Nachdem David den Streifenwagen auf dem Strandparkplatz zurückgelassen hatte, machte er sich entlang des Deichs zu Fuß auf den Weg nach Dunsum. Er hielt sich auf der Wasserseite, wodurch ihm der Deich zumindest Sichtschutz bot. Trotzdem fühlte er sich wie auf dem Präsentierteller.
Außerdem war er anhand der Dienstkleidung eindeutig als Polizist zu erkennen. Im Gehen zog er die Fleecejacke aus und drehte sie auf links, bevor er sie mit dem Aufdruck nach innen wieder überzog. Er hatte nicht viel Zeit, daher verfiel er in einen leichten Trab und hielt den Kopf gesenkt, in der Hoffnung, als Jogger durchzugehen.
Eine Dreiviertelstunde später erreichte er den Treffpunkt, an dem die Wattwanderungen starteten. Das Café Wattlooper hatte noch geschlossen, doch auf dem dazugehörigen Parkplatz sammelte sich bereits eine größere Menge Touristen. Das waren locker achtzig Personen, mit einem solchen Ansturm hatte David nicht gerechnet, aber gut. Bei der Größe der Gruppe fiel er umso weniger auf.
Die Leute auf dem Parkplatz scharten sich um einen Mann, der unter der geöffneten Kofferraumtür auf der Ladefläche eines weißen Kombi saß. Er hob seine Stimme.
»Moin! Ich bin Sven, euer Wattführer für den heutigen Tag. Ich laufe mit den Amrumer Gästen. Die Föhrer gehen mit Michael, da kommt gleich ein Wohnmobil«, fügte er hinzu, zückte sein Portemonnaie und begann das Geld einzusammeln, während sich die Touristen, die bereits gezahlt hatten, wieder zerstreuten.
Mehrere Frauen steuerten noch mal das Toilettenhäuschen an und David tat es ihnen gleich. Auf dem Herrenklo war außer ihm zum Glück keiner, also wusch er sich das Blut von den Armen und starrte dem hellroten Strudel hinterher, der im Abfluss verschwand. Was für ein Morgen. Erschöpft fuhr er sich mit den feuchten Fingern durchs Haar, betrachtete im Spiegel sein Gesicht und suchte in seinen Augen nach einer Antwort auf die Frage, in was er da bloß hineingeraten war. Doch sein Hirn war wie leergefegt, und der Umstand, dass Mats ihn verdächtigte, machte ihm zu schaffen. Sie waren sich noch nie grün gewesen, und als es um den Posten als Leiter der Mordkommission ging, war eine offene Fehde entbrannt. Mats hätte keine Chance gehabt, die Stelle zu bekommen, wenn die Affäre mit Charlotte nicht ans Licht gekommen wäre, wegen der sich David schließlich nach Föhr hatte versetzen lassen.
Also war Mats als strahlender Sieger aus dem Rennen gegangen. Doch er hatte sich gestern bei der Verhaftung von Langner nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Und David hatte nichts Besseres zu tun gehabt als ihn damit aufzuziehen und ihm unter die Nase zu reiben, dass er sich den Job zurückholen werde, sobald sich die Gelegenheit bot. Zumindest daran erinnerte er sich noch dunkel.
Kein Wunder, dass Mats so angefressen war. Das hier war etwas Persönliches zwischen ihnen beiden, erkannte David betroffen, und Mats würde jede Gelegenheit nutzen, es ihm heimzuzahlen.
Die Angst streckte ihre eiskalten Finger nach David aus, fraß sich durch seine Eingeweide, kroch in ihm hoch und lähmte seine Gedanken. Er brauchte Zeit, um sie zu sortieren, dann erst konnte er entscheiden, ob er sich einer Untersuchung stellen würde oder nicht.
Bis das besagte Wohnmobil eintraf, drückte er sich in der Nähe der Toiletten herum und tat, als interessierte er sich für die Flyer, die an eine Holzwand gepinnt waren. Ungeduldig sah er dabei zu, wie sich die Touristen in zwei Gruppen aufteilten.
»Wir laufen erst mal ein Stück entlang des Deichs und ab da barfuß«, verkündete der andere Wattführer, ein Typ mittleren Alters in Surfshorts und einem löchrigen blauen T-Shirt.
Das musste dann wohl Michael sein, der mit den Föhrer Gästen durchs Watt ging. David überlegte, welcher Gruppe er sich anschließen sollte, und entschied, die zu wählen, die als zweite startete.
Die Amrumer setzten sich in Bewegung.
»Mir nach!«, rief Michael ein paar Minuten später, drehte sich um und schritt zügig voran, die Gruppe trippelte im Gänsemarsch hinterher.
David sah den Amrumern nach, wie sie durch knietiefes Wasser wateten. Eine Wattwanderung hatte er sich anders vorgestellt. Trockener irgendwie.
Am Treppeneinstieg zum Watt staute es sich, weil die Wanderer schnatternd und kichernd ihre Schuhe auszogen und in den mitgebrachten Rucksäcken verstauten.
Absichtlich langsam beugte David sich runter, schnürte umständlich seine Uniformschuhe auf und band die Schnürsenkel zusammen, um sie sich daran um den Hals zu hängen. Gemächlich krempelte er seine Hosenbeine hoch; er trödelte herum, um wieder ein wenig Abstand zwischen sich und die Gruppe zu bringen, bevor er ihnen nachging.
Als er am Fuß der Treppe ankam, zögerte David einen Moment.
Was tat er hier überhaupt?
Einen konkreten Plan, wie es weitergehen sollte, hatte er nicht. Hauptsache erst mal runter von der Insel, weg von Föhr. Und dann? Keine Ahnung. Vielleicht gelang es ihm, auf Amrum ein Versteck zu finden. Irgendeinen Ort, an dem er sicher war.
David wusste, wenn er sich jetzt auf den Weg machte, kam er aus der Nummer nicht mehr raus. Aus Sicht der Kollegen war das vermutlich ein Schuldeingeständnis, denn es gab keine vernünftige Erklärung für sein Verhalten.
Was er vorhatte, war komplett irrational, dessen war er sich absolut bewusst.
Doch was war schon logisch und sinnvoll, wenn man eines Morgens aufwachte und plötzlich des Mordes bezichtigt wurde? Die Anschuldigung widersprach seinem Selbstverständnis und generell allem, woran er in seiner Zeit als Polizist stets geglaubt hatte. Er war immer der Überzeugung gewesen, für Recht und Ordnung einzustehen, und nun sollte er auf einmal selbst ein Täter sein? Nein, das konnte er einfach nicht glauben. Vielleicht war es wirklich so gewesen, wie Hilla dachte. Vielleicht hatte er den Täter verfolgt. Wie dann aber das Blut auf sein Shirt und seine Arme gekommen war – dafür hatte er keine Erklärung. Genau das war ja das Problem: Er konnte sich nicht erinnern.
David stöhnte. Es half alles nichts. Er musste herausfinden, was wirklich passiert war. Er brauchte Zeit, bis sein Gedächtnis wieder funktionierte. Er nahm einen tiefen Atemzug, straffte die Schultern und setzte einen ersten Schritt ins Watt.
Ab sofort bin ich dann wohl offiziell auf der Flucht, dachte er und schob die Hosenbeine noch ein Stück höher, während er vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte, die Gruppe, die vor ihm lief, immer im Blick.
»Wo willst du denn hin?«, fragte wenige Minuten später eine nur allzu vertraute Stimme hinter ihm und David zuckte ertappt zusammen.
Eine Hand senkte sich auf seine Schulter, hielt ihn zurück, hinderte ihn am Gehen und erstickte jeden seiner vagen Fluchtpläne im Keim.
»Wusste ich doch, dass ich dich hier finde!«
Das war’s dann wohl, dachte David. Er war geliefert.