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Sie waren mehr als drei Stunden unterwegs gewesen, als Hilla angerufen hatte. Harry hatte zwar darauf gedrängt weiterzugehen, weil nach seiner Auffassung schlechtes Wetter im Anmarsch war, aber David musste unbedingt wissen, was Hilla erzählt hatte. Also rasteten sie erneut.

David breitete nun unaufgefordert den Friesennerz auf dem feuchten Sand aus, damit Harry sich darauf niederlassen konnte.

Der Alte quittierte die Geste mit einem Nicken, ließ erst den Rucksack fallen und sank dann selbst zu Boden. Er stöhnte und ächzte, bis er offenbar eine Position gefunden hatte, in der er schmerzfrei sitzen konnte.

Ein schlechtes Gewissen flammte in David auf. »Du hast dir zu viel zugemutet. Mir tut ja schon alles weh. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie du dich fühlst.«

Harry zeigte zum Rucksack. »Da ist eine Flasche Wasser drin. Und zwei Fischbrötchen hab ich uns auch mitgebracht. Als Wegzehrung. Ich hoffe, du magst Fischbrötchen?« Ungeduldig zerrte er an der Schnalle, konnte das Fach aber nicht öffnen.

David setzte sich neben ihn, zog den Rucksack zu sich und holte die Trinkflasche heraus. Er hielt sie Harry hin, der einen großen Schluck nahm.

»Ich esse alles. Oder zumindest fast alles.« Er tastete im Innenfach und fand eine Papiertüte, die mittlerweile vom Fett der Brötchen ganz dunkel geworden war. Sein Magen knurrte, aber David zögerte.

»Was hat sie denn nun gesagt?«

»Nicht viel mehr, als wir schon wussten. Sie haben den Passat mittlerweile gefunden. Allerdings …« David nickte ihm ungeduldig zu. »Da war wohl Blut auf dem Gurt. Und sie untersuchen jetzt, ob es von Langner stammt.«

»Mist«, sagte David entsetzt. »Also war es nicht nur an mir selbst, sondern auch am Gurt.«

Harry zuckte mit den Schultern. »Die werden das ganze Auto auseinandernehmen. Hast du denn wirklich keine Ahnung, was …«

»Nein! Das habe ich doch gesagt«, unterbrach David ihn. »Ich kann mich an absolut gar nichts erinnern. Warum glaubst du mir nicht?«

»Jetzt mal nicht so dünnhäutig, Junge. Ich glaube dir ja. Wäre aber besser gewesen, du hättest dich auf die Schmauchspuren untersuchen lassen.«

»Mittlerweile weiß ich das selbst.« David seufzte.

»Jetzt lass den Kopf nicht hängen. Vielleicht hab ich da eine Idee«, gab Harry zurück. »Wenn wir drüben sind auf Amrum, müssen wir anfangen, uns ein paar Theorien zurechtzulegen. Was passiert sein könnte. Was deine Rolle bei der ganzen Sache ist. Irgendwer hat diesen Langner ja umgebracht. Und du hättest eigentlich dort sein sollen, um auf ihn aufzupassen.«

David kaute auf seiner Unterlippe und nickte. »Das weiß ich selbst, aber du hast ja recht. Lass uns schnell was essen und dann gehen wir weiter.«

Harry warf einen prüfenden Blick auf den Himmel, runzelte die Stirn und wischte sie sich einen Augenblick später mit dem Handrücken ab.

»Wir müssen uns beeilen«, meinte er. »Sieht nach Regen aus. Der Wetterbericht hat zwar keinen vorhergesagt, aber hier oben an der See schlägt das Wetter schnell mal um.«

David nickte und fühlte ebenfalls, wie erste feine Tropfen auf sein Gesicht trafen. Der trübe Himmel, auf dem sich die Wolken mehr und mehr zu einer dichten grauen Wand zusammenzogen, passte definitiv zu seiner Stimmung; so viel stand auf jeden Fall fest.

Sie schlangen die Brötchen förmlich herunter, spülten mit Wasser aus der Metallflasche nach und stapften dann weiter durch das Watt, das immer feuchter wurde, bis sie zu einer Stelle kamen, an der Harry kurz stehenblieb.

Er wies mit dem Finger nach vorn. »Da hinten ist er, der Priel. Siehst du die grüne Tonne? Dort ist die schmalste und ungefährlichste Stelle. Da werden wir ihn queren.«

David kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts erkennen. Der Regen war nun dichter geworden und sämtliche größeren und kleineren Sandbänke vor ihnen glichen grauen Schatten, die von ebenso grauem Wasser umspült wurden.

Harrys Schritte wurden immer größer und David hatte mitunter Mühe, dem sehr viel älteren Mann zu folgen. Er beneidete ihn um seine Kondition oder wenigstens um den unbedingten Willen, durchhalten zu müssen.

Beim Laufen ging ihm immer wieder durch den Kopf, wie sauer Hilla gewesen zu sein schien. Er hatte zwar nur das gehört, was Harry gesagt hatte, aber es war eindeutig gewesen, dass sie ihrem Vater Vorwürfe gemacht hatte.

»Warum hast du ihr nicht erzählt, dass wir bereits im Watt unterwegs sind?«, schrie er gegen den Wind nach vorn. Die Regentropfen liefen ihm mittlerweile in den Kragen der Regenjacke und den Rücken hinunter.

»Hilla?« Harry drehte sich zu ihm um. David nickte und wich einer Pfahlmuschel aus, die es auf seinen Fuß abgesehen hatte. »Besser sie weiß nicht alles.«

Nun sog David die salzige Luft scharf ein. »Vertraust du ihr nicht? Sie ist deine Tochter.«

Im selben Moment, als diese Worte seinen Mund verließen und sich über dem Wasser auflösten, wusste David, dass das nicht der Kern des Problems war. Hilla würde mit Sicherheit nie etwas unternehmen, das ihrem Vater schadete. Dass das jedoch auch für ihn selbst galt, daran hatte er Zweifel.

»Eben«, brüllte Harry. »Sie ist meine Tochter und deshalb vertraue ich ihr auch.«

»Aber warum verschweigst du es ihr dann?«

Harry stoppte und wies auf eine etwa fünfzig Meter breite Wasserfläche vor sich. »Wir sind da. Der Priel.«

Nun fiel David auch die grüne Tonne auf, die auf der kabbeligen Wasseroberfläche schaukelte. Er öffnete seine Hose und hatte Mühe, das nasse Ding über seine Schenkel nach unten zu schieben. Der Wind hatte an Kraft zugenommen und es war kühl geworden. Sobald er in Shorts neben Harry stand, spürte er eine Gänsehaut.

»Und du?« Er wies auf Harrys zerschlissene Cargohose, bei der die Nässe bereits bis zu den Knien hochgestiegen war.

Harry winkte ab. »Trocknet wieder, würde ich bei besserem Wetter sagen. Aber heute …« Er schwieg einen Moment und beobachtete die Gruppe Wattwanderer, die den Priel schon vor einiger Zeit überquert haben musste und nun am Amrumer Strand durch den Sand watete. »Ich hab noch was Trockenes im Rucksack. Ziehe ich dann an, wenn wir drüben sind. Pass einfach auf, wo du hintrittst.«

»Augen auf beim Wattenlauf.« David grinste schief. »Warum hast du Hilla verschwiegen, wo wir sind?« Er hatte keine Ahnung, weshalb ihm Harrys Antwort auf diese Frage so wichtig war. Aber sie schien eine Bedeutung zu haben. Eine große.

»Sie würde sich nur unnötig Sorgen machen«, wehrte Harry ab. »So ist sie eben. Bemuttert mich ständig, als wäre ich ein kleines Kind. Und außerdem …«

»Ja?«, hakte David nach.

»Außerdem haben wir es doch im Griff. Oder etwa nicht?«

Ganz so hätte David die Situation sicher nicht zusammengefasst. Auf der anderen Seite hätte er ohne Harry, der sich seinetwegen in Gefahr brachte und diese mehr als mühsame Wanderung auf sich nahm, wesentlich schlechter dagestanden.

»Klar haben wir das«, sagte er daher energischer, als er sich fühlte. »Aber mich interessiert trotzdem noch, warum du mir hilfst.«

Energisch stampfte Harry mit dem nackten Fuß auf den Sand. »Das frage ich mich gerade auch. Willst du deine Zeit lieber mit Quatschen verbringen oder mitkommen, um irgendwo ein Plätzchen zu finden, an dem du untertauchen kannst?« Dann lief er ohne ein weiteres Wort los.

David folgte ihm durch das Wasser, das ihm bis zu den Oberschenkeln ging. Er hatte Harrys Rucksack geschultert und seine Uniformschuhe daran festgebunden. Die Jacke hielt seinen Oberkörper weitgehend trocken, seine Beine jedoch wurden von dem kalten Wasser schnell fast gefühllos. Harry pflügte vor ihm durch die Fluten, während David ein ums andere Mal ins Taumeln kam, weil er in eine Untiefe getreten war.

Nach etwa zehn Minuten hatten sie dann allerdings das Amrumer Ufer erreicht und David fühlte sich, als hätte er eine schwere Schlacht geschlagen. Erschöpft ließ er seinen Oberkörper sinken und pumpte Luft in seine Lunge.

»Du hast gefragt, warum ich wusste, dass du ins Watt willst.«

David hob den Kopf und schaute in Harrys ernstes Gesicht. »Weil ich dich an dich selbst erinnere, hast du gesagt.«

Nun nickte der Mann bedächtig. »Und genau aus diesem Grund helfe ich dir auch. Außerdem kann ich mir absolut nicht vorstellen, dass du fähig bist, jemanden umzubringen. Ich vertraue meiner Menschenkenntnis. Das habe ich mein Leben lang getan. Und deshalb vertraue ich auch dir.«