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Der Tote saß in sich zusammengesunken auf der Pritsche.

»Oh«, murmelte Hilla betroffen. Sievers nickte. Offensichtlich hatte er ihn erkannt. Genau wie Hilla.

Auch ohne sein Gesicht zu sehen, wusste sie nur zu gut, um wen es sich handelte. Er trug immer noch die blaue Chino und an den nackten Füßen die braunen Lederslipper, in die er geschlüpft war, bevor sie ihn abgeführt hatten. Sie schob die Erinnerung an den gestrigen Abend weit von sich.

»Stop!«, hielt sie Holger zurück, als er in die Zelle gehen wollte, und zückte ihr Telefon, um Fotos zu knipsen. Das Handy zwischen ihr und der Leiche verschaffte ihr eine Art von emotionaler Distanz.

»Ich habe auch schon ein paar Bilder gemacht, wie es Vorschrift ist«, sagte Sievers. »Die schicke ich euch gleich nachher zu.« Er hielt Hilla sein Telefon unter die Nase.

Beinah nüchtern betrachtete sie das Bild auf dem Display und konzentrierte sich wieder auf die Details an der Leiche im Raum. Die Vorderseite des weißen Hemdes mit den zarten hellblauen Streifen war mit Blut bedeckt. Eine ganz Menge davon war auch auf die Gummimatratze getropft, aber auf dem Fußboden befand sich keines. Also auch keine Schuhabdrücke, dachte sie. Denn trotz der schockierenden Situation war sie einfach nur froh, dass es sich bei dem Toten nicht um David handelte. Als sie durchatmete, stieg ihr der metallische Blutgeruch in die Nase. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sie sonst nur vom Schießstand kannte.

Ihr fiel auf, dass Holger sie von der Seite beobachtete, also schoss sie schnell ein paar weitere Fotos. Doch ihre Hand zitterte so stark, dass Hilla bezweifelte, dass die Bilder zu gebrauchen waren.

Sie beendete ihre fotografischen Bemühungen und Holger reichte ihr ein paar Handschuhe, die sie dankbar überstreifte. Bjarne kehrte mit Überziehern für die Schuhe zurück. Er wartete geduldig ab, bis seine beiden Kollegen sie angezogen hatten. Als Hilla sich in Bewegung setzen wollte, winkte Bjarne ab.

»Lass mal. Du bist ein bisschen grün um die Nase. Wir übernehmen das.«

Gemeinsam mit Holger und Doktor Sievers machte er sich daran, die Leiche aufzurichten. Verstohlen drehte Hilla sich derweil um und spähte den Gang entlang bis zum Dienstzimmer. Wo in aller Welt ist David?

»Oh«, murmelte nun auch Holger, pfiff leise durch die Zähne und musterte Hilla aufmerksam.

»Wer ist das?«, erkundigte sich Bjarne irritiert und sah von ihr zu Holger und wieder zurück.

Seine Frage war eindeutig an sie gerichtet, doch Hillas Zunge war wie am Gaumen festgeklebt. Sie kannte dieses Gesicht genau. Und bis gestern hatte sie gedacht, dass sie es mochte. Sehr mochte. Es hatte keinen Zweck, drum herumzureden. Wenigstens sich selbst gegenüber konnte sie ehrlich sein. Der Mann, in den sie verliebt gewesen war, saß tot in der Arrestzelle ihres Reviers. Ein Einschussloch prangte in seiner Brust.

»Das ist doch der Doktor«, meinte Holger, weil sie schwieg. »Wie hieß er noch gleich?«

Hilla taumelte und hatte Mühe, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie erinnerte sich, dass sie dem Kerl gestern durchaus schlimmere Dinge gewünscht hatte als den Tod. Aber das hier, das kam einer Hinrichtung gleich.

»Matthias Langner«, sagte sie tonlos. »Wir haben ihn gestern festgenommen.«

»Kann mich mal jemand ins Bild setzen?«, fragte Bjarne. »Als ich vor zwei Wochen zur Fortbildung aufgebrochen bin, war Föhr eine beschauliche Urlaubsinsel. Diese Zelle war von dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr an dreihundertdreiundsechzig leer. Und an den restlichen zwei Tagen hatten wir maximal ein paar Schnapsleichen vom Hafenfest hier. Aber nun … Ein echter Toter?«

Hilla setzte gerade an zu erzählen, was am Vortag geschehen war, doch sie kam nicht dazu.

»Was ist passiert?«, donnerte die Stimme ihres Flensburger Kollegen, Mats Lehmann, durch die kleine Zelle und Hilla wirbelte herum. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er Hilla abschätzig.

»Frau Petersen. Ich habe Sie was gefragt.« Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet und auch die zusammengekniffenen Lippen drückten sein Befremden aus.

»Ja, also. Ich ... «, stammelte sie, schüttelte den Kopf, in dem sich die Gedanken überschlugen, und begann noch mal von vorn, diesmal ganz ruhig und sachlich. »Der Verdächtige wurde erschossen. Hier in der Arrestzelle. Aus nächster Nähe vermutlich. Unsere Putzfrau Frau Diercks hat ihn gefunden. Sie kam um sechs, hat erst mal die übliche Putzrunde gemacht. Sie sagt, die Tür sei nicht abgeschlossen gewesen. Erst später sei sie auf den Toten gestoßen und habe dann bei der Leitstelle angerufen.«

»Welche Tür?«, schnauzte Lehmann.

»Sowohl die zum Revier als auch die zur Arrestzelle«, antwortete Hilla.

Mats Lehmann schob sich ein wenig näher heran, wich dann aber zurück, als Bjarne einen warnenden Blick auf dessen unbedeckte Schuhe warf.

»Der Kollege Kern sollte den Gefangenen doch bewachen. Was sagten Sie? Wo ist er?«

»Ich habe noch gar nichts gesagt«, antwortete Hilla pikiert.

David hatte ihr von seiner Abneigung gegen Mats Lehmann erzählt und es wohl nicht ohne Grund zweimal sehr lange hinausgeschoben, bis er die Mordkommission in Flensburg informiert hatte.

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, wo er ist. Hier war er seit mindestens 6 Uhr nicht mehr und auf dem Handy habe ich ihn auch nicht erreicht. Möglich, dass er den Täter verfolgt. Mit dem Dienstwagen.« Sie streckte eine Hand aus und stützte sich an der Wand ab. »Vielleicht hat derjenige, der Langner umgebracht hat, ja auch David etwas angetan?«

Mats schüttelte den Kopf, als hätte Hilla etwas total Absurdes gesagt. Er winkte Bjarne und Holger zu sich.

»Hat jemand wenigstens dran gedacht, mal das Amtszimmer nach Kampfspuren zu untersuchen?«

Synchron schauten beide zu Boden. Als sie den Kopf hoben, bemerkte Hilla ihre betretenen Blicke.

»Nein, noch nicht, Herr …« Bjarne holte tief Luft.

Mats guckte zunächst verwirrt, sagte dann jedoch: »Mats Lehmann. Kriminaloberkommissar. Mordkommission Flensburg.«

Bjarne nickte eifrig, und Hilla hätte sich nicht gewundert, wenn er auch noch salutiert hätte.

»Dann waren Sie aber schnell.«

Lehmann glotzte Bjarne an, als versuchte er zu verstehen, ob der andere sich gerade auf seine Kosten lustig machte, merkte dann aber wohl am unterwürfigen Gesichtsausdruck, dass dies ernst gemeint gewesen war.

»Ich war bereits hier. Auf Föhr. Wegen eines anderen Falls, wegen dem der Tote ja auch in der Zelle einsaß. Er sollte heute eigentlich aufs Festland überführt und der Gerichtsbarkeit vorgestellt werden. Daraus wird ja nun nichts mehr.«

Bjarne und Holger wollten die Überzieher von den Schuhen streifen, um nach vorn zu gehen, doch Mats hielt sie zurück.

»Halt!«, bellte er. »Dies ist ein Tatort, also sehen Sie zu, dass Sie hier keine Spuren zerstören.«

Hilla sparte sich den Kommentar, dass das bereits die Putzfrau erledigt hatte.

»Wir müssen einen Trampelpfad anlegen«, entschied Lehmann und wies Holger und Bjarne an, gefälligst nur noch die linke Seite des Flurs zu benutzen und sich nah an der Wand zu halten.

Während die beiden im Gänsemarsch seiner Aufforderung nachkamen, blieb Hilla noch einen Moment stehen und dachte an David. An das, was hier wohl passiert sein mochte. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen.

Mats stand im Amtszimmer wie ein Herrscher. Breitbeinig, die Hände in die Seiten gestemmt.

»Falls sich jemand fragt, warum es hier so stinkt …«, meinte er und riss das Fenster auf. »Das war ich selbst. Hab geraucht und in …« Er schaute sich um. Sein Blick blieb an einer Tasse mit Snoopy-Aufdruck in der Kaffeeecke hängen. Er griff danach und schaute sie verwundert an. »Hier hab ich reingeascht.« Suchend sah er sich um. »Wo ist eigentlich mein Feuerzeug? Das habe ich gestern hier liegen gelassen.«

Bjarnes Züge verdunkelten sich. »Das ist meine Tasse.« Er riss sie Mats aus der Hand und schnupperte daran. Sein Gesicht entspannte sich wieder. »Frisch gespült. Muss Frau Diercks gewesen sein.« Er wandte sich an Mats. »Mir ist schon klar, dass Sie vom Festland sind. Und von der Mordkommission. Aber Sie wissen mit Sicherheit ganz genau, dass Rauchen in öffentlichen Gebäuden verboten ist. Und noch strenger ist es auf diesem Revier verboten, meine Tasse zu benutzen.« Bei diesen Worten umfing er sie wie ein Kind sein Stofftier, um sie dann sehr vorsichtig wieder ins Regal zurückzustellen.

»Wenn ihr keine anderen Sorgen habt … Aber wo ist mein verdammtes Feuerzeug?«

Hilla zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat es Frau Diercks weggeräumt. Die Putzfrau«, erklärte sie, als Lehmann sie verwundert anschaute. »Ich werde sie danach fragen, wenn ich sie vernehme. Wie sah es denn aus?«

»Wie ein Feuerzeug eben aussieht«, gab der Flensburger Kollege barsch zurück. »Gelbes Plastik und ein Werbeaufdruck von meinem Klempner. In Blau.«

Während sich Hilla noch wunderte, warum Lehmann wegen eines Billigfeuerzeugs so ein Aufheben veranstaltete, schob der mit der Schuhspitze den Papierkorb unter Davids Schreibtisch hervor.

»Was haben wir denn da? Der gute Kern hält sich vielleicht an alle möglichen Regeln hier. Dafür bricht er andere, dass es nur so kracht.«