»Hör gar nicht auf ihn, chéri «, sagte Anouk, als sie über den schlammigen Weg den Rückzug antraten. Im Auto angekommen, schloss Luc die Augen.
»Aber er hat recht.«
»Was? Wie meinst du das?« Besorgt sah sie ihn von der Seite an.
»Ich hatte die ganze Zeit ein richtig mieses Gefühl. Aber ich habe nicht auf meinen Bauch gehört. Wer kann denn auch damit rechnen, dass so ein junger Mann umgebracht wird. Mit einer Waffe. Hier – in der Einöde. Es gab überhaupt keine Anzeichen. Bis auf mein Bauchgefühl. Aber ich habe mir eben nicht zugehört, nur weil ich Aubry eins auswischen wollte – und jetzt ist Rémy Fontaine tot. Es ist …«, er schüttelte den Kopf, »es ist mein Versagen.«
Sie erwiderte nichts, sondern griff nach seiner Hand, zog ihn zu sich heran, dann nahm sie seinen Kopf und legte ihren dagegen, so hielt sie ihn, minutenlang. Schließlich flüsterte sie leise: »Wir kriegen den Täter, verstanden?«
Luc spürte, wie seine Wut auf sich selbst langsam verflog – und stattdessen die Wut auf denjenigen wuchs, der Rémy Fontaine erschossen hatte. Er drehte den Schlüssel im Schloss und setzte zurück, dann wendete er an einer engen Einbuchtung mitten im Wald.
Unter dem Blätterdach war gar nicht zu sehen gewesen, dass der Regen aufgehört und sich die dunklen Wolken weitgehend verzogen hatten. Ein Wetterwechsel, wie er nur am Meer möglich war.
Als sie über den mondänen Kies rollten und auf dem Parkplatz vor der Villa Auguste ankamen, waren zwei Kellner dabei, die Tische auf der Terrasse abzutrocknen – möglich, dass heute noch Gäste draußen essen würden. Nur würde nicht Auguste Fontaine für diese Gäste kochen, dachte Luc mit Bitterkeit.
»Gehen wir hinein«, sagte er. »Und ich weiß auch schon, mit wem wir reden müssen.«
Sie wandten sich gerade zur Tür, als eine Stimme von hinten rief: »Commissaire …«, er drehte sich um und sah für einen kurzen Moment – ein freundliches Gesicht.
»Madame Joffe«, sagte er, »ist alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Dasselbe wollte ich Sie fragen, Commissaire, Capitaine. Alles in Ordnung? Wir waren den ganzen Abend daheim und haben die Rettungskräfte vorbeifahren hören – und dann noch den Helikopter. Was ist denn nur los?«
»Ach, es ist schrecklich«, erwiderte Luc. »Der junge Monsieur Fontaine, er ist …«
Ihre Augen weiteten sich, und sie betrachtete Luc ungläubig. »Tot?« Es war mehr ein Flüstern.
Luc nickte. »Würden Sie Ihrem Mann direkt Bescheid geben? Wir müssen in die Villa, jetzt geht es um jede Minute.«
»Natürlich, Commissaire, das mache ich. Und jetzt halte ich Sie nicht länger auf.«
»Kein Problem.« Sie verabschiedeten sich, als der Voiturier auf sie zutrat, einen Autoschlüssel in der Hand, weil er wohl eben das Fahrzeug eines Gastes geparkt hatte. »Bonsoir , Commissaire«, sagte er leise. »Ist alles in Ordnung? Hier überschlagen sich ja die Ereignisse.«
Luc nickte ernst. »Ja, in der Tat, es ist etwas Ernstes passiert. Aber wir können Ihnen leider noch nicht mehr sagen.« Er ließ den jungen Mann stehen, öffnete selbst die Tür, und dann betraten Anouk und Luc das Restaurant.
Es waren Sekunden, in denen der Abendservice ganz normal ablief und hier drinnen alles so war wie immer. Sekunden, in denen Luc spürte, warum es für die Menschen in dieser stressigen Welt so heilsam war, an einem solchen Ort zu essen: Es war die Schönheit dieses Ortes, verbunden mit der Freundlichkeit der Angestellten, es war der simple Luxus, perfekt bedient zu werden, verbunden mit den besten Produkten, der reinen Vorfreude und dem puren Glück, wenn die Teller dann vor den Gästen standen – kurzum, es war der perfekte Ort, um mal einfach nur das Leben zu genießen.
Doch der Augenblick war vorbei, als die Gäste die Polizisten wahrnahmen. Anouk und Luc trugen natürlich wie stets bei einem Einsatz ihre orangefarbenen Armbinden, die sie als Ermittler kennzeichneten. Sofort erstarben die Gespräche, und die Blicke wechselten zwischen Aufregung und Angst. Natürlich mussten alle – so wie die Joffes – aus den Fenstern die Einsatzkräfte gesehen haben, genau wie den Hubschrauber. Und den meisten dämmerte wohl, dass es hier nicht nur um Sturmschäden gegangen war.
Florentine Silva kam gerade mit einem Tablett um die Ecke, auf dem vier Gläser und eine Flasche Abatilles-Wasser standen. Abrupt blieb sie stehen, sodass ein Glas ins Wackeln geriet, es war nur der Bruchteil einer Sekunde, dann fing sie sich und nahm ihren Weg wieder auf, sie setzte sogar ihr Lächeln auf, doch es wirkte an diesem Abend falsch, ihre Augen lächelten nicht mit. Anouk stellte sich ihr in den Weg.
»Madame Silva …«
»Capitaine, Commissaire, wir sind mitten im Abendservice …«
»Das ist uns so was von egal, Madame, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Kommen Sie mit in die Küche, wir müssen reden.«
»Aber …«
»Jetzt.« Anouk duldete keine Widerrede. Die Restaurantleiterin wies auf das Tablett, und die Capitaine nickte. Dieses konnte sie noch abliefern. Als sie vom Tisch zurückkam, nahmen die Polizisten sie in die Mitte, die Schiebetür surrte auf, und dann standen sie in der Hitze der Küche, in der es in diesem Moment still wurde, trotz der zischenden Kochplatten und des brutzelnden Grills in der Ecke. Die Köche und Spülhilfen sahen alle zum Pass herüber. Luc räusperte sich und sah in die aufgeregten Gesichter, er spürte, dass es nicht anders ging. Auch wenn er wusste, dass es maximal brutal war.
»Messieurs dames , es tut mir sehr leid, wir werden das Restaurant jetzt nicht schließen, damit wir hier nicht gleich die Presse auf dem Hals haben – Sie werden weiter Ihrer Arbeit nachgehen. Allerdings wird Auguste Fontaine nicht bei Ihnen sein heute Abend, er ist dazu nicht in der Lage. Auch Ihr neuer Chef kann nicht hier sein – und wird es leider auch nie mehr sein. Wir haben Rémy Fontaine eben tot im Wald von Huchet gefunden. Ich bitte Sie, diese schreckliche Nachricht …«
»Er ist …« »Tot?« »Was?« Es krachte, ein Glas zersprang. Luc konnte gar nicht so schnell in alle Richtungen sehen, wie die Fragen auf ihn einstürzten, eine Spülhilfe begann zu weinen, der Pâtissier schlug sich die Hände vors Gesicht, und die junge Asiatin stand blass und bleich in ihrer Ecke und sah auf den Boden, wo ihr das Trinkglas heruntergefallen und in tausend Scherben zersprungen war, bevor sie lossprintete. Noch im Laufen brach sie in Tränen aus, schob sich an ihnen vorbei und war so schnell an der Schiebetür, aufgelöst und total unter Schock, sie ließ sich nicht aufhalten, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und das Schluchzen war nur noch gedämpft zu hören. Luc räusperte sich abermals. »Ich bitte Sie, diese schreckliche Nachricht vorläufig für sich zu behalten. Wir werden jetzt zügig, aber natürlich sehr gründlich ermitteln, und wir müssen Sie bitten hierzubleiben. Sie alle. Ich werde Ihnen nachher, nach dem Abendservice, für alle Ihre Fragen zur Verfügung stehen. Einstweilen bitte ich Sie weiterzumachen mit Ihrer Arbeit – ich glaube, Sie würden dem Maître damit einen großen Gefallen tun. Merci – und es tut mir sehr leid.«
Als Luc geendet hatte, waren alle Augenpaare auf ihn gerichtet. Er hatte sich selbst geschworen, die Truppe in diesem Moment zusammenzuhalten, auch wenn ihm das fast unmöglich schien.
Aber doch, es funktionierte, dachte er, als er sah, wie sich ihre Mienen beruhigten, wie aus der Aufregung ein gewisses Vertrauen wurde – ein Zutrauen, dass dieser Mann in der Lederjacke das Richtige tat. Allmählich begannen alle, sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden, nahmen Messer und Teller, gingen zu den Töpfen, den Soßen und den Törtchen. Auch der Souschef wollte wieder an den Pass, doch Luc sagte in anderem Ton: »Sie nicht, Monsieur le Correc. Wir gehen hinaus. Sie auch, Madame Silva, Sie auch. Wir müssen reden.«