19

David hatte seinen Blick fest auf den Waldboden des Weges gerichtet, auf den sie eingebogen waren. Zu seiner großen Erleichterung, denn zunächst hatte er Angst bekommen, als sowohl das Ortseingangsschild von Nebel als auch die ersten Häuser in sein Blickfeld geraten waren.

Seine Stimmung hatte sich in der letzten Stunde immer mehr getrübt. Der Regen hatte zwar nachgelassen, aber der gleichförmige Fußmarsch entlang der Küste hatte seinen ohnehin überbeanspruchten Knien den Rest gegeben. Einmal war ein Bus auf der Straße entlanggefahren, die für eine kurze Strecke parallel zu dem Radweg verlief, auf dem sie unterwegs waren und mit ihnen unzählige Touristen auf diesen Pedelecs, die auf Amrum genauso beliebt zu sein schienen wie auf Föhr. David hatte mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, einfach zu einem der vielen Fahrradverleihe zu gehen, an denen sie mittlerweile vorbeigekommen waren. Alles wäre besser als weiter zu Fuß zu laufen. Seine Beine fühlten sich an, als hätte jemand sie mit einem Flammenwerfer in Brand gesetzt. Er fragte sich einmal mehr, wie Harry das alles aushielt, und fand nur eine einzige Erklärung: Er musste eine Tonne Schmerztabletten geschluckt haben, bevor er sich am Morgen auf den Weg gemacht hatte.

»Wir sind da.«

Harrys Stimme riss David aus seinen Gedanken. Die Erleichterung, die er bei dessen Worten verspürte, wurde durch einen Dolchstoß der Angst ersetzt, der ihn traf, als er das Schild vor sich las.

Parkplatz nur für Polizeifahrzeuge

Er taumelte zurück und starrte auf die graue Wand des Hauses vor sich.

»Polizeirevier Amrum.«

David fragte sich, ob Mats hier bereits auf ihn wartete. Und wenn nicht Mats, dann die Amrumer Kollegen.

Harry wedelte mit den Armen, winkte ihn zu sich. »Jetzt mach schon, Junge. Wir sollten endlich von der Bildfläche verschwinden.«

Davids Mund war trocken und er fühlte sich nicht imstande, auch nur ein einziges Wort zu sagen, stattdessen wies er auf das Schild und schüttelte heftig den Kopf.

Harry ließ seine Arme sinken, starrte David an, dann das Schild. Schließlich sagte er lachend: »Ein bisschen mehr Vertrauen wäre wohl angebracht von deiner Seite. Schließlich renne ich nicht mit dir durch das Watt, um dich jetzt auszuliefern. Das hätte ich auch einfacher haben können. Komm erst mal mit rein, dann wirst du schon sehen, dass ich nur das Beste für dich will.«

Die nächsten Minuten erlebte David wie in Trance. Auf der einen Seite war er ständig darauf gefasst, sofort aus dem Gebäude stürmen und die Flucht ergreifen zu müssen. Auf der anderen jedoch hatte der Mann, der sie auf dem Polizeirevier erwartete, ein derart einnehmendes Wesen, dass David sich wünschte, Harry würde ihm keinen Mist erzählt haben.

»Moin«, meinte Harry, sobald sie in der Amtsstube standen. »Das ist Horst-Dieter. Wir kennen uns seit über dreißig Jahren.« Er klopfte dem anderen auf die Schulter. »Dienstjahren, wohlgemerkt. Und die letzten davon haben wir quasi gemeinsam verbracht.«

»Moin«, sagte David und merkte, dass seine Stimme dünn klang wie die eines verängstigten Pennälers.

Horst-Dieter war in etwa so alt wie Harry, jedoch doppelt so dick. Seine Uniformhose spannte über dem feisten Bauch und wurde durch breite blaue Hosenträger mit gelben Smileys gehalten, die garantiert nicht zur Standardausstattung der Polizei zählten. Die Knöpfe seines Oberhemdes waren bis zur Brust offen, die darunter sperrten und hielten nur noch mit letzter Kraft. Das Imposanteste an ihm war jedoch ein Schnauzbart nach Kaiser-Wilhem-Art, der so gar nicht in diese Gegend passen wollte.

»Setzt euch«, sagte Horst-Dieter und zog für David einen zweiten Stuhl neben seinen Schreibtisch.

»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, mein Freund.« Harry nahm auf dem anderen Stuhl Platz und zog ungeniert seine Schuhe aus. Dann legte er die Füße auf den Rand von Horst-Dieters Drehstuhl und wackelte mit den feucht bestrumpften Zehen in der Luft.

David atmete tief durch. »Hat Harry Ihnen erzählt, weshalb wir … weshalb ich …« Verzweifelt fuhr er sich durch die vom Regen noch nassen Haare.

»Jetzt trinken wir erst mal einen Tee, min Jung«, meinte Horst-Dieter. »Ich hab gehört, du bist unser neuer Kollege. Drüben auf Föhr. Da weißt du doch, dass wir uns auf den Inseln alle duzen.« Er hielt ihm die Hand hin und David schlug nach einem kurzen Zögern ein. »Mich nennen hier alle Hodi. Das ist kürzer und mir auf jeden Fall auch lieber als dieses altmodische Horst-Dieter. Und ja … Ich weiß Bescheid.«

»Na dann, Hodi. Danke, dass ich hier sein darf.« David war sich nicht sicher, ob er seiner Menschenkenntnis trauen konnte, aber sein Gefühl sagte ihm, schrie ihn förmlich an, dass Hodi einer von der guten Sorte war. Und was blieb ihm auch anderes übrig? Er musste daran glauben, dass sowohl Harry als auch Hodi ihm helfen würden, einigermaßen heil aus der Sache herauszukommen.

Hodi erhob sich, trat in der kleinen Amtsstube an ein Bord, das wohl die hiesige Kaffeeecke war, und schaltete einen Wasserkocher ein.

Mit einem Lächeln stellte er eine angeschlagene Zuckerdose mit riesigen braunen Kluntjes auf den Tisch, dann drehte er sich wieder um und wartete, bis das Wasser kochte.

»Sie haben vor einigen Jahren die Amrumer Polizeistation fast aufgelöst. Seither sind wir auf Föhr auch für die Nachbarinsel zuständig«, berichtete Harry und David unterließ, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er das natürlich wusste. »Hodi ist der letzte Beamte hier in Nebel.«

Hodi goss das Wasser in eine bauchige Kanne, gab Teeblätter aus einer Blechdose hinein und drehte sich zu ihnen um, während er die große runde Uhr beobachtete, die über der Eingangstür hing. »Damit bist du sozusagen auch mein Chef«, meinte er gutmütig und rührte mit einem Löffel in der Kanne herum.

»Schöner Chef«, murmelte David. »Hat Harry dir erzählt, was passiert ist?«

Hodi kam zu ihnen rüber und goss den Tee ein. Eine so dunkle Flüssigkeit, dass David sicher war, sie würde seine Lebensgeister wieder wecken.

»Ich weiß das von Harry, aber dieser Mats Lehmann hat vor ein paar Stunden ebenfalls hier angerufen. Er meinte, die Kollegen hier auf der Insel sollen die Augen offen halten. Flüchtiger Kollege. Möglicherweise bewaffnet. Mörder und so weiter.«

Er gab drei große Kluntjes in seine eigene Tasse und eine in Davids. Bevor er ein weiteres reinwerfen konnte, winkte David ab. 

»Die Kollegen … « Hodi pfiff durch die Zähne. »Daran allein sieht man schon, wie wenig Ahnung der Bulle vom Festland hat. Kollegen. Ich bin allein hier. Jeden Tag. Den ganzen Tag. Ich hab den Schreibtisch voller Arbeit.« Er wies auf seine Tischplatte, auf der eine einzige dünne Akte lag. »Wie soll ich da die Augen offen halten?«

Nun konnte David ein Lachen nicht zurückhalten. Er streckte Hodi die Hand hin, aber der zuckte zurück, als hielte David eine Schlange zwischen den Fingern.

»Jung, du kennst dich aber hier noch nicht besonders gut aus«, sagte er.

»Wieso?«

»Wir auf den Inseln geben einander nicht die Hand«, meinte Harry. »Aber das lernst du alles noch. Jetzt trink aus, damit wir besprechen können, wie wir weitermachen.«