17

Endlich waren sie an der Amrumer Nordspitze angelangt. Harry hatte sich umgezogen und die nassen Sachen in seinen Rucksack gestopft, der wieder über Davids Schultern hing. Von der Wandergruppe war nichts mehr zu sehen, obwohl sich trotz des Wetters, das sich mit jeder Minute weiter verschlechterte, noch eine ganze Menge Touristen hier herumtrieben. Vereinzelt kamen oder gingen Personen oder kleine Gruppen ins Watt und David konnte nicht anders als sich immer wieder vorzustellen, wie gefährlich dieses Unterfangen ohne einen erfahrenen Führer war. Er musste sich zusammenreißen, um nicht hinzugehen und beispielsweise das junge Paar zu ermahnen, das mit einem höchstens vierjährigen Kind in Richtung Föhr aufbrach. Doch heute war er nicht Polizist, und er durfte nichts tun, woran sich später jemand erinnern würde. David hatte keinen Zweifel daran, dass Mats nicht allzu lange brauchen würde, um Gewissheit darüber zu erlangen, wohin er geflohen war.

Zweifelnd sah er sich um. »Und jetzt? Die Wandergruppe ist weg. Wohin gehen wir?« Er zog seine Uniformschuhe an und band die Schnürsenkel zu. Als er sich aufrichtete, verschwamm seine Sicht auf einmal. Ihm wurde schwindelig, in seinem Kopf drehte sich alles; genau wie am Morgen, als er am Strand aufgewacht war. David schluckte den bitteren Geschmack herunter, der in seiner Kehle aufstieg.

Harry schien mit den nassen Klamotten auch seine Schmerzen abgestreift zu haben. Sein Gesicht war vom Wind zwar gerötet, aber insgesamt machte er wieder einen sehr frischen Eindruck.

»Die sind zur Bushaltestelle. Das läuft bei diesen Wattwanderungen immer so. Die wollen die Fähre zurück nach Föhr kriegen. Aber bis dahin ist noch etwas Zeit. Falls Lehmann sich hierher aufgemacht hat, wird er frühestens mit dieser Fähre hier ankommen.«

Schon allein der Klang dieses Namens ließ alle möglichen Saiten in Davids Magen klingen. Bisher hatte er Mats bloß nicht besonders gut leiden können, war sich aber bewusst gewesen, dass sie als Kollegen miteinander klarkommen mussten. Jetzt allerdings war er vor genau diesem Mann auf der Flucht, musste sich Strategien überlegen, um dem Kerl aus dem Weg zu gehen. Und das, ohne überhaupt zu wissen, warum genau. Matthias Langner war tot. Erschossen. Und seine eigene Waffe war verschwunden. So viel war ihm klar und das wussten Hilla und die anderen Polizisten auch. Wovon sie jedoch keine Ahnung hatte, war das Blut an Davids Händen und auf seinem T-Shirt. Und dies war es, was ihm noch schwerer auf der Seele lastete. Es ließ sich nicht wegdiskutieren. Sobald er die Augen schloss, sah er den Strudel im Waschbecken, der entstanden war, als das Wasser ablief. Hellrot gefärbt war es gewesen. Ohne jeden Zweifel.

Erschöpft lief er hinter Harry her, der jedoch die Frage nach dem Ort, zu dem sie gingen, nicht beantworten wollte.

Irgendwann nach ein paar Minuten begann Davids rechtes Knie wehzutun. Mit stechenden Schmerzen, die sich anfühlten, als ob kleine Dolche unter seine Kniescheibe gerammt wurden, meldete sich die alte Kreuzbandverletzung zurück, die er sich vor ein paar Jahren beim Tennis zugezogen hatte. David stöhnte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Er redete sich Mut zu, befahl sich durchzuhalten, betete wie ein Mantra immer wieder den Spruch herunter, dass alles gut werden würde. Hatte das nicht auch Hilla gesagt? Sie jedenfalls hatte gewollt, dass er sich stellte.

»Ich gehe nicht zurück!«

»Das musst du auch nicht«, antwortete Harry, und David erschrak. Hatte er das wirklich gerade laut gesagt? »Jedenfalls nicht, bevor sich nicht alles aufgeklärt hat.« Harrys Stimme klang fest und David fasste Vertrauen.

»Denkst du, dieser Peter Diercks ist die Spur, die Hilla verfolgen sollte?«

Harry wandte sich zu ihm um. »Er ist Jäger, das habe ich Hilla gesagt. Wenn es da irgendwas gibt, wird meine Tochter es herausfinden. Sie ist eine gute Polizistin.«

Aber keine Kriminalbeamtin, dachte David. Laut sagte er: »Tut mir leid, Harry, aber ich brauche mal eine kurze Pause. Mir tut alles weh und es scheint, dass du trotz deiner Gicht fitter bist als ich.«

Ungläubig starrte der Alte ihn an, wies jedoch auf eine Bank am Rande des Weges.

Als sie sich gesetzt hatten, streckte David die Beine aus und betastete sein Knie. Kam es ihm nur so vor, oder war es heiß?

»Können wir bitte Hilla anrufen? Ich brenne darauf zu wissen, ob sie diesen Diercks schon befragen konnte.«

»Hat das nicht Zeit?«, fragte Harry, zog aber sein Telefon aus der Tasche und entsperrte es.

David wischte darauf herum und wählte aus der Anrufliste Hillas Nummer. Es klingelte nur ein einziges Mal, dann ging sie ran.

»Vaddern?«

»Nein, hier ist David«, sagte er und schloss für einen Moment die Augen in der Erwartung, nun eine endlose Schimpftirade über sich ergehen lassen zu müssen.

Hilla jedoch wirkte aufgeregt. Geradezu euphorisch. Sie schien vergessen zu haben, mit David noch ein Hühnchen zu rupfen.

»Hast du das Telefon auf Lautsprecher?«

David tippte auf den entsprechenden Button. »Jetzt ja.«

»Geht es dir gut, Vaddern?«

Harry brummte zustimmend.

»Stellt euch vor«, sagte sie. »Peter Diercks war bereits gestern Abend auf dem Revier.«

Vaddern pfiff durch die Zähne und David beugte sich ein Stück vor. »Wann?«

»Gegen 23:15 Uhr meinte er. Aber genau konnte er es nicht sagen. Sie sind auf dem Nachhauseweg dort vorbeigekommen und haben gesehen, dass Licht brennt. Seine Frau fand das seltsam, traute sich aber nicht, reinzugehen. Also hat Diercks das gemacht. Er hat drinnen niemanden angetroffen, angeblich sogar noch gerufen. War aber keiner da.«

»23:15 Uhr«, wiederholte David. »Das heißt, ich bin vorher schon von dort weg?«

»So muss es gewesen sein«, sagte Hilla.

»Vielleicht ist er nach hinten gegangen und hat Langner erschossen«, sinnierte David und erntete einen zweifelnden Blick von Harry.

»Dass er dort war, hat er zugegeben. Angeblich ist er aber nicht hinten gewesen. Er wusste nicht, dass jemand seit 21.00 Uhr in der Zelle sitzt.«

»Hast du ihn explizit danach gefragt?« Nun schaltete sich Harry in das Gespräch ein.

Hilla stöhnte auf. »Natürlich habe ich das. Wofür hältst du mich?«

»Warum waren die Diercks so spät überhaupt noch unterwegs?«, fragte David.

»Er hat seine Frau von der Putzstelle abgeholt. Sie macht im Supermarkt sauber. Der hat bis neun geöffnet und sie kann erst danach beginnen.«

David dachte einen Moment nach. »Wenn er nicht wusste, dass Langner dort ist, wie soll er ihn erschossen haben? Nur weil er Jäger ist und Zugang zu Waffen hat, läuft er ja nicht ständig damit in der Gegend rum.«

»Der Diercks ist kein schlechter Kerl«, warf Harry ein. »Ein bisschen mürrisch manchmal. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der …«

»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte Hilla eilig. »Als Nächstes werde ich den Jagdschein und die Waffenbesitzkarte von Diercks checken. Die KTU wird ja bald wissen, mit welchem Kaliber Matthias erschossen wurde. Dann sehen wir weiter.«

David wollte noch etwas erwidern. Sich bedanken, sich auch dafür entschuldigen, dass er Hilla mit alledem total alleinließ, aber sie hatte schon aufgelegt.

»Sag mir bitte, wohin wir gehen«, meinte David, nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten.

»An einen Ort, an dem du sicher bist und an dem wir unsere nächsten Schritte überdenken können.«

David lief und seine Beine funktionierten ohne sein Zutun. Wie ein Uhrwerk, das frisch geölt worden war.

Die Worte tanzten in seinem Kopf umher. Sicher. Nächste Schritte. Wir! Hilla hatte irgendwas gesagt, das ihm nicht aus dem Kopf ging. Er versuchte, den Gedanken zu fassen, aber es gelang ihm nicht.