Kapitel 28

»Der Sohn vergiftet den Wein, damit der Vater seinen Stern verliert.«

»Um selbst an sein Ziel zu gelangen.«

»So könnte es gewesen sein.«

Der Gastraum war verlassen, und Anouk hatte sich mangels eines Handtuches eine Stoffserviette geschnappt, mit der sie sich das nasse Gesicht und die dunkelbraunen Haare abtrocknete. Dann nahm sie Luc Aurélie ab, damit auch er sich etwas trocknen konnte.

»Aber wie soll er in den Weinkeller gekommen sein? Er hat den Code ja erst vorhin erhalten.«

»Meinst du nicht, dass der Sohn des Chefs diese Freiheit hätte? Wer vom Personal würde ihn aufhalten wollen …«

»Ich glaube, mit Florentine Silva ist nicht zu spaßen, ehrlich gesagt.«

»Da hast du auch wieder recht.«

»Na, dann fragen wir ihn doch.«

Mittlerweile war der Weg in die Küche schon normal geworden für die beiden Polizisten – und Luc fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn diese einhundert Quadratmeter zum eigenen Reich geworden waren – mit welchem Gefühl man dann wohl in die Küche schritt. Natürlich, auch Luc hatte in Paris eine Abteilung geleitet, aber er wurde weder jeden Tag von professionellen Kritikern bewertet noch von den normalen Gästen in zig Internetforen – und er musste sich nicht jedes Jahr um die Zweige und Streifen auf seiner Paradeuniform neu bewerben.

Die automatische Tür schwang auf, und sie kamen gerade rechtzeitig, denn offenbar war Rémy Fontaine eben dabei, seine Willkommensrede zu beenden.

»… freue ich mich wirklich, das mit euch allen anzugehen, Mademoiselle Hoang eingeschlossen, bei der ich mir sicher bin, dass sie von nun an keine Gräte mehr übersehen wird.« Er nickte der jungen Frau zu, die, wie Luc nun überrascht wahrnahm, wieder am Fischposten stand – sah er da den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht? »Ich weiß, es ist unerwartet«, setzte Rémy derweil seine Rede fort. »Ich will nicht alles anders machen, und ich werde sicher nicht alles besser machen als mein legendärer Vater. Aber ich verspreche euch, ich bringe frischen Wind mit, und ich werde ein Koch sein, der mit euch arbeitet – und nicht über euch. Okay? Na dann, heute Abend fangen wir an. Euch allen eine schöne Mittagspause.«

Es war ein zögerlicher Applaus, der in der Küche erklang.

»Na, da würde ich aber keine Zugabe spielen«, flüsterte Anouk Luc zu und grinste. Der Commissaire hatte beobachtet, wer gar nicht klatschte: einer der Spüler, der Mann am Grillposten und Roland le Correc. Finster sah er auf den Fliesenboden. Von der Restaurantleiterin fehlte noch immer jede Spur.

Doch Rémy Fontaine schien das nicht zu stören. Er hatte sich bereits umgedreht und nahm den Herd in Augenschein. »Einfach toll, wie viel Platz hier ist«, sagte er zu sich selbst. Anouk und Luc traten auf ihn zu.

»Monsieur Fontaine, schön, Sie wiederzusehen«, sagte Anouk.

»Herzlichen Glückwunsch zur neuen Aufgabe«, fügte Luc hinzu.

»Oh, vielen Dank. Sie sind wohl meine Glücksbringer. Sie erleben mich im schlimmsten Moment der letzten Wochen und im schönsten.«

»Der schlimmste war ihr gestriger Rausschmiss?«

»Zum Glück hat er sich gefangen. Mein armer Papa. Ich … Ich kann es immer noch nicht fassen, was er mir erzählt hat. Wissen Sie, von Kindesbeinen an war er für mich der Inbegriff eines starken Mannes – und jetzt das.«

Von draußen schlug der Regen an das einzige Fenster im Raum, hinten am Fischposten, von wo die junge Köchin zu ihnen herübersah. Luc fing ihren Blick auf, wandte sich dann aber wieder dem Koch zu.

»Können wir uns wohl einen Moment unter sechs Augen sprechen, Monsieur Fontaine?«

»Na klar.« Der junge Mann sah sich in der Küche um. »Ich habe kurz Zeit, die Kollegen kommen erst am Nachmittag zurück. Nun, kommen Sie, gehen wir vorne an den Pass.« Er wirkte nicht, als hätte er erst heute hier Einzug gehalten. Obwohl er so groß war, ging er zielsicher durch die engen Lücken, die zwischen den Arbeitsplatten und Kühlschränken frei gelassen worden waren. Der Souschef, der sonst hier stand, war gerade auf dem Weg zum Ausgang, wie Luc im Augenwinkel registrierte.

»Also? Was gibt es?«

»Ist es Zufall, dass Sie vorgestern hier angekommen sind?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ein Kritiker – nein, der Kritiker schlechthin – wird vergiftet, und Sie kommen am Tag darauf in die Villa Auguste um Ihrem Vater die Übernahme des Restaurants anzubieten. Es ist ein Zufall, der für meinen Geschmack ein bisschen zu groß erscheint.«

»Aber …«, Rémy sah Luc lächelnd an, »ich dachte, Sie haben die Täter längst gefunden. Sind das nicht diese Ökos, die meinem Bruder eins auswischen wollten?«

»Nein«, sagte Luc streng, »der Anschlag auf Ihren Bruder hat mit dem Kritiker nicht das Geringste zu tun.«

»Ach was, das … Das wusste ich nicht.«

»Der Kritiker wurde hier im Restaurant vergiftet – und zwar keineswegs mit einer Entenstopfleber. Der Täter muss jemand gewesen sein, der sich unbemerkt Zugang zum Restaurant verschaffen konnte.«

Rémy Fontaine lachte laut auf.

»Und Sie meinen, das sei ich? Ich bitte Sie: Ich war bis heute Morgen das schwarze Schaf der Familie. Ich glaube, mein Vater hätte sogar gern eine Selbstschussanlage angebracht, die auf mein Foto reagiert, wenn er technisch die Möglichkeiten dazu gehabt hätte. Niemals wäre ich hier reingekommen.« Luc fand, dass der junge Mann sich cooler gab, als er augenscheinlich war. Sein Blick ging nervös im Raum herum.

»Aber warum kommen Sie ausgerechnet an diesem besonderen Tag?«

»Es ist wirklich pure Ironie, dass Sie nun mich aufs Korn nehmen – an dem Tag, an dem mein Vater endlich wieder Vertrauen zu mir fasst. Aber gut, vielleicht ist es meine Bestimmung, dass ich nie meine Ruhe haben werde. Hören Sie, ich habe wochenlang auf eine Antwort gewartet, nachdem ich meinen Brief an Papa abgeschickt hatte. Sie glauben es mir ja eh nicht, aber ich habe verstanden, warum mein Vater so war, wie er war – und ich wollte so gut und erdverbunden kochen wie er. Ein ganz besonderer Mensch hat diesen Wandel in mir bewirkt, und ich war noch nie so dankbar. Ich saß also in Saint-Tropez am Meer und habe mir die Boote angesehen und den Winter vorbeiziehen lassen, während ich auf seine Antwort wartete – und dann wusste ich, dass ich keine Zeit mehr vergeuden darf. Deshalb bin ich losgefahren.«

»Ahnten Sie, dass Ihr Vater erblindet?«

»Ach was, wie sollte ich das denn ahnen? Ich weiß es seit zwei Stunden – und wie gesagt: Es hat mich total schockiert.«

Luc lehnte sich auf den Pass, der nach dem Service gestern Abend wieder sauber glänzte.

»Warum sind Sie nicht wieder abgereist, nachdem er Ihren Wunsch, das Restaurant zu übernehmen, zweimal ausgeschlagen hatte?«

»Tja«, antwortete der junge Mann, und sein Blick glitt zwischen Anouk und Luc hin und her. »Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht. Vielleicht war es pure Hoffnung – oder Vorahnung, nennen Sie es doch, wie Sie wollen.«

»Sie wussten, dass Ihr Vater das Restaurant mit zwei Sternen niemals geschlossen hätte, oder?«

»Er war süchtig nach dieser Form von Anerkennung, das stimmt.«

»Es wäre ein Leichtes gewesen, den Wein des Kritikers zu vergiften, um damit die Abstufung zu erzwingen. Dann wäre der Ruf nach Ihnen folgerichtig gewesen.«

»Hören Sie mal …«

»Haben Sie Erfahrung mit GHB ?« Lucs Stimme war Eis.

»Womit?« Der junge Mann trippelte nun von einem Fuß auf den anderen.

»Liquid Ecstasy.«

»Womit? Na, entschuldi…«

»Haben Sie schon einmal Liquid Ecstasy genommen, Monsieur Fontaine?«

»Ja, verdammt«, sagte Rémy Fontaine laut und wütend. »Na klar hab ich schon mal Liquid genommen. Und Koks. Und auch MDMA . In der Küche und auf Partys. Wahrscheinlich sogar mehr in der Küche. Zeigen Sie mir mal einen jungen Koch unter vierzig, der diesen Scheiß nicht nimmt, auf dem Niveau, auf dem wir kochen. Sie brauchen das, sonst halten Sie einen Mittags- und einen Abendservice nicht durch. Ey, das sind zwölf, manchmal vierzehn oder sechzehn Stunden. Wie soll das sonst gehen?«

»Ugo Gennevilliers wurde mit GHB vergiftet.«

»Was? Der alte Kerl?«

»Ja, er hat eine gehörige Dosis Liquid Ecstasy abbekommen und wäre fast daran verstorben.«

»Ach du Scheiße.«

»Sie sagen es, Monsieur Fontaine. Kann es nicht sein, dass Sie aus dem Süden etwas GHB mitgebracht und es ihm in die Weinflasche gespritzt haben?«

»Woher soll ich denn wissen, was der für einen Wein trinkt?«

»Wissen Sie, wie Monsieur Gennevilliers aussieht?«

»Na klar, jeder Koch kennt den.«

Luc wurde nun leiser, was ihn noch bedrohlicher klingen ließ.

»Und jeder Koch weiß, welchen Wein er trinkt. Es stand schließlich in jeder Zeitung, die ein Porträt über ihn geschrieben hat: den 95 er Lacour. Es hätte perfekt gepasst, wenn Sie einen Plan gehabt hätten. Schließlich wissen Sie auch, dass von Liquid Ecstasy niemand das Zeitliche segnet. Egal also, wie die Sache für Gennevilliers ausgeht – es wäre kein Mordversuch. Sie bekämen womöglich nur eine Bewährungsstrafe. Sie haben es klug angestellt, es wäre vielleicht nie rausgekommen.«

»Aber dann«, Rémy Fontaine blieb ganz ruhig, »hätte ich doch, nachdem ich den Kritiker vergiftet habe, einfach in Monaco warten können – bis mein Vater den dritten Stern auch wirklich verliert. Dann wäre ich ins gemachte Nest gestiegen. Das wäre doch viel unverdächtiger, oder halten Sie mich für so blöd?«

»Das ist der Punkt, der mir auch zu schaffen macht. Deshalb habe ich auch meine Zweifel – und deswegen unterhalten wir uns auch hier und nicht auf dem Commissariat in Bordeaux. Also, Monsieur Fontaine, wer war es dann Ihrer Meinung nach? Wer hat den Kritiker vergiftet?«

»Sie können es mir glauben oder nicht, Commissaire. Ich dachte bis heute Mittag, dass es die Foie gras meines Bruders gewesen ist. Aber der Wein …«

»Hatte Ihr Vater Feinde? Vielleicht sogar in seinem Team?«

Rémy lachte. »Sie kennen seinen Ton, wenn es hoch hergeht?«

Luc nickte. »Wir waren ein- oder zweimal Zeuge davon.«

»Keine Sorge. Das ist der alte Kasernenton der Dreisterneküche. Wenigstens ist es echt – und dieser Art von Spitzenküche auch irgendwie angemessen. Dieser merkwürdige Amikoch hat doch auch immer mit Tellern geworfen. Wobei das alles Show ist. Hier, in Frankreich, schlägt das Herz der Gastronomie.«

»Jetzt reden Sie schon wie Ihr Vater.«

»Aber ich bin nicht so wie er. Wir jungen Köche machen das anders, wir wollen ein Team sein mit unseren Angestellten. Früher, als mein Vater jung war, war Kochen vor allem ein Handwerk. Damals war der Hotelchef der Star, nicht der Koch. Mit Bocuse änderte sich das. Irgendwann wagten sich die Köche in den Saal. Aber hinten blieb der Ton hart, eben wie bei der Armee. Also, na klar hat mein Vater Feinde. Und Neider. Alle Zweisterneköche des Südwestens zum Beispiel. Aber sicher auch in der eigenen Küche – na ja, wenn er jemand auf dem Kieker hat, dann kann das unschön werden.«

»Kennen Sie jemanden, den er auf dem Kieker hatte in letzter Zeit?«

»Nein. Na ja, bei Mademoiselle Hoang mag es gestern wohl so ausgesehen haben nach allem, was ich gehört habe. Aber eigentlich weiß er, was er an ihr hat. Ich habe sie mit seinem Segen wieder zurückgeholt.«

»Das ist ja ein bemerkenswertes Zugeständnis, das hätte ich Ihrem Vater nach dem Ausbruch gestern gar nicht zugetraut.« Luc sah Rémy Fontaine nachdenklich an. Der schien mit den Gedanken schon woanders zu sein.

»Wissen Sie, ich habe in Monaco auch auf Spitzenniveau gekocht – auch wenn mein Vater das sicher anders sieht. Ich hatte keinen Stern, das nicht, aber das Menü war so teuer wie hier. Das lag aber nur an den Zutaten: Da unten an der Côte für unsere Klientel, also die mit den Bentleys und den Maseratis, da servieren Sie nur Hauptgerichte, in denen entweder Hummer, Kaviar, Wagyu-Rind oder wenigstens irgendwas mit schwarzen Trüffeln vorkommt. Und das kostet eben ’ne Stange Geld. Klar, da gibt’s jede Menge Drogen, aber auch hübsche Mädchen, und ich konnte mir nach ’nem Jahr selber einen Lamborghini leisten, weil mein Chef mir das Leasing besorgt hat. Das brauchen Sie da. Ich hab mein Team selbst aufgebaut. Lauter junge Leute. Die können Sie heute nicht mehr hinterm Ofen hervorlocken mit ’ner Achtzigstundenwoche und Arbeit am Sonntag, an Weihnachten und Silvester. Vergessen Sie’s. Die sagen schon im Vorstellungsgespräch, dass sie zwei Tage pro Woche frei haben wollen und dazu eine ordentliche Work-Life-Balance. Wenn mein Vater das hören würde, dann könnte der Bewerber gleich einpacken. Er kommt eben aus einer anderen Zeit.«

»Und jemand wollte, dass seine große Zeit jetzt endet«, fügte Anouk dem Monolog des jungen Mannes hinzu.

»Jetzt bin ich ja da, um auf Papa aufzupassen«, murmelte Rémy Fontaine und sah gedankenverloren aus dem Fenster zum Ozean, über dem der Sturm nun richtig losgebrochen war. »Sind wir fertig?« Er blickte auf die Rolex-Uhr an seinem Handgelenk. »Ich muss meine Vorstellungsrunde fortsetzen, ich wurde noch um Einzelgespräche gebeten.«

Luc nickte. »Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, Monsieur Fontaine.«

Luc erschrak, als ihn von unten ein quäkendes Geräusch erreichte. Es war Aurélie, die mit dem Kopf an ein Tischbein gestoßen war. Er nahm sie schnell auf.

»Hey, chérie , alles in Ordnung?«

Sie sah etwas unglücklich aus und zog einen Flunsch.

»Ermittlungsarbeit ist echt langweilig, oder?«, fragte Luc leise. Er musste zugeben, dass er seine Tochter für einen Moment fast vergessen hatte. So vertieft war er in die Aussagen des Kochs gewesen. Und er sah Anouk an, dass es ihr ähnlich ging.

»Wird Zeit, dass sie mal irgendwo zur Ruhe kommt, hm?«

»Hach, diese Vereinbarkeit von Familie und Beruf«, erwiderte Anouk und zog leicht genervt eine Augenbraue hoch.