Kapitel 36

Es war merkwürdig, den Kräutergarten in Abwesenheit Auguste Fontaines zu betreten, diese sorgsam abgesteckten Beete, in denen der Maître sonst mit seinem kleinen Messer herumlief, die grünen Blätter der Verveine, der wuchernde Rosmarin, die Blüten des Bohnenkrauts, die Kornblumen, die auf den Sommer warteten, der ihnen ihre blaue Farbe schenken würde.

Auch Florentine Silva und Roland le Correc schienen sich unwohl zu fühlen, das lag aber wohl nicht so sehr an der Abwesenheit ihres Chefs als vielmehr an der Anwesenheit der beiden Polizisten.

Jedenfalls standen sie verloren nebeneinander, wobei sie tunlichst darauf zu achten schienen, einen deutlichen Abstand zum jeweils anderen einzuhalten.

»Können wir das Ganze abkürzen, und Sie sagen mir einfach, was hier vor zwei Stunden passiert ist?«, fragte Luc und sah den Souschef mit ernstem Blick an.

»Non« , erwiderte der Bretone in dem Ton, der der Bevölkerung dieses unwirtlichen Zipfels an der Westküste so zu eigen war. Kein Wort zu viel, und zudem ließ er keinen Zweifel, dass ihm das hier alles zuwider war.

»Was meinen Sie denn, Commissaire?«, fragte Florentine Silva, die schon deutlich gesprächiger war. »Sie glauben doch nicht etwa …« Sie sah ihn an, als hätte er eine Majestätsbeleidigung begangen.

Anouk und Luc blickten sich kurz an, dann begann die Capitaine aufzuzählen: »Sie hatten eine Wahnsinnswut, Madame Silva, Sie sind aus dem Resto gestürmt, gerade als wir hineinwollten. Und Sie, Monsieur le Correc, waren auch miesester Laune, als Rémy Fontaine Sie alle begrüßt hat. Sie lassen keinen Moment aus, um sich irgendwie von Ihrem Chef zu distanzieren – obwohl Sie vor ihm buckeln, aber nach unten treten, was ich persönlich furchtbar finde. Aber das war nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«

»Sie sind die Ziehkinder von Monsieur Fontaine«, fügte Luc hinzu, »er war nicht nur Ihr Mentor. Er muss Ihnen wie Ihr Vater vorgekommen sein, ein Pate in jedem Fall. Ich glaube, Sie gingen fest davon aus, dass er Ihnen das Restaurant doch noch überantworten würde – Ihnen beiden. Ist es nicht so? Und damit hätte er es in die Hände einer nicht nur beruflichen Allianz gegeben, nicht wahr?«

Es war, als hätte Luc einen Schuss abgegeben. Die beiden Gastronomen sahen ihn an wie vom Donner gerührt, der Bretone war richtig in Wallung gekommen, er ruderte mit den Armen und brummte etwas, doch es war Madame Silva, die zuerst die Worte wiederfand.

»Woher wissen Sie das? Wir haben das niemandem erzählt.«

»Ich war in den letzten Tagen öfter in Ihrem Restaurant als ein Restaurantkritiker. Sie suchen sich ständig, Sie sehen sich an, Sie sind nie weit voneinander entfernt. Sie, Madame Silva, holen so oft Teller vom Pass – eine Arbeit, die eigentlich die normalen Kellner machen müssten. Sie sollten immer in der Nähe der Eingangstür sein und den Saal überblicken, doch da standen wir schon manches Mal allein. Sie sind einfach gern in der Nähe – Ihres Geliebten.«

Florentine Silva sah Roland le Correc an, ihr Blick veränderte sich augenblicklich, und sie nickte sanft.

Aber es war der Bretone, der nun sagte: »Ja, es stimmt.« Wieder brummte er mehr, als dass er sprach. »Wir sind uns sehr verbunden.«

»Sie müssen sich sehr verbunden sein in Ihrer Wut auf Ihren Chef.«

»Was denn für eine Wut?«, fragte die Restaurantleiterin und der Zynismus in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Meinen Sie wirklich, wir wären wütend, dass der alte Fontaine erst Stein und Bein schwört, dass er niemals einen Nachfolger für dieses Restaurant sucht, sondern es schließen wird, wenn er aufhört, um hier als alter Mann aufs Meer zu sehen? Das hat er allen Zeitungen gesagt, allen, die ihn interviewt haben, sogar der New York Times , verstehen Sie? Er hat immer so getan, als wäre er der naturnahe Koch, der Liebling der Nation, der dann zum Renteneintritt aufhören und den Ozean genießen würde. Alle haben das geglaubt, wir auch. Aber dann hat sich sein Renteneintritt nach hinten verschoben, und jedes Jahr hat er eine neue Ausrede aufgetischt, um nicht aufhören zu müssen. Und jetzt, wo es wirklich so weit wäre, jetzt, wo wir doch dachten, dass wir eine Chance kriegen würden, jetzt übergibt er das Restaurant ausgerechnet an seinen verlorenen Sohn? Obwohl wir immer hier waren? Wissen Sie, wie viele gute Angebote von anderen Köchen ich ausgeschlagen habe? Und Roland? Sogar die Troisgros haben gefragt, ob er nicht bei ihnen anfangen will. Aber wir haben immer nein gesagt. Aus Loyalität. Weil das hier unser Zuhause ist. Weil Auguste Fontaine unser Zuhause ist. Nein, war. Er war es. Bis zu dem Moment, in dem er unser Vertrauen missbraucht hat. Obwohl wir ihn gedeckt haben, die ganze Zeit. Seine Krankheit. Das Verschwinden seiner Künste.«

Es war ein Monolog gewesen, ein trauriger, nein, ein verbitterter Monolog. Wie so oft, wenn junge Menschen von ihren Vätern oder Ziehvätern enttäuscht wurden und sich alles entlud.

»Sie wollten dieses Restaurant unbedingt?«, fragte Anouk.

Roland le Correc legte seiner Freundin ruhig die Hand auf den Oberarm, dann sagte er: »Dieses Restaurant ist schon lange mein Restaurant. Ich mache die Karte, ich erfinde die neuen Gerichte. Ja, wenn Sie das so fragen – es hätte mir zugestanden. Und was meinen Sie, wie viele Gäste wegen Florentines Charme kommen – und wegen dieses wunderbaren Service, den sie verantwortet? Ohne uns wäre Auguste gar nichts mehr.«

»Wir wollten die Villa. Und wir haben uns zuletzt wirklich ausgemalt, dass es klappen könnte.«

»Aber dann kam die Enttäuschung – und sie kam über Nacht.«

»Ich glaube, er hat gestern nach dem Vorfall mit der Gräte verstanden, dass es nicht weitergeht. Dass er den Stern verlieren wird. Aber er ist so ein eitler Gockel, dass er das nicht hinnehmen kann. Und wie heißt es so schön? Blut ist dicker als Wasser. Da kann er immer auf uns zählen – aber wenn es richtig dicke kommt, ruft er den verstoßenen Sohn an seine Seite.«

»Haben Sie eine Waffe, Monsieur le Correc?«

»Nein, Commissaire.«

»Aber ich, bevor Sie fragen. Ich jage.« Florentine Silva sah Luc herausfordernd an. »Tja, nicht nur die Männer machen das, Commissaire. Da staunen Sie, oder?«

»Ich bin nicht antifeministisch, Madame Silva, Sie können jagen, was Sie wollen. Womit jagen Sie?«

»Mit einem Gewehr. Womit auch sonst? Aber ich jage keine jungen Köche.«

»Sie waren nicht voller Wut und haben Monsieur Fontaine zu einem Einzelgespräch getroffen? Er sagte mir, dass es noch Bedarf gegeben hat für solche Gespräche – und Sie scheinen Bedarf gehabt zu haben. Und wenn es dann ein wenig entglitten ist, dieses Gespräch?«

»Nein, ich habe ihn nicht getroffen, Commissaire, was denken Sie denn? Ich tauche da auf und habe mein Jagdgewehr in der Hand?«

»Ich habe schon seltsamere Morde erlebt, Madame Silva.«

»Wir wollten ihn zu einem Gespräch treffen«, sagte Roland le Correc in seinem gottergebenen Tonfall. »Na klar wollten wir mit ihm darüber reden. Ich hätte sogar unter ihm weitergearbeitet, nur um hierbleiben zu können. Herrgott, ich liebe diesen Ort, ich will hier alt werden. Auch wenn Florentine da anderer Meinung ist.«

»Haben Sie ihn getroffen?«

»Nein. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass er noch jemand anderen treffen muss und dass er erst nach dem Abendservice Zeit hätte.«

»Hat er gesagt, wen er treffen wollte?«

»Nein, das hat er nicht.«

»Wo waren Sie am späten Nachmittag und am frühen Abend?«

»Wir waren in meiner Wohnung in Saint-Girons«, sagte Florentine Silva. »Zusammen. Wir haben eine Flasche Weißen aufgemacht, weil wir erst mal runterkommen mussten.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Nein, bei dem Sturm war ja kaum jemand auf der Straße.«

»Aber Sie fahren extra für zwei Stunden nach Hause – bei dem Sturm.«

»Was hätten wir tun sollen?«, fragte Florentine Silva wütend. »Wir mussten das erst mal verdauen. Hätten wir hier warten sollen und diesem Trottel dabei zusehen, wie er unsere Küche besetzt?«

»Florentine, jetzt reicht es aber«, rief Roland le Correc seine aufgeregte Freundin zur Räson. »Er ist immer noch der Sohn von Auguste – und er ist tot.«

Sofort verstummte die Restaurantleiterin.

»Es tut mir leid, aber es klingt wie ein schwaches Alibi«, sagte Luc. »Sie dürfen die Region bis auf weiteres nicht verlassen, haben Sie verstanden? Wir werden prüfen, was Sie uns erzählt haben.«

Anouk und Luc blieben zurück, während Florentine Silva und Roland le Correc in Richtung Küche gingen. Als le Correc nach Silvas Hand greifen wollte, zog sie sie schnell zurück.