Nachdenklich waren sie hinüber ins Haus der Familie Joffe gegangen und hatten den Geräuschen aus der Villa Auguste zugehört, während Anouk Aurélie gestillt hatte, bis die Kleine eingeschlafen war. Dann war Anouk zu Luc ans Fenster getreten, der dort im Mondlicht stand und die kühle Luft genoss, die vom Meer herüberwehte.
»Das war ein Abend«, sagte sie leise. »Erst so toll und dann so schrecklich.«
»Ja, du sagst es. Was für eine Wendung.«
»Irgendwie tut er mir leid, der alte Auguste. Er wirkt so … zerbrechlich.«
»Ich kann nicht vergessen, wie er in einem Moment um zehn Jahre gealtert ist.«
»Meinst du, Gilles Saint-Roch macht seine Drohung tatsächlich wahr und stuft das Restaurant ab?«
Luc nickte. »Ich wüsste nicht, was ihn davon abhalten sollte – er würde damit außerdem nur den Regeln folgen. Mir schien fast, als wäre der Koch für ihn nun wirklich ein gefallener Mann.«
»Es gab schon Köche, die sich das Leben genommen haben, nachdem sie einen Stern verloren hatten.«
»Ja, hab ich auch von gehört. Stell dir das vor – wie groß die Bedeutung dieser Auszeichnungen für diese Leute ist.«
»Das Ziel allen Strebens. Und dann bricht das über dir zusammen.«
Beide sahen aus dem Fenster zum Ozean. Er war eine einzige schwarze Fläche, der Himmel darüber setzte sich grau ab. Nur die einzelnen Wellen waren als schaumige weiße Kämme zu sehen.
Eine Weile schwiegen sie, dann räusperte sich Anouk.
»Du, die Ereignisse haben sich vorhin so überschlagen, ich hab ganz vergessen, dir zu erzählen, wie es in Grenade war.«
»Und ich habe vergessen nachzufragen. Verzeih.«
»Es stimmt, die deutschen Kids sind seit letztem Jahr hinter den Entenzüchtern her. Das ist den Leuten im Dorf natürlich ein Dorn im Auge. Aber irgendwas stimmt da nicht. Die Typen haben andauernd so komische Andeutungen gemacht. Eine Frau hätte noch ein Hühnchen mit Guillaume zu rupfen – und dass er den Frauen sehr zugeneigt sei. Geht in eine ganz andere Richtung, als wir dachten, oder?«
»Meinst du etwa …« Luc ließ den Satz in der Luft hängen.
»Das wäre dann das Motiv enttäuschte Liebhaberin – nicht ungewöhnlich, oder?«
»Aber sie ist so jung …«
»Ich bin doch auch viel jünger als du«, sagte Anouk grinsend und schloss Luc in die Arme. »Los jetzt, ab ins Bett, mein alter Liebhaber.«
Nachdem sie sich leise geliebt hatten, fiel Luc in tiefen traumlosen Schlaf. Als er erwachte, war der Himmel so grau wie seine Stimmung. Sein erster Gedanke galt Auguste Fontaine – und den Ereignissen des Vorabends. Zuerst dachte Luc, dass die Tragödie, die so sehr in ihm arbeitete, ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Dann aber hörte er eine Stimme vor seinem Fenster. Die Stimme von Auguste Fontaine. Er stand leise auf und sah auf seine alte Breitling-Uhr, die auf dem Nachttisch lag. Kurz nach fünf.
Er ging zum Fenster und verbarg sich hinter der Gardine. Die Worte des alten Mannes drangen bis zu ihm, weil es wie immer war, wenn jemand flüsterte: Das Zischen verstärkte den Klang noch.
»… kein Auge zugemacht. Ich schaffe das nicht mehr. Nicht wenn es immer schlimmer wird. Soll das wirklich so untergehen?«
Luc musste nicht hinter der Gardine hervorsehen, weil klar war, wer der andere Mann war, auch wenn er leiser sprach als der Koch, deshalb verstand der Commissaire nicht jedes Wort.
»… untersuchen … du etwa übergeben? … Villa dein Augapfel.«
»Ich habe darüber nachgedacht. Die ganze Nacht. Es gibt keinen anderen Weg. Er sagt, er hat sich geändert. Und so würde das Haus nicht untergehen. Wie kann ich schließen, wenn ich nur zwei Sterne habe?« Dann brach Auguste Fontaine die Stimme, und Luc hörte nur, wie der andere Mann ihn beruhigte, indem er leise auf ihn einredete.
Der Commissaire lugte hinter der Gardine hervor und betrachtete den Koch, der in den Armen Monsieur Joffes lag. Der alte Polizist drückte den viel größeren und dickeren Mann an sich, Fontaines Kopf lag auf Joffes Schulter. Luc wandte sich rasch ab, weil er sich wie ein Eindringling vorkam, so vertraut wirkten diese beiden, die sich dort unten im Arm hielten.