Kapitel 40

Anouk parkte auf dem Schotterparkplatz, der mittlerweile bis auf drei oder vier Autos leer war, vermutlich waren nur noch die Angestellten hier und machten noch sauber und räumten auf. Es war kurz vor ein Uhr am Morgen. Zwei Streifenwagen der Gendarmerie standen noch immer am Fahrbahnrand und bewachten den Zugang zum Wald. Die Insassen schienen zu schlafen, die Scheiben waren beschlagen. Der Chefkoch musste die Lichter des Wagens gesehen haben, und so dauerte es nur Sekunden, bis er aus der Tür trat.

»Capitaine, Commissaire«, rief er, und Luc sah Guillaume Fontaine, der mit verweinten Augen hinter seinem Vater aus der Tür trat, gefolgt von Corinne – alle waren zusammen in dieser Stunde. In Trauer vereint , dachte Luc.

»War es Madame Hoang?«, fragte Auguste Fontaine, als er vor den beiden Polizisten stand. »Nun sagen Sie schon.«

»Nein, Maître, wobei auch Madame Hoang ein Geheimnis mit sich herumtrug: Sie war die Freundin Ihres Sohnes.«

»Was sagen Sie da?«

»Er hat sie vorgeschickt, damit sie prüft, wie die Lage hier ist, weil er unbedingt wieder mit Ihnen in Kontakt treten wollte.«

Auguste schluckte. »Und ich habe sie so schlecht behandelt. Das arme Mädchen. Wäre Rémy doch nur ehrlich gewesen – sie ist eine so gute und sympathische Köchin … Ich …«

»Sie konnten es ja nicht wissen. Mademoiselle Hoang hat uns aber einen entscheidenden Hinweis gegeben. Wir müssen jetzt noch jemanden befragen.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Ja, es eilt.«

»Aber wer …« Doch dann verstummte Auguste Fontaine, offenbar war er Lucs Blick gefolgt. »Sie wollen zu … aber …« Und dann fügte sich in seinem Kopf etwas zusammen, wie ein Puzzle, in dem das letzte Teil unter die Couch gerutscht war und nun im Staubsauger wiederauftauchte. »Aber das ist doch …«

»Ich habe noch eine Frage, Monsieur, zu Ihrem Weinkeller.«

Luc stellte seine Frage, und Auguste antwortete, zutiefst verdutzt, zutiefst schockiert. Luc nickte und wollte sich verabschieden, doch der alte Mann war schneller. »Ich gehe jetzt hinüber …«

»Nein, das werden Sie nicht, Monsieur, Sie werden uns unsere Arbeit machen lassen.«

»Lassen Sie meinen Vater los!«, rief Guillaume. Anouk war währenddessen zu den Gendarmen gegangen, um sie zu wecken. Mit einem Satz waren sie aus den Autos heraus und rieben sich die Augen.

Luc sah August und Guillaume Fontaine scharf an. »Sie werden nicht dort hinübergehen. Haben Sie das verstanden? Ich mache das – auf meine Art.« Sein Ton duldete keine Widerrede.

Die Männer nickten schicksalsergeben.

»Gut. Anouk? Wir gehen. Und Sie bewachen das Haus, verstanden? Nicht wieder einpennen.«

Luc sagte es so scharf, dass die Gendarmen strammstanden. Noch einmal klingelte sein Telefon.

Die Nummer war eine aus Dax, und sie kam ihm merkwürdig bekannt vor.

»Ja? Verlain?«

»Hier ist Docteur Giraud, Commissaire. Ich habe ein Ergebnis.«

»Bitte, lassen Sie hören.«

Luc hielt den Hörer so fest an sein Ohr, dass er, als er aufgelegt hatte, noch immer die Wärme spürte.

»Merde« , sagte er und nickte Anouk zu. Dann gingen sie endlich hinüber zum Haus der Joffes. Doch bevor seine Partnerin klingeln konnte, sagte Luc: »Nein, lass uns hier lang.«

Er ging voran, sie folgte ihm, sie nahmen den Weg ums Haus herum, und Luc sah ihn zuerst: Da saß er, rauchend und den Blick fest aufs Meer geheftet.

»’n Abend, Monsieur Joffe«, sagte Luc in möglichst neutralem Tonfall.

»Guten Morgen, Commissaire.«

»Das wird gar kein guter Morgen, Monsieur. Ich glaube, für mich nicht – aber für Sie schon gar nicht.«

Der alte Polizist drückte die Zigarette langsam und gemächlich im Aschenbecher aus, die Glut knisterte. Dann wandte er sich dem Commissaire zu, sein Gesicht wurde vom Mond in ein fahles Licht getaucht.

»Ich fürchte, ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Anouk, würdest du bitte Madame Joffe wecken?«

»Das werde ich tun, Commissaire. Denn das ist mein Haus, auch wenn Sie gerne unsere Gäste waren.«

»Ich muss Sie anweisen, sitzen zu bleiben. Ersparen Sie uns beiden, dass ich Sie durchsuche – Sie kennen das Prozedere.«

»Bin ich etwa verhaftet?«

Luc legte den Kopf schief. »Möglicherweise läuft es darauf hinaus. Für den Moment sind Sie ein betroffener Zeuge, den ich anweise, sitzen zu bleiben.«

Anouk ließ den alten Commissaire nicht aus den Augen, während sie sich an ihm vorbeischob, um über die Terrasse das Haus zu betreten. Luc hörte sie die knarzende Treppe nach oben in Richtung Schlafzimmer gehen.

»Was ist das für ein Schauspiel, das Sie hier aufführen, Commissaire Verlain?«

»Ich wünschte, es wäre ein Schauspiel, Monsieur Joffe. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich einem Irrtum aufgesessen bin – und ich wünsche mir, dass Rémy Fontaine wieder aufsteht und in die Küche eilt. Allein, ich fürchte, daraus wird nichts. Ich habe ihn dort liegen sehen. Und Sie und ich wissen, dass das kein schöner Anblick war.

Die Treppe knarzte wieder, diesmal mehrfach, und kurz darauf trat Madame Joffe aus der Tür, sie trug ein T-Shirt und eine Schlafhose und sah den Commissaire verwundert an.

»Darf ich fragen, was das hier soll, Monsieur Verlain?«

»Setzen Sie sich, Madame Joffe. Wir müssen reden.«

»Nachts um eins?«

»Es ist leider nicht aufzuschieben«, sagte Luc, und Anouk setzte sich neben ihn.

»Monsieur Joffe, wo waren Sie heute Abend? So kurz nach sechs, halb sieben?«

»Mein Mann war hier«, sagte Madame Joffe, aufrecht sitzend und bereit, zum Sprung anzusetzen, wie eine Löwin, die ihr Junges schützt. »Hier bei mir, den ganzen Abend.«

»Sie haben also ein Alibi, Monsieur?«

»Wenn meine Frau das sagt, dann werden Sie es wohl glauben müssen. Also: Was wollen Sie?«

»Warum haben Sie den Wein des Kritikers vergiftet?«

»Ich habe was?«

»Sie wussten, wie fast alle gastronomisch interessierten Franzosen, von der Vorliebe des Monsieur Gennevilliers für den 1995 er Château Lacour. Sie haben ihn versetzt mit einem Medikament, das heißt mit einer Droge. Warum haben Sie das getan?«

Ernest Joffe lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, holte eine zerknüllte Schachtel aus seiner Hosentasche und fingerte eine weitere Zigarette daraus hervor, die er mit einem Streichholz entzündete.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich erinnere mich an meine Arbeit als Polizist, sie ist noch nicht so lange her, aber damals brauchte man immer Beweise, wenn man so etwas behauptet hat.«

»Die werde ich beibringen, die Beweise, keine Sorge.«

»Ich bin gespannt.« Ein leichtes Lächeln huschte über seine Züge. Es war für Luc immer wieder faszinierend, nein: gespenstisch, wie sich das gesamte Wesen von Menschen, die man für absolut unverdächtig gehalten hatte, plötzlich komplett verändern konnte.

»Was ist Ihr Problem mit Ugo? Nein, ich glaube, ich habe mich lange geirrt. Um ihn ging es ja gar nicht. Was ist Ihr Problem mit Auguste Fontaine, Monsieur Joffe?«

»Ach, der alte Auguste. Wir sind Nachbarn, wir sind Freunde.«

Es surrte in Lucs Hosentasche. »Moment«, murmelte er und holte sein Handy heraus. Er las die Nachricht, dann blickte er den anderen Polizisten mit finsterer Miene an.

»Wissen Sie, Monsieur Joffe, mein Kollege, Hugo Pannetier, ist wirklich der schnellste Rechercheur von hier bis Paris. Er schafft es, auch noch in einer Sturmnacht die entscheidenden Leute ans Telefon zu kriegen. Er hat es also vermocht, den neuen Leiter der Polizei in Dax zu sprechen. Der hat sofort den Archivar aus dem Bett geholt und ist ins Commissariat gefahren, um sich mit ihm zu treffen. Und siehe da: Aus der Asservatenkammer in Dax ist eine kleine Menge GHB verschwunden. Genau ein winziges Fläschchen. Wissen Sie, wann das war? Vor vier Monaten. Zwei Wochen vor Ihrer Verrentung. Sie waren damals noch in Amt und Würden. Als Ihnen der Leiter der Asservatenkammer davon erzählte, wiesen Sie ihn an, keinen Alarm zu schlagen, sonst gerate das Commissariat in Verruf – und das so kurz vor Ihrem Karriereende. Das konnte ja wirklich niemand wollen.«

»Und worauf wollen Sie damit hinaus?«

»Ach kommen Sie, jetzt stellen Sie sich doch nicht doofer, als Sie sind! Ich hoffe, Ihre Verhöre waren besser als Ihr Bluff in einem Verhör. Sie haben das GHB gestohlen. Und Sie haben es in die Weinflasche gespritzt.«

»Was?«

»Ich frage mich, wieso ich nicht gleich darauf gekommen bin. Ich habe Auguste Fontaine vorhin gebeten, noch mal scharf zu überlegen, wer denn noch im Keller war. Wen er da mit hinunter nehme. Er solle mal an alle denken. Nicht nur an die Angestellten. Und wissen Sie was? Wissen Sie, wen man nur zu gern vergisst? Den Nachbarn. Den Nachbarn, der einem so nah ist, dass man ihn gar nicht mehr richtig wahrnimmt. Ein Nachbar weiß immer alles – gerade wenn die Häuser so unverbaut sind wie die Ihren. Und Auguste Fontaine hat Ihnen vertraut. Er ist ein Ehrenmann – und er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Sie keiner sind. Er hat den Code also offen vor Ihnen eingegeben – und Polizisten wie wir sind Meister im Beobachten. Sie haben sich den Code gemerkt und hatten so stets unbemerkt Zutritt.«

Ernest Joffe lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme. Er wollte cool wirken, cool und beherrscht, doch Luc schien es, als bröckelte die Fassade so langsam.

»Gut, das wollen Sie also nicht zugeben. Dann muss ich Sie noch mal fragen, wo Sie heute nach sechzehn Uhr gewesen sind.«

»Na, wir waren zusammen«, sagte Madame Joffe, »das habe ich Ihnen doch vorhin gesagt.«

»Warum haben Sie erst den Kritiker vergiftet, Ernest, und dann auch noch Augustes Sohn umgebracht?«

»Ich habe was? Sagen Sie mal, spinnen Sie jetzt völlig? Ein bisschen Ecstasy im Wein, das ist ja was ganz anderes, als jemanden …«

»Der Schuss kam aus einer PAMAS G1 von Beretta. Eine Neun-Millimeter-Waffe. Sie wissen das, weil es bis 2003 die Standarddienstwaffe der Police nationale war. Da sind wir alle auf Sig Sauer umgestiegen. Aber ältere Polizeibeamte behielten gerne ihre PAMAS , weil sie in Frankreich produziert worden war. Nationalstolz halt. Auch Sie besaßen so eine Pistole, richtig? Und Sie haben sie nicht abgegeben, nehme ich an.«

Monsieur Joffe wurde blass. »Ich …« Er war sprachlos.

»Wir haben einen Waffensafe«, sagte Madame Joffe. »Aber ich kann Ihnen versichern: Mein Mann war hier, und der Schrank ist leer. Er hat die ganze Ausrüstung abgegeben.«

Ernest Joffe stand auf einmal ohne Vorwarnung auf. Luc sprang sofort auf und drückte ihn wieder auf seinen Stuhl, nicht ohne seinen Körper nach der Waffe abzusuchen.

»Sie bleiben hier sitzen«, sagte er drohend. »Wir holen gleich die Spurensicherung, und lassen Sie auf Schmauchspuren untersuchen.«

»Ich …«, rief Madame Joffe. »Lassen Sie doch meinen Mann in Ruhe!«

Der alte Polizist zitterte am ganzen Leib. Luc begann sich Sorgen um sein Herz zu machen.

»Wir müssen das prüfen, Monsieur. Sie bleiben hier sitzen. Madame, Sie gehen voraus. Wo ist der Safe?«

»Im Bücherregal versteckt«, sagte sie und war schon auf den Beinen.

»Luc«, sagte Anouk leise, als sie ihr nach drinnen folgten. »Warte kurz.«

»Was ist?«

»Mir fällt gerade eine Lektion aus der Polizeischule wieder ein. Stichwort: sich gegenseitig schützende Zeugen.«

»Was meinst du?« Langsam wurde Luc ungeduldig.

»Na, wenn er plötzlich kein Alibi mehr hat, weil wir ihm das Gegenteil bewiesen haben, dann ist es folgerichtig, dass …«

»… dass sie auch keines mehr hat. Verdammt.« Er ging schneller, rief: »Madame Joffe, Hände weg von dem Safe …«, doch sie hatte ihn schon geöffnet, flink war sie gewesen und drehte sich schon um, in ihrer Hand hielt sie die kalte, glänzende Waffe und richtete sie auf Anouk. Luc schob seine Partnerin zur Seite, doch Madame Joffe zitterte nicht, sie folgte Anouk, ihr Blick war kühl und ruhig.

»Madame, bitte, machen Sie keinen Fehler, bitte, legen Sie die Pistole hin.«

»Vergessen Sie es, Commissaire, ich hab oft genug von meinem Mann gehört, wie es in französischen Knästen zugeht. Ich gehe nicht ins Gefängnis. Vergessen Sie es.«

»Madame, legen Sie die …«

»Fanny …«, der Ruf kam von der Terrasse, »Fanny, hör auf, was soll denn das?« Ernest Joffe stand da, jetzt zitterte er wie Espenlaub. »Hör auf, bitte!«

»Sei still!«, fuhr sie ihren Mann an, und alles wirkte auf einmal surreal. »Niemals gehe ich in den Knast. Nicht deswegen. Nein. Sie hätten uns weiter terrorisiert – das kann ich nicht ertragen. Lieber …«

»Chérie , glaub es mir, du gehst nicht ins Gefängnis. Wir sind alt, du hast Rheuma, kein Richter der Welt wird dich in den Knast stecken. Es war doch bestimmt ein Unfall, nur ein Unfall.«

»Es war kein Unfall«, sagte sie. »Wie kannst du das sagen? Er hat dich doch ausgelacht. Dich! Meinen Mann. Ich konnte das nicht ertragen. Und ich wusste, was er vorhatte – wir hätten neben einer Beachbar gelebt oder neben so einem Schickimickischuppen mit Drogen und lauter Musik. Nicht mit mir! Ich konnte diesem Jungen nicht vertrauen, ich konnte ihn schon als Kind nicht ab. Schon damals war er immer der Lauteste auf diesem schrecklichen Trampolin.«

»Wollen Sie sagen, dass Sie Ihren Nachbarn wirklich ermordet haben, weil Sie Angst vor Lärm hatten?«

»Sie haben ja keine Ahnung, Commissaire. Wie heißt es so schön? Steter Tropfen höhlt den Stein. Nichts ist so wichtig wie eine gute Nachbarschaft. Aber es kann einen auch nichts so sehr erschüttern. Können Sie sich vorstellen, dass Sie beim geringsten Geräusch zusammenzucken? Aber so ist es nach derart vielen Jahren. Da haben Sie Nerven wie Drahtseile, die kurz vor dem Reißen sind. Sie genießen es hier, weil es so ruhig ist, den ganzen Tag sind da nur Zikaden und die Möwen und das Meer. Und dann, Sie können die Uhr danach stellen, rast um achtzehn Uhr der erste Gast mit seinem Porsche über den Kies. Wie ich diesen Kies hasse. Ich habe Auguste gebeten, seine Einfahrt zu betonieren. Wir hätten es ihm bezahlt! Vor fünfzehn Jahren schon. Aber nein, er hat gesagt: Der Kies muss bleiben. Die Gäste finden den mondän. Können Sie sich das vorstellen? Wir sind doch hier nicht im beschissenen Château Versailles. Und morgens, wissen Sie, wann der Gemüsehändler kommt? Um sechs. Um sechs Uhr früh stellt der seine Champignons hier ab. Um halb sieben kommt der Fleischer. Und alle hupen und plaudern mit dem Souschef, und dann wird ausgeladen, und dann knirscht wieder der Kies, und währenddessen liege ich im Bett und koche. Jeden zweiten Morgen, seit über dreißig Jahren. Und dann ist mittags, wenn ich schlafen will, die Terrasse offen. Und alle sitzen draußen und quatschen, und die Gläser klirren. Und abends beginnt der ganze Zirkus wieder, ab achtzehn Uhr fahren die Autos vor, und dann geht es bis ein Uhr in der Nacht. Aber dann ist es nicht vorbei. Nein«, ihre Stimme troff vor Wut und Hohn, »dann sind die Kellner so glücklich, dass sie ihre zufriedengestellten Gäste los sind, und dann drehen sie die Musik auf und räumen auf und saufen und feiern. Und Auguste kommt einmal im Jahr, gibt uns eine gute Flasche aus seinem Keller und sagt: Ach, wie schön, dass ihr euch nie beschwert, aber es ist ja auch toll, neben so einer Restaurantlegende zu wohnen, nicht wahr? Und jedes Jahr machte er weiter, obwohl er versprochen hatte aufzuhören. Ich habe immer wieder mit Ernest geredet, und irgendwann war klar: Jetzt reicht es, wir machen das mit dem Gift. Ernest hat das GHB besorgt, wir wussten, dass es niemanden umbringt. Ich war schließlich so lange Lehrerin, ich kannte das alles, die Schüler kennen sich damit ja besser aus als die flics. Ernest hatte den Code für den Keller, und dann hat er es da reingespritzt. Wir wollten, dass der Sternewahnsinn ein Ende hat. Aber da haben wir die Rechnung ohne Auguste gemacht.«

»Eigentlich haben Sie mit Ihrer Tat dafür gesorgt, dass er nicht aufhören konnte, oder?«, fragte Anouk. Luc hatte immer noch die Hände erhoben, irgendwie versuchte er, sie zu beruhigen, aber Madame Joffe war noch nicht fertig.

»Weil ihm nicht zu trauen ist, er hält sich nie an sein Wort – er hat wirklich nur diese Küche, für ihn existiert nichts anderes. Aber dass er wirklich Rémy das Restaurant übergibt …«, sie fuchtelte wieder vor Wut wild mit der Pistole herum, »als Auguste das Ernest erzählt hat, gestern Morgen, da hab ich geglaubt, ich hör nicht richtig. Uns war klar, jetzt ist das Fass am Überlaufen. Ernest wollte trotzdem erst mal mit Rémy reden. Ihn überzeugen, vielleicht nur drinnen zu arbeiten. Die Terrasse zu schließen. Er wollte ihm sagen, dass wir so erschöpft sind – nach all den Jahren bei der Polizei und an der Schule – und dass wir unsere Ruhe haben wollen. Aber Ernest«, sie sah ihren Mann mild an, »er ist einfach so ehrlich, das war er schon immer. Er hat Rémy einfach von unserem Wunsch erzählt. Dass man das Restaurant vielleicht nur in der Saison öffnen könnte – oder alles etwas ruhiger gestalten. Aber Rémy hat ihn ausgelacht und gesagt: Tja, aber das Restaurant ist nun einmal da. Und dann hat mein lieber Mann im Wald zugegeben, dass er den Wein vergiftet hat. Er hat damit zeigen wollen, wie verzweifelt er war. Wie verzweifelt wir waren. Da ist Rémy ausgeflippt. Was Ernest denn einfalle, wie er das tun könne, er sei doch der beste Freund seines Vaters gewesen. Und nun sei er ein primitiver Verbrecher. Ernest ist davongestürmt, er war von Sinnen, er sah so verletzt aus, wie ein geschlagener Mann.«

»Und du warst die ganze Zeit dabei?«

Die ungläubige Stimme ihres Mannes. »Und dann hast du ihn wirklich … erschossen?«

»Als du weg warst, hat Rémy eine Nummer gewählt, ich dachte, er will die Polizei rufen. Aber niemand hat abgehoben. Dann hat er sich eine Zigarette angesteckt. Ich hatte die Waffe dabei, weil ich bereit sein wollte, falls er dich angreift. Ich habe hinter einem Baum gewartet. Wenig später ist er losgestürmt, kopfschüttelnd, da bin ich aus dem Schatten raus. Rémy hat sofort angehalten. Ich höre ihn immer noch, so höhnisch. Jetzt auch noch du alte Schachtel , hat er gesagt, was willst du jetzt noch? Soll ich vielleicht gleich ganz zumachen? Ja, habe ich gesagt, das rate ich dir. Und sonst? Was passiert sonst? Ich sage dir, was passiert. Ich gehe jetzt zu Papa, und dann werden wir euch anzeigen. Und dann hat er wieder gelacht. Aber niemand lacht mich aus, erst recht nicht meine alten Schüler. Ich habe die Waffe herausgenommen und sie ihm vors Gesicht gehalten. Er hat nur eine schnelle Bewegung gemacht in seinem Schreck, er wollte danach greifen, und dabei ist mein Zeigefinger auf den Abzug gekommen und dann …« Sie verzog das Gesicht. »Ich höre den Knall noch, es piept immer noch in meinem Ohr, und dann ist er zusammengesackt und in den Strom gefallen.«

»Du … das … du, na also, dann war es doch ein Unfall … Fanny, nun sag schon, es war ein Unfall …«

Ernest Joffe unterbrach sich, weil der Lärm von der Tür kam, sie wurde aufgerissen, eine bekannte Stimme sagte wütend: »Verlain, Sie spinnen wohl, hier einen Polizisten zu verhaf…«

Und in diesem Moment drehten sich alle zur Tür, Fanny Joffe drückte den Abzug in genau jenem Augenblick, als Luc die Gunst der Sekunde nutzte, um sich auf sie zu stürzen, die Waffe wurde hochgerissen, der Knall war ohrenbetäubend, und dann traf die Kugel unterhalb der Decke genau das Aquarell mit der Strandszene, es wurde zerrissen und fiel von der Wand, und dann schlug auch Madame Joffe auf dem Boden auf, Luc auf ihr, er entriss ihr die Waffe und drehte ihr die Hände auf den Rücken. Laurent Aubry aber stand sprachlos in der Tür, die Hände vorm Gesicht.

Luc saß aufrecht auf der Festgenommenen und sah seinen Chef an.

»Gutes Timing, Aubry, mit Schusswaffen haben Sie es offenbar … Madame Fanny Joffe, ich verhafte Sie unter Mordverdacht und wegen der Beihilfe zu einer schweren Körperverletzung. Sie haben das Recht auf einen Anwalt, und Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Sie, Monsieur Ernest Joffe, sind verhaftet wegen des Verdachts einer schweren Körperverletzung, der Unterschlagung im Amt, des Besitzes von Rauschgift und wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Sie werden ins Commissariat von Bordeaux überstellt.«

Die Gendarmen kamen in diesem Moment mit gezogenen Waffen ins Haus gerannt, doch der Commissaire hob schon die Hände. »Alles gut, wir sind hier fertig.«

Luc spürte, dass er sehr dringend an die frische Luft musste. Er ging voran und öffnete die Tür, die kühle Nachtluft strömte ihm entgegen. Verdammt, ging ihm das an die Nieren. Anouk trat neben ihn, und dann gingen sie hinaus, hinter ihnen wurden die beiden Eheleute nach draußen geführt, zwar ohne Handschellen, aber je ein Gendarm hielt sie am Arm. Sie wurden in zwei Streifenwagen gesetzt und ließen einander nicht aus den Augen.

»Das Wort Tragödie ist fast zu schwach für das, was hier passiert ist«, sagte Anouk.

»Herrje«, murmelte Luc leise.

Aus dem Restaurant kamen plötzlich zwei Gestalten, die eine stützte die andere. Luc traute seinen Augen nicht. Der große schlanke Mann, der den anderen gewaltigen Mann hielt.

»Monsieur Gennevilliers!«, rief Luc, und sie gingen aufeinander zu. »Wir kennen uns noch nicht, ich bin der ermittelnde Commissaire, meine Partnerin Anouk Filipetti. Wie geht es Ihnen?«

Der hagere Mann blieb vor ihnen stehen, er sah noch etwas bleich um die Nase aus, ging aber sehr aufrecht.

»Liquid Ecstasy ist wirklich ein Jungbrunnen«, sagte er näselnd. »Ich bin aus dem Koma geholt worden und dachte, ich wäre wieder dreißig. Ich hab alles vergessen, was geschehen ist – und konnte nicht fassen, was die Ärztin mir erzählte. Ich würde trotzdem davon absehen, das Teufelszeug noch mal zu nehmen. Mir geht es wieder gut, ich wurde am Mittag entlassen. Ich habe am Abend Auguste angerufen – und als ich hörte, was hier passiert ist, bin ich sofort gekommen. Einen Freund lässt man in solchen Stunden nicht alleine.«

Der große Koch sah ihn voller Rührung an, aber die Tränen ließen sich nicht mehr zurückhalten, deshalb nahm ihn der Kritiker wieder in seine Arme. »Es tut mir so leid, Auguste.«

»Ich …« Der Koch löste sich nach einer Weile und wandte sich an die Polizisten.

»Stimmt es? Er war es wirklich?«

Luc senkte seine Stimme, es fiel ihm wirklich schwer.

»Sie war es. Madame Joffe hat Ihren Jungen erschossen. Vielleicht hat sich der Schuss nur so gelöst, wir wissen es noch nicht. Es tut mir sehr leid.«

»Und Ugo? Wer hat ihn vergiftet? Auch sie?«

»Nein, das war Monsieur Joffe. Es ist eine schreckliche Tragödie.«

»Mein lieber Auguste«, sagte der Kritiker, »ich weiß, es macht nichts besser, aber ich werde dafür sorgen, dass du deinen dritten Stern behältst. Ich werde gleich mit Gilles sprechen. Und vielleicht – ja, vielleicht – machst du ja doch weiter, zum Gedenken an deinen Jungen.«

Auguste ließ sich widerstandslos wieder in die Arme nehmen, und Luc konnte nicht umhin festzustellen, dass der gefürchtetste Restaurantkritiker Frankreichs im Grunde ein sehr freundlicher Mann war.

»Wir lassen Sie jetzt alleine. Ich werde Sie in den kommenden Tagen aber noch einmal besuchen, um Ihnen den Ermittlungsstand zu überbringen. Alles Gute, Monsieur Fontaine. Und Ihnen, Monsieur Gennevilliers.«

»Vielen Dank, Commissaire, vielen Dank.«