich noch an Überraschungen erwartet hätte.« Dann drehte er sich um, machte einen Bogen um die Restaurantleiterin, ging auf den Voiturier zu, der ihm nach langem Kramen seinen Schlüssel gab, und verließ wortlos das Restaurant. Die Tür schloss sich, und Luc merkte, dass alle Augen auf die Tür gerichtet waren, die Spannung im Raum war so groß, dass alles andere vergessen schien, es war totenstill. Luc sah zu Auguste Fontaine und war für einen Moment in Sorge, dass der große Chefkoch kollabierte.
»Kommen Sie«, sagte der Commissaire, »gehen wir in die Küche.«
»Ich … ich …«, stammelte der, »das ist das Ende.«
Luc hakte ihn unter, Anouk trat an die andere Seite, dann führten sie den Mann aus dem Restaurantsaal. Sein sonst so vitaler Gang war nun zögernd und wankend, er schien innerhalb von Minuten um zehn Jahre gealtert und um die Hälfte geschrumpft, kurzum: Er wirkte gebrochen.
Hinter ihnen begann die Geräuschkulisse wieder zuzunehmen – aber die Gäste kannten jetzt wohl nur noch ein Thema: den gnadenlosen Abgang des Kritikers. Dafür hätte man in der Küche eine Stecknadel fallen hören können.
Alle sahen zu ihrem Chef, die jungen Lehrlinge, die Spülhilfen, die erfahrenen Köche an den Posten. Nur einer fiel aus der Rolle, dachte der Commissaire in diesem Moment. Luc musterte den Souschef genauer – hatte er da eben den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht von Roland le Correc gesehen? Vielleicht hatte er sich auch geirrt. Der schmale Bretone starrte wieder mit seiner unverwechselbaren Kühle in den Raum.
Sie folgten Auguste Fontaine bis in die Mitte der Küche, ohne eine Ahnung, was sie sagen oder tun sollten. Der Mann stützte sich auf die Arbeitsplatte, auf der seine Kräuter lagen. Er hielt den Kopf gesenkt und murmelte etwas, was zu leise war, um es zu verstehen. Es war eine Litanei, eine unverständliche, sich zu wiederholen scheinende Litanei. Luc sah Anouk an, und die zuckte mit den Schultern. Der alte Chefkoch schien unter Schock zu stehen. Doch dann richtete er sich mit einem Mal auf, als hätte er eine Entscheidung getroffen, sein Gesicht war rot vor Zorn, er blickte in Richtung des Fensters, das zum Meer wies, das Fenster, vor dem der Arbeitstisch des Fischpostens stand, die junge Köchin dort war die Einzige, die überhaupt noch arbeitete und nichts von dem Unglück bemerkt zu haben schien. »Du!«, schrie er, und sein Bass war so laut, dass es auch im Gastraum ohne Zweifel zu hören war. »Jetzt reicht es mir ein für alle Mal. Ich habe dich gewarnt – und jetzt, an so einem Abend, versaust du es, weil du die Seezunge nicht prüfst. Es ist alles im Eimer wegen dir. Pack deine verdammten Sachen und geh dahin, wo du hergekommen bist.«
Luc spürte, wie er nun innerlich zu kochen begann. Natürlich, er verstand die Wut des Chefs, und im Corps der Köche herrschte ein ähnlicher Ton wie bei den uniformierten Polizisten der CRS , aber es wäre ihm – und vielen seiner Kollegen – nie in den Sinn gekommen, so mit einer jungen Kollegin zu reden, wie schlimm der Fehler auch immer gewesen sein mochte. Er war bereit dazwischenzugehen, und er sah an Anouks wütendem Gesicht, dass seine Freundin genauso dachte. Die junge Frau schien völlig überrascht zu sein, sie hielt sich ganz aufrecht und sah ihren Chef fragend an. »Aber Monsieur, ich bin mir sicher, dass Sie …«
»Sei still, du bist ja wohl von allen guten Geistern verlassen, jetzt noch zu widersprechen.« Er zischte nun, etwas leiser als eben, aber dafür noch bedrohlicher. »Du packst sofort deine Sachen. Raus hier.«
Roland le Correc hob die Hand und sagte leise: »Ich denke, Auguste, es ist gut jetzt.«
»Aber …«, nun war es an der jungen Asiatin zu verstummen, sie blickte zu Boden, doch schon vorher waren ihr die Tränen in die Augen geschossen, sie wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab, dann nahm sie ihre drei Messer und packte sie in ein Lederetui, schob sie mit beachtlicher Ruhe in ihre jeweiligen Fächer, obwohl alle Augen auf ihr ruhten. Erst als alle Messer verstaut waren, wandte sie sich wortlos um und verließ die Küche durch die Seitentür, die offenbar zu den Umkleiden der Köche führte.
Luc und Anouk blickten sich fragend an. Es war ohne Zweifel der Abend der dramatischen Abgänge. Erst der Kritiker, jetzt die junge Köchin, die wohl für das ganze Desaster verantwortlich war.
»Monsieur Fontaine«, sagte Luc leise zu dem alten Mann, der nun wieder schwer atmend in sich versunken war, »es ist vielleicht besser, wenn Sie es für heute Abend gut sein lassen?«
Der Maître schien wie aus einem Traum zu erwachen. »Meinen Sie, Commissaire?« Sein Ton war schneidend. »Das hier ist meine Küche. Und Sie haben mir erlaubt, sie wieder zu öffnen. Also werde ich jetzt meine Gäste bewirten. Solange ich noch welche habe. Denn wenn der dritte Stern erst mal weg ist, dann … Ja, dann werde ich wohl wirklich dichtmachen.« Er schlug mit der Hand auf die metallene Arbeitsplatte. »So, und nun bitte ich Sie zu gehen. Sie waren meine Gäste.«
Anouk und Luc nickten, dann verließen sie die Küche langsam. Schon als sie auf dem Weg waren, fuhren die meisten Köche mit der Arbeit fort, die Spülhilfe öffnete eine Maschine, die noch voll heißen Wasserdampfs war. Nur Roland le Correc stand da, eingehüllt in den Nebel, und sein Blick hatte etwas Düsteres an sich. Luc sah, auf wen sein Blick gerichtet war. Auf seinen Chef, seinen Mentor, und wieder war da keine Bewunderung. Vielmehr war es eine Wut, eine Abscheu gar, die Luc frösteln ließ. Und noch etwas: Genugtuung.