»Lassen Sie den jungen Mann hinaus?«, bat Luc die schwarze Polizistin.
Aubry kam eben wieder zur Tür herein. »Er hat gestanden«, rief der Commissaire seinem Chef zu. Laut genug, dass auch Joselyne Lafargue es hören konnte, die auf einer Bank im Eingangsbereich saß.
»Ach wirklich? Wie haben Sie das gemacht?«
Luc antwortete nun leiser: »Er wurde zu der Aktion quasi gezwungen. Deshalb sehen wir keine Veranlassung, ihn weiter festzuhalten. Halten Sie sich nicht mit dem Papierkram auf, wir werden die Ermittlungsakte an die Staatsanwaltschaft schicken, wenn wir mit der anderen Sache fertig sind, einverstanden?«
Laurent Aubry sah die Treppe hoch, wo er den Verdächtigen vermutete, und nickte.
»Und was machen Sie mit Joselyne Lafargue?«
»Gutes Stichwort. Kommen Sie, Mademoiselle. Wir machen uns auf – zu einem Lokaltermin.«
»Was?« Die junge Frau war sofort auf den Beinen. »Wie … Was soll das denn? Wohin fahren Sie mich?«
»Na, zum Tatort. Wir müssen etwas rekonstruieren, Mademoiselle. Sollten Sie Widerstand leisten, können wir auch gerne abwarten, bis der Staatsanwalt dabei ist und vorher Ihr halbes Dorf als Zeugen dazubittet. Wäre das besser?«
Resigniert ließ die junge Frau ihre Hände sinken. »Kann ich kurz ins Bad?«
»Natürlich. Bitte, meine Partnerin kommt mit Ihnen.«
Anouk folgte Mademoiselle Lafargue in die Toilette.
»Ich bleibe hier und mache noch etwas Papierkram, danach komme ich sofort an die Küste«, sagte Aubry, als sie wieder zu zweit waren.
»Sie können auch gern schon nach Bordeaux fahren. Es ist ja wirklich nur eine Körperverletzung.«
»Ich werde an diesen Ermittlungen teilnehmen, Commissaire. Da sollten Sie mir nicht widersprechen.«
Luc nickte. »Wie Sie wünschen.«
Als die Tür Minuten später wieder aufging, trat zuerst die junge Frau aus dem Bad. Sie hatte sich frisch geschminkt und die Haare gebürstet. Sie bemühte sich, die Fassung zu wahren.
»Kommen Sie«, sagte Luc, und die beiden führten Joselyne Lafargue nach draußen und ließen sie hinten in ihr Auto einsteigen. Anouk lenkte den Wagen aus Mont-de-Marsan hinaus, es war keine lange Fahrt bis nach Grenade-sur-l’Adour. Luc sah im Rückspiegel, wie sich die junge Frau immer mehr anspannte, je näher sie ihrem Ziel kamen. Als sie am Schild Ferme du canard heureux abbogen, glaubte er, sie müsse sich übergeben, so blass war sie geworden. Aber er wollte ihr nicht helfen, nicht jetzt, sie musste da durch.
Sie hielten am Eingang zum Bauernhof, und es dauerte keine zehn Sekunden, da kam Guillaume Fontaine aus dem Haus. Man konnte förmlich hören, wie Joselyne Lafargue den Atem anhielt.
Luc stieg auf der Beifahrerseite aus und öffnete ihr die Tür.
»So, dann zeigen Sie uns doch mal, wie Sie in die Scheune gelangt sind«, sagte er so beiläufig, als befänden sie sich auf einem Wochenendausflug unter Freunden. Joselyne Lafargue stieg nur langsam aus, und als sie das tat, zuckte Guillaume Fontaine plötzlich zusammen und konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Sein Blick maß die junge Frau, und es lag alles darin, was im menschlichen Leben an Abgründen zusammenkam: die Sehnsucht, eine Leidenschaft, die lange nicht mehr gestillt worden war, die Angst, weil die Dinge ganz anders gelaufen waren als vorher ausgemalt, die Wut, weil die Rache so schlimm ausgefallen war – und die Angst, weil sie jetzt wieder aufeinandertrafen und keiner wusste, was geschehen würde. Doch offenbar gewann eines der Gefühle schnell die Oberhand, denn Guillaume Fontaine ballte die Fäuste und kam auf sie zugewetzt, sodass sich Luc schnell vor Joselyne schieben musste, um ihn aufzuhalten.
»Was hast du dir dabei gedacht, du verdammte Irre!«, rief er wie von Sinnen. »Kommst in mein Haus und spritzt irgendein Zeug in die Foie gras – du bist wahnsin…«
Luc hob die Hände und schubste den wütenden Bauern von sich weg, dann sagte er drohend:
»Sie beruhigen sich jetzt, sonst lasse ich Ihre Frau wieder herbringen – und dann klären wir das mit ihr. Haben Sie darauf Lust?«
Sofort fiel der Mann in sich zusammen und wirkte plötzlich einen Kopf kleiner als der Commissaire. Doch nun war es Joselyne, die sich an Luc vorbeidrückte.
»Als ich die Wochen davor in dein Haus gekommen bin, hat dich das ja auch nicht gestört, oder?« Ihr Ton war beißend. »Und wenn ich mich richtig erinnere, hast du mich ja sogar zweimal in deine Scheune gebeten – und da war Corinne im Haus. Erinnerst du dich daran? Du warst ganz schön weggetreten …«
Jedes ihrer Worte traf ihn wie ein Schlag.
»Okay, wollen wir uns vielleicht alle mal beruhigen?«, ging Anouk dazwischen. »Wir haben ja verstanden, dass es hier weniger um Entenstopfleber geht, sondern dass Sie offensichtlich eine heftige Affäre hatten. Gehen wir in den Garten.«
Guillaume Fontaine drehte sich als Erster in Richtung Scheune um, die Polizisten und Joselyne Lafargue folgten ihm. Der Bauer grummelte leise vor sich hin, es klang wie ein Mantra.
Die Wiese hinter der Scheune lag im Sonnenschein, und die vielen weißen Enten ließen sich von den Besuchern nicht stören, sie pickten einfach weiter das grüne Gras. Nur Otis sah einmal kurz auf, ließ dann aber gleich wieder den Kopf sinken.
Zwischen dem Haus und der Scheune war eine kleine Terrasse mit Sonnenschirm und einigen Stühlen aufgebaut, dort ließen sie sich nieder, wobei Luc darauf achtete, dass ein ausreichender Abstand zwischen Guillaume Fontaine und der jungen Frau blieb. Der Bauer ließ Joselyne nicht aus den Augen. Sein Blick war schwer zu deuten.
»Mademoiselle Lafargue«, begann Luc, »Sie haben Ihre neuen Freunde aus Deutschland also auf genau diesen Entenzüchter gebracht, den Sie gut kannten. Die Schmierereien wurden zuerst begangen – waren Sie dabei anwesend?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nee, ich konnte damals noch nicht wieder hierher. Ich hab sogar zur Ausbildung einen Umweg gemacht, den ganzen Weg über Eugénie, um nicht an seinem Haus vorbeizukommen.«
»Was ist passiert?«, fragte Anouk, und ihr Tonfall klang aufrichtig.
»Na, wie das eben so ist – denke ich mir jetzt«, antwortete sie mit ironischem Unterton. »Ich kenne Guillaume schon ewig, als ich ein Mädchen war, war er ein junger Mann. Na klar, ich fand ihn immer schon süß. Beim Sommerfest war seine Frau mal wieder als Erste weg. Ich hab nie verstanden, was er von der wollte. Er ist so lustig, so unterhaltsam, ein echter Partylöwe. Und da hab ich dann mal etwas … na ja, den Kontakt gesucht. Es war total einfach. Erst haben wir getanzt und dann …«
Luc sah, wie Guillaume die Augen schloss, als suchte ihn die Erinnerung heim.
»Wie lang ging Ihre Affäre, Monsieur Fontaine?«
Als er nicht antwortete, stöhnte Joselyne genervt. »Du kannst mich nicht mal mehr ansehen, was?«
Leise sagte der Bauer: »Ein halbes Jahr.«
»Ein halbes Jahr, in dem du nicht aufgehört hast, mir Dinge zu versprechen – und uns unsere gemeinsame Zukunft auszumalen. Du würdest sie verlassen, dann würden wir reisen, viel reisen, und später würden wir Kinder zusammen bekommen. Etwas, was bei euch beiden ja nicht …«
Anouk legte der jungen Frau die Hand auf den Unterarm. Und tatsächlich stoppte Joselyne mitten im Satz. »Bis er sich dann immer weniger gemeldet hat. Ich hab ihn jeden Tag angerufen. Aber er ist nur noch ganz selten rangegangen. Aber wenn, dann wolltest du mich direkt treffen, und ich sollte mit dir schlafen – dafür war ich dann doch noch gut genug. Und ich dumme Pute habe das alles mitgemacht, weil ich so verliebt in dich war.«
»Aber meinst du denn, so ist es gewesen? Verdammt, Josy«, fuhr nun der Bauer auf, und es klang gar nicht mehr wütend, sondern verzweifelt. »Ich hab dich geliebt, ja.« Joselyne schien den Tränen nah. »Ich hab dich sehr geliebt … Aber was soll ich denn machen? Ich hab Corinne irgendwann ein Versprechen gegeben. In guten wie in schlechten Tagen. Ich würde ihr Leben kaputtmachen … Ich musste es, verdammt noch mal, abwägen – und dazu war ich am Anfang mit dir eben nicht in der Lage. Jetzt weiß ich es. Du bist so jung, du hast doch alle Möglichkeiten. Aber Corinne – nein, ich muss bei ihr bleiben. Es tut mir leid, dass ich dir das angetan habe.«
Auch Guillaume Fontaine hatte nun feuchte Augen, er wischte sich über das Gesicht. Luc hätte diesen Ort jetzt gerne verlassen, aber noch waren sie nicht fertig.
»Sie waren bei den Schmierereien also nicht beteiligt, aber bei der Vergiftung der Foie gras schon?«
Unter Tränen nickte Joselyne. »Ja, die anderen Jungs wollten nicht mehr mitmachen. Aber Adam war so blind verliebt in mich – wie ich wohl damals in dich. Also hab ich meine Mutter auf der Arbeit besucht und ihr ein bisschen von dem Zeug geklaut, ich hab so ein ganz kleines Fläschchen mitgenommen. Das haben wir dann mit einer Spritze aufgezogen und sind hier reinmarschiert.«
»Otis hat nicht angeschlagen, weil er dich kannte«, sagte Guillaume Fontaine leise.
»Aber er hat Adam nicht gekannt. Nein, das war mir zu heiß. Wir sind tagsüber gekommen. Ich weiß ja, wann du Otis mit auf den Markt nimmst, immer dienstags. Und ich wusste, wann Corinne einkaufen geht. Dienstagmittags stehen hier alle Türen offen. Tja, chéri , wenn man jemandem sein Leben öffnet, dann weiß der wirklich alles über einen, auch wenn die Sache vorbei ist.«
Luc atmete tief ein. »Gut, können wir Sie jetzt allein lassen, und Sie klären den Rest unter sich? Und ich gebe Ihnen noch einen guten Rat: Madame Fontaine weiß längst über all das Bescheid, zumindest ahnt Sie es. Ich vermute, wenn Sie ehrlich sind, ist Ihnen das auch klar. Sie wusste, wer die Foie gras vergiftet hat. Seien Sie ein Mann, Monsieur Fontaine – sagen Sie es ihr.«
Luc stand auf, Anouk tat es ihm gleich, dann gingen sie zum Wagen zurück.
»Puuh«, murmelte der Commissaire. »Die ganz normalen Abgründe.«
»Du wolltest sie jetzt schon leiden sehen, oder, mon cher Luc ?«
Doch der Commissaire schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das war nötig. Da war so viel Unausgesprochenes und so viel Wut – und ohne dass es mal richtig explodiert, wäre das noch Jahre so weitergegangen. Aber jetzt … Jetzt ist alles gesagt. Und vielleicht regelt es sich jetzt wieder von selbst herunter. Meinst du nicht?«
»Doch, vielleicht hast du recht.«
Als sie schon wieder im Auto saßen und in Richtung Westen unterwegs waren, klingelte Lucs Telefon. Laurent Aubry.
»Ja, Verlain?«
»Commissaire, wo sind Sie jetzt mit der jungen Frau? Der Staatsanwalt will sie noch sprechen.«
»Ich habe sie schon aus unserer Obhut entlassen. Sie ist wieder bei ihrer Familie. Der Staatsanwalt kann sie ja erneut vorladen. Für mich ist die Sache abgehakt. Wir sind auf dem Weg zur Küste.«
»So einfach geht das nicht, Verlain! Ich lasse doch auch Monsieur Hoeller nicht einfach zurück auf den Campingplatz. Wer weiß, was die noch alles im Schilde führen. Er ist schon auf dem Weg nach Bordeaux, dort setzen ihn die Kollegen in einen Zug nach Strasbourg, und von dort geht’s über die Grenze. Ich habe ihm einen Landesverweis erteilt.«
»Sie haben was? Und der Wohnwagen?«
»Der ist beschlagnahmt. Geht ins Eigentum der Republik über. Der junge Mann hat sein Gastrecht verwirkt. Schließlich hat er die Traditionen Frankreichs ins Visier genommen.«
»Er ist neunzehn und verliebt und hat deswegen eine Dummheit begangen. Aber das war’s auch schon. Niemand ist verletzt worden. Sagen Sie mal, geht’s noch?« Luc war rasend wütend.
»Ich kann das Gesetz auslegen – und das habe ich getan.«
»Sie haben nie Scheiße gebaut, oder? Weil Sie verliebt waren? Na ja, ich ziehe die Frage besser zurück.«
»Ihre Moral können Sie sich hier getrost an den Hut stecken, Verlain. Es kann nicht jeder ein Romantiker sein wie Sie.«
»Mit Verlaub, Monsieur Aubry: Sie sind einfach ein echter Narr.«
»Na hören Sie mal, Commissaire, das wird ein Nachspiel …«, doch Luc hatte bereits aufgelegt.