Epilog

Es war der übernächste Tag, ein Mittwoch. und sie standen im Garten von Paul Preud’homme unter den hölzernen Bögen, die von wilden Rosenranken überspannt waren. Am Tag zuvor waren Anouk und Luc noch einmal zu Auguste Fontaine gefahren und hatten ihm die Geständnisse des Ehepaars überbracht. Ernest Joffe hatte wirklich nichts davon gewusst, dass seine Frau Rémy getötet hatte. Auguste war untröstlich gewesen, hatte aber eine schwerwiegende Entscheidung getroffen:

Er würde das Restaurant trotz seiner Krankheit offen lassen. Ich würde eingehen ohne meinen Sohn und ohne meine Arbeit , hatte er gesagt. Florentine Silva und Roland le Correc hatten zugesagt, weiter an Augustes Seite zu sein, genau wie Guillaume und Corinne. Sie wollten das Restaurant eines Tages übernehmen, wenn Auguste sich zur Ruhe setzte. Aber er durfte so lange der Patron bleiben, wie er wollte.

All das erzählten sie jetzt der Runde, die sich im Garten des alten Chefs versammelt hatte. Die Frühlingssonne lachte auf die bunte Gesellschaft herab, und auf einmal schien der lange Winter vergessen. Hugo hatte die strahlende Aurélie auf dem Arm, Anouk und Luc hielten sich an den Händen.

»Ich möchte Ihnen gratulieren, Verlain – und Ihnen, Anouk, genau wie Ihnen, Hugo. Als Bürger von Saint-Girons bin ich froh, dass hier nun wieder Ruhe einkehrt. Dank Ihrer fulminanten Ermittlungsarbeit, auch wenn die Auflösung des Falles mehr als nachdenklich stimmt.«

»Nun, es war eben echte Teamarbeit von allen in meiner Einheit, inklusive des Chefs«, sagte Laurent Aubry, der sich selbst eingeladen hatte und nun einen Schritt nach vorne trat.

»Ja, Monsieur Aubry«, sagte Preud’homme und lächelte süffisant. »Da Sie es schon ansprechen – und weil Sie ja meinem besten Commissaire seine Teamfähigkeit abgesprochen haben, damals in der Feuerwache …«

»Aber da waren Sie doch gar nicht dabei, wie konnten Sie das hören? Verlain, war das eine Indiskretion?«

»Das war gar nicht nötig. Ich stand schon eine Weile vor dem Tor und habe alles mitangehört, Sie sprechen ja so laut«, Preud’homme schüttelte den Kopf. »Nun ja, Sie reden ja dauernd davon, wie gut Sie den Herrn Innenminister kennen. Das Problem ist nur: Ich kenne ihn auch, seit vielen, vielen Jahren. Also haben Monsieur le Ministre und ich gestern einmal telefoniert. Und er versicherte mir, dass er Sie zweimal gesprochen hat, und beide Male hat er Sie – ich zitiere das nur, weil ich solche Worte sonst nicht benutze – für einen Idioten gehalten. Aber er mochte Ihren Vater – und deshalb wollte er ihm einen Gefallen tun. Er hat Sie nur deshalb nach Bordeaux versetzt, weil er wusste, dass hier mit unserem lieben Luc ein Beamter Dienst tut, der sich Ihrer erwehren kann. Als er nun aber erfuhr, wie Sie hier wüten – nun ja, da hat er ganz schnell eine neue Aufgabe gefunden, und ich bin in der glücklichen Position, Ihnen Ihre, wie soll ich sagen?, Beförderung mitzuteilen.«

Laurent Aubry war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, er stapfte unruhig von einem Fuß auf den anderen, und Luc konnte nicht umhin, ihn ein wenig zu bemitleiden. Er war so überrascht von Preud’hommes Auftritt; er hatte gar nicht gewusst, dass sein alter Chef einen solchen Moment so auskosten würde – er hatte Aubry wohl wirklich gefressen. »Auf Sie wartet jedenfalls eine echte Bewährungschance: Im Grand Est beginnen nächste Woche die Tarifverhandlungen der Beamten mit den Gewerkschaften – und eine solche Auseinandersetzung im regnerischen Nancy ist doch bestimmt das Richtige für Sie, denkt der Minister. Wer würde sich nicht gern zwei Monate lang täglich mit Gewerkschaftern auseinandersetzen? Und – vielleicht ist es auch besser so: Zweimal überlebt man einen Schusswaffeneinsatz, aber beim dritten Mal …«

»Aber, Monsieur Preud’homme, wollen wir nicht noch einmal darüber reden?«

»Da müssen Sie Monsieur le Ministre anrufen, ich bin schließlich nur der Bote. Und nun wünsche ich Ihnen einen guten Tag, Monsieur. Madame Filipetti? Luc? Hugo? Wollen wir noch ein Glas nehmen?«

Damit ließ er den jungen Mann stehen und nahm die alten Kollegen mit zu einem Tisch im Schatten, auf dem ein Kühler mit einem Weißwein aus dem Tursan stand, der schon geöffnet war. Er schenkte ihnen allen ein, und dann stießen sie gemeinsam an.

»Sie sind aber ein echtes Schlitzohr.«

»Du …«, mahnte Paul Preud’homme, »wir sind beim Du , Luc. Aber das war nicht alles, was mir Monsieur le Ministre mitgegeben hat«, fuhr er fort. Alle Augen richteten sich auf den einstigen Chef der Einheit. »Er bat mich auch, mit meiner Erfahrung eine Entscheidung zu treffen, wer die Einheit künftig führen soll. Ich habe nicht sehr lange überlegt.« Luc schloss die Augen. Er hatte lange darüber nachgedacht, ob er damals die falsche Entscheidung getroffen hatte, den Posten nicht anzunehmen, war aber jedes Mal zu dem Urteil gekommen: Nein, es war richtig gewesen. Er wollte nicht Urlaubsanträge abstempeln, Dienstpläne machen und ständig mit den Granden der Polizei in Paris telefonieren müssen. Er wollte ermitteln.

»Nun ja, mon cher Luc, du kannst dich entspannen. Ich wusste von Anfang an, dass es nicht deine Sache wäre. Deshalb hatte ich dich nicht auf der Liste. Ich wollte etwas Besonderes schaffen: die erste Frau Frankreichs auf diesem Posten. Eine Frau, die führen und dennoch ermitteln kann. Vielleicht macht es auch das Familienleben etwas leichter, wenn ihr nicht beide täglich auf der Straße seid.« Anouk sah Preud’homme völlig überrascht an. »Und deshalb, liebe Madame Filipetti, frage ich Sie, ob Sie der Republik Frankreich als Leiterin der Police nationale von Bordeaux dienen wollen. Und bevor Sie auf dumme Ideen kommen: Das ist kein Angebot, das Sie ausschlagen können.«

Anouk ging auf Preud’homme zu und ließ sich von ihm in die Arme nehmen, der alte Mann hielt sie fest umklammert. Noch immer schüttelte sie den Kopf, weil sie so von ihren Gefühlen übermannt wurde. Erst nach einer Minute löste sie sich wieder von ihm.

»Der Republik Frankreich würde ich es ausschlagen, Commissaire général«, sprach sie Preud’homme mit seinem alten Titel an, »aber Ihnen sicher nicht. Ich … Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.«

»Sie haben es mehr als verdient. Und sollte der Commissaire«, er sah zu Luc, »einmal nicht spuren, dann rufen Sie mich gerne an. Ich weiß immer, wie ich ihn rumbekomme.«

»Ich werde daran denken«, sagte Anouk lachend. Dann fiel sie Luc in die Arme.

»Glückwunsch, chérie «, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du hast das so was von verdient.«

»Das ist ein Traum, ein echter Traum«, flüsterte sie ihm zu.

»Nun ist aber Schluss mit der ganzen Rührung. Auf geht’s. Die Muscheln sind fertig. Nach all der Sterneküche muss es nun ja mal wieder etwas Einfaches geben – aber wenigstens warm sollten wir sie essen.«

Madame Preud’homme brachte auf einem Tablett fünf tiefe Teller und einen riesigen schwarzen Topf. Als sie den Deckel abhob, drang der Duft von Zwiebeln, Weißwein und jeder Menge Knoblauch heraus, die orange schimmernden Muscheln sahen so frisch und lecker aus, dass Luc das Wasser im Mund zusammenlief. »Wow, wie gut das duftet.«

»Tja, keine drei Sterne, aber manchmal ist das Einfachste doch das Beste«, sagte Preud’homme strahlend.

Luc tat sich einen großen Teller auf und wandte sich Hugo zu. »So, den ersten Happen kriegt der beste Babysitter der Welt, Hugo, ohne dich wäre das alles unmöglich gewesen. Na komm, Aurélie, lass Hugo essen.«

Er streckte seiner Tochter die Arme entgegen. Doch anstatt zu ihm zu kommen, brach die Kleine in ein schreckliches Gebrüll aus. Luc drehte sich hilfesuchend um, da mussten Anouk und all die anderen um ihn herum lachen, bis Aurélie und sogar der Commissaire einstimmten.

»Tja, scheint so, als müsste sich Baby Verlain erst mal wieder an seine Eltern gewöhnen«, bemerkte Hugo trocken, während die Kirchturmglocke von Saint-Girons zur Mittagsstunde schlug.

FIN