Kapitel 38

Während sich Ly Hoang langsam beruhigte, sah Luc sich im Zimmer um. Es war winzig, das Fenster ging zum Strand, zum Ozean hinaus. Dort draußen legte sich die Dunkelheit wie ein Schleier über das Meer. Es war das Ende eines schrecklichen Tages – für die Polizisten aber war er lange noch nicht vorbei.

Hier drinnen war das Bett zerwühlt, als seien die Gäste am Morgen überstürzt aufgebrochen. Neben dem Bett lag ein Koffer, einer dieser kleinen teuren aus leichtem Aluminium, der verschlossen war. Auf der anderen Seite stand ein Rucksack, wie ihn Weltreisende trugen, er war offen, und es schauten zerknüllte Sachen heraus. Offenbar hatte die junge Frau gerade in aller Hast gepackt. Luc sah auf dem Schreibtisch Dokumente, einen Reisepass, ein kleines Portemonnaie.

»Wollten Sie abreisen, Mademoiselle?«, fragte er so sanft, wie es ihm möglich war.

»Ich … Ich wollte … weg, ich wollte abhauen.« Sie sprach ein gutes, wenngleich leicht verwaschenes Französisch wie jemand, der sehr schnell sprach, aus Angst, dass die Fehler sonst auffielen.

»Sie haben hier die letzten Tage verbracht? Mit Rémy Fontaine?«

Als Anouk den Namen aussprach, schossen Ly Hoang sofort wieder die Tränen in die Augen. Sie ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Die Tränen liefen ihr zu beiden Seiten die Wangen herunter.

»Er hat hier gelegen, auf dieser Seite. Ich habe eben am Kissen gerochen. Ich … Ich vermisse ihn so.«

»Es tut uns leid, Mademoiselle. Sehr leid. Sie müssen uns alles erzählen, verstehen Sie das?«

Sie nickte leicht, vielleicht waren es auch nur die Zuckungen ihres trauernden Körpers.

»Sie sind die Freundin von Rémy gewesen?«

Wieder ein Nicken.

»Sie haben die letzten anderthalb Jahre für ihn gearbeitet?«, fragte Luc, der sich alles nun langsam zusammengereimt hatte. Die junge Köchin nahm die Hände vom Gesicht und setzte sich vorsichtig auf. Dann nickte sie wieder.

»Ja, in Monaco, in Rémys Restaurant. Ich war die Souschefin.«

»Aber warum haben Sie das denn nicht angegeben? Ich meine, als Roland le Correc Sie eingestellt hat? Das war doch eine gute Adresse in Monaco.«

»Aber doch nicht für Auguste Fontaine«, sagte sie schockiert. »Das war eine Adresse der Jeunesse dorée, für reiche Kids. Und wenn er mich nicht deshalb abgelehnt hätte, dann weil ich für seinen Sohn gearbeitet habe.«

»Hat Rémy Ihnen das erzählt?«

»Er war immer ein Sonnenschein, besonders nach außen hin, er hat alle unterhalten. Das Küchenteam, die Spüler, am besten aber die Gäste. Als ich im Restaurant in Monaco anfing, dachte ich, er sei ein Clown, ein gut aussehender Clown, der nur auf Drogen und Mädchen aus ist. Vielleicht war es auch so. Aber irgendwann haben wir uns beide verliebt. Wissen Sie, wenn Sie ständig sechzehn Stunden am Tag zusammen arbeiten, da bleibt nicht mehr viel Zeit für anderes. Auch nicht für andere Menschen. Man arbeitet so nah zusammen, und die Küche – da ist eine Spannung … auch eine erotische Spannung …« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht fassen, dass sie das erzählte. »Wir waren sehr glücklich, aber wir haben es geheim gehalten. Nur wenn wir alleine waren, hat er sich mal geöffnet. Dann hab ich gespürt, wie traurig ihn die Ablehnung seines Vaters gemacht hat und dass er nur von ihm akzeptiert werden wollte.«

»Und Sie haben ihm dabei geholfen, dass das möglich war.«

»Ich weiß nicht, je länger wir zusammen waren … Rémy hat mal gesagt, jemand wie ich sei ihm noch nie passiert. Ich würde das Beste aus ihm rausholen – wegen mir wolle er ein besserer Mensch werden. Vor allem aber ein besserer Koch. Er hörte auf mit den Drogen und mit dem ganzen Bling-Bling-Quatsch. Er erfand neue Gerichte, eine neue Karte – eine viel bessere Karte. Er nahm das Kochen ernst. Ich sollte ihm Sachen zeigen, die ich bei Ducasse gelernt hatte. Und irgendwann entschied er, er sei bereit, es noch mal bei seinem Vater zu versuchen.«

»Aber er wollte nicht allein hierher … Da hat er Sie eingeschleust.«

»Ich hatte die Idee. Ich habe gesagt, dass ich vorausgehen und schauen könne, wie es hier so zugeht. Ob der alte Auguste noch der Herr im Hause ist. Oder ob ich den Souschef überzeugen sollte, dass Rémy doch ein guter neuer Chef sein könne.«

»Aber in Roland le Correc hatte Rémy keinen Fan.«

»Nein, ganz sicher nicht. Ich weiß gar nicht, ob er was geahnt hat, aber er wurde von Woche zu Woche misstrauischer. Immerhin gelang mir, was ich vorhatte: Ich habe ein Gefühl für diese Küche bekommen – und ich hatte, obwohl Auguste sehr eklig zu mir war, durchaus das Gefühl, dass er bereit sein könnte für einen Nachfolger. Deshalb habe ich Rémy angerufen. Ich habe gesagt, er müsse kommen. Jetzt sei der richtige Zeitpunkt – der Moment, in dem Auguste Fontaine dem Aufgeben sehr nahe sei.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie haben es nicht bemerkt? Wir haben es alle bemerkt. Er sieht nichts mehr. Ich glaube, für einen Koch wie ihn ist das …«, sie sah die Polizisten traurig an, »es ist, als würde man sterben. Deshalb habe ich ihn auch nicht verraten, als er mir vorgeworfen hat, ich hätte die Gräte übersehen. Ich habe das einfach über mich ergehen lassen. Weil wir in der Küche alle wussten, was los war. Aber niemand würde eine solche Legende bloßstellen.«

»Dieser Kodex in den Sterneküchen – das ist ja wirklich besonders.«

»Anders können Sie das nicht machen. Es ist doch bei der Polizei nicht anders, oder? Sie haben Ihren Korpsgeist. Sie verraten sich doch auch nicht. Und deshalb wollte ich jetzt weg …«

Luc wollte eigentlich eine weitere Frage stellen, aber die letzten Worte irritierten ihn – nein, sie ließen ihn aufhorchen.

»Was wollen Sie damit sagen, Mademoiselle Hoang? Sie müssen überhaupt nichts fürchten, aber ich verstehe nicht …«

»Sagen Sie mir doch, was ihm passiert ist.«

Luc raffte sich auf, zog die Schultern hoch und musste tun, was seine Pflicht war.

»Er wurde erschossen«, sagte er, leise und doch klar. »Vor nicht einmal drei Stunden. Und ich frage Sie jetzt noch einmal, was Sie damit gemeint haben?«

»Ich habe Angst«, rief sie auf einmal. »Verdammt noch mal, ihr braucht uns als Köche, als Spüler, als Pflegekräfte, aber ihr gebt uns keine richtige Staatsbürgerschaft, nur eine Arbeitserlaubnis – und wenn ich nun Ärger kriege? Dann fliege ich raus. Dann reise ich nach Hause – und alles, all die Jahre in den Küchen, all die langen Tage, die ihr Franzosen nicht machen wollt, all das war sinnlos.«

»Mademoiselle, Ihre Tiraden sind vielleicht richtig – aber sie machen es jetzt nicht besser. Ich werde Sie nicht nach Vietnam schicken – und ich verspreche Ihnen, niemand wird das tun. Aber Sie sagen mir jetzt auf der Stelle, was Sie gerade andeuten wollten.«

»Rémy kam vorhin zu mir an den Posten, gerade als Sie beide die Küche verließen. Er sagte, dass er mich gleich treffen wolle, um zu feiern, bevor der Abendservice beginnt. Ins Hotel hätten wir es nicht geschafft, meinte er, dafür wäre die Zeit zu knapp. Er wolle nur jemanden treffen, und dann würde er mir einen wahnsinnig schönen Ort im Wald zeigen, ein Naturwunder, wie in meiner Heimat. Ich solle ihm in dreißig Minuten folgen, sein Termin werde nicht lange dauern. Und er flüsterte, dass er …«, sie brach wieder ab, mit tränenerstickter Stimme. Luc wartete einen Moment, dann fragte er:

»Und dann sind Sie ihm hinterher, in den Wald?«

»Ja, ich wollte ihm auch erzählen, dass der Bretone und Florentine nicht gut über ihn redeten. Aber … Na ja, dann … Er war noch nicht fertig mit seinem Gespräch im Wald. Ich wollte zurück, umdrehen, als ich sie noch reden hörte. Ich hatte Angst, Rémy könnte sauer sein, dass ich sie belausche. Aber sie haben so laut und wütend geredet. Ich … Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Sie stritten. Ich bin stehen geblieben und habe zugehört. Dann bin ich auf einen Ast getreten. Da wurde der Mann nervös und hat Rémy etwas zugeraunt. Da bin ich vor Schreck losgelaufen, weg von dort, ab in die Küche.« Sie wurde immer lauter, immer verzweifelter. »Aber er kam nicht wieder. Wäre ich doch nur dort geblieben. Dann, dann würde er noch leben …«

»Wer war der andere Mann?«, fragten Anouk und Luc gleichzeitig. Die Nerven des Commissaire waren wie Drahtseile gespannt.

»Deshalb will ich ja weg von hier. Es war der Nachbar von Auguste Fontaine. Sie wissen schon, der Mann, der bis vor kurzem Polizist war.«