Holger schaute auf die Uhr und warf Hilla einen verzweifelten Blick zu. Als Antwort auf die unausgesprochene Frage, was sie nun tun sollten, zuckte sie hilflos mit den Schultern. Die halbe Stunde war um und David immer noch nicht aufgetaucht.
Wo blieb er nur? Länger konnten sie Lehmann nun nicht hinhalten.
Wenn er gerade keine Anweisungen an irgendwelche Kollegen vom Festland in sein Telefon bellte, strich Lehmann wie ein Tiger im Käfig vor der Eingangstür zum Revier herum und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Immer mal wieder steckte er seinen Kopf zur Tür herein, wie gerade jetzt.
Holger räusperte sich unbehaglich, aber Lehmann bekam es nicht mit.
»Ich …«, begann Holger zaghaft und hob die Stimme. »Ich hab den Dienstwagen geortet«, sagte er dann lauter.
Lehmann trat seine Zigarette aus und kam herein. »Was? Wo?« Mit zwei Schritten war er bei Holger am Schreibtisch und spähte über dessen Schulter zum Monitor. Auf der Karte von Föhr blinkte im Westen der Insel ein kleiner roter Punkt.
»Auf dem Strandparkplatz in Utersum«, antwortete Holger.
Hilla sah ihn fragend an, was er wiederum mit einem kaum merklichen Achselzucken quittierte. Statt zum Revier zu kommen, war David anscheinend geblieben, wo er war. Warum machte er so was Dummes? Sie hatte ihm doch gesagt, dass sie ihn geortet hatten.
Lehmann musterte erst Holger, dann Bjarne und schließlich Hilla. Er runzelte die Stirn, als würde er angestrengt über etwas nachdenken. »Sie gehen zum Fährableger und unterstützen meinen Kollegen«, sagte er zu Bjarne. »Und Sie kommen mit mir nach Utersum«, fügte er an Hilla gewandt hinzu.
Anscheinend wollte er sie im Auge behalten.
Also blieb ihr nichts anderes übrig als mit ihm zu fahren und zu hoffen, dass sie David dort antrafen.
Doch ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt. Als sie eine Viertelstunde später auf dem Strandparkplatz eintrafen, fanden sie dort nur den verlassenen Streifenwagen vor. Von David keine Spur.
Der linke Kotflügel des Passats war beschädigt, und Lehmann hatte es ebenfalls bemerkt, wie sein säuerlicher Blick verriet.
»Haben Sie einen Schlüssel?«, fragte Lehmann ungeduldig.
»Natürlich«, versicherte Hilla und beeilte sich, den Knopf zu drücken, der die Türen entriegelte.
»Halt, nichts anfassen!«, verlangte Lehmann, als sie die Tür auf der Fahrerseite berühren wollte. Er zog sich Einweghandschuhe über und hielt ihr auch ein Paar hin.
»Meine Fingerabdrücke sind sowieso überall im Innenraum«, sagte sie. »Wir sind ein Team und teilen uns den Wagen, den anderen benutzen in der Regel Holger und Bjarne. Also ich meine natürlich, die Kollegen Groote und Lürssen«, setzte sie zur Erklärung hinzu, aber Lehmann winkte ab.
»Ziehen Sie einfach welche an«, sagte er mit Blick auf die Handschuhe. »Bevor Sie noch irgendwelche frischen Spuren zerstören.«
Hilla kam der Aufforderung nach und sah dabei zu, wie Lehmann das Innere des Streifenwagens durchwühlte. Er öffnete das Handschuhfach und schloss es enttäuscht wieder.
»Leider leer«, meinte er und sah sich weiter um.
Hilla war draußen geblieben, stand neben der offenen Tür und ließ ihren Blick über die Umgebung schweifen. Der Kioskbesitzer lud Kartons aus seinem dunkelgrauen SUV, ein paar Spaziergänger waren mit ihren Hunden unterwegs, aber von David fehlte jede Spur.
»Ist das Blut?«, erkundigte sich Lehmann und betrachtete den Sicherheitsgurt.
Sie beugte sich in das Auto. »Wäre möglich«, stimmte sie ihm unbehaglich zu.
»Die KTU muss das untersuchen«, entschied Lehmann. »Die sind ja bereits auf dem Weg.«
Er stieg aus und sah sich suchend auf dem Parkplatz um. Beinahe als erwartete er, dass David gleich hinter einem Busch hervorspränge und sagen würde, sie seien reingefallen, das sei doch alles nur ein Scherz. Zumindest fühlte es sich für Hilla an wie ein schlechter Witz oder ein Albtraum. Genau, ein Albtraum. Zumindest hoffte Hilla, dass ihr gleich jemand auf die Schulter tippte, weil sie eingeschlafen war und blödes Zeug geträumt hatte. Doch auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
»Wohin könnte Kern von hier aus gegangen sein?«, fragte Lehmann.
»Keine Ahnung. Er ist ja erst seit Kurzem auf der Insel und kennt sich noch nicht gut aus.«
»Gibt es hier in der Nähe irgendeinen Ort, an dem er untertauchen und sich verstecken kann?«
»Nicht dass ich wüsste«, gab Hilla wahrheitsgemäß zurück. »Im Prinzip könnte er überall sein«, sagte sie mit einer weitläufigen Handbewegung, die den gesamten Parkplatz und den Strand einschloss.
Lehmanns Blick folgte ihrer ausgestreckten Hand. »Sie meinen also, er könnte am Strand unterwegs sein?«
»Das halte ich nicht für ausgeschlossen«, gab Hilla vage zurück.
Lehmann nahm sein Handy und wählte eine Nummer. »Ich brauche Verstärkung«, teilte er der Person am anderen Ende der Leitung mit. »Ja, wie es aussieht, ist der Verdächtige flüchtig. Mhm, vermutlich am Strand«, ergänzte er nach einem kurzen Moment der Stille. »Aber im Prinzip kann er sich überall auf Föhr aufhalten. Ich brauche Leute, die die ganze Insel durchsuchen. Ich will, dass hier kein Sandkorn auf dem anderen bleibt«, fügte er mit einem grimmigen Lächeln hinzu.
Während er den Kollegen vom Festland weitere Anweisungen erteilte, zog sich Hilla ein paar Schritte zurück und nahm ihr eigenes Handy.
Verstohlen blickte sie sich um, um sicherzugehen, dass Lehmann sie nicht beobachtete, dann wählte sie die Nummer aus der Liste der zuletzt getätigten Anrufe und rief ihren Vater an.
Es klingelte und klingelte und Hilla wollte schon auflegen, aber nach einer gefühlten Ewigkeit ging Vaddern endlich ran.
»Ist David bei dir?«
»Wieso sollte er?«, entgegnete Vaddern verständnislos.
»Mist!« Hilla seufzte und fasste in wenigen Worten zusammen, was passiert war. »David ist anscheinend untergetaucht. Deshalb dachte ich, vielleicht ist er bei dir auf dem Hof.«
»Nee, ist er nicht«, sagte Vaddern. »Aber ich kann mich mal umschauen.«
»Tu das«, sagte sie. »Und wenn du ihn siehst, sag ihm, dass er aufs Revier kommen soll. Es wird sonst alles nur viel schlimmer«, fügte sie betrübt hinzu.
»Nun mach dir mal keine Sorgen, min Deern«, sagte Vaddern aufmunternd. »Bestimmt ist das nur viel Wind um nichts.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Hilla und verabschiedete sich von ihm.
Als sie sich umdrehte, betrachtete Lehmann sie mit einem forschenden Blick. »Mit wem haben Sie telefoniert?«
»Nur ganz kurz mit meinem Vater, um zu hören, ob bei uns auf dem Hof alles okay ist.«
»Und?«, fragte er lauernd. »Ist auf dem Hof alles okay? Oder gab es etwas Ungewöhnliches?«
»Nein, alles in bester Ordnung. Mein Vater ist krank und kommt nicht mehr so gut allein mit den Schafen zurecht. Gicht«, sagte sie zur Erklärung, aber Lehmann brachte sie mit einer knappen Geste zum Schweigen.
»Für Ihre Privatangelegenheiten haben wir keine Zeit. Deshalb wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich darauf konzentrieren würden, Ihren flüchtigen Chef aufzuspüren.«
»Selbstverständlich«, murmelte Hilla und kam sich vor wie ein gescholtenes Kind.