Im Morgengrauen waren David und Harry bereits auf den Beinen, nachdem sie die Nacht in Horst-Dieters Gästezimmer verbracht hatten. Er hatte David ein paar Sachen von seinem Sohn gegeben, der seit ein paar Jahren auf dem Festland lebte. Nun stand David neben Harry in Hodis Scheune, trug eine Karottenjeans und eine Fliegerjacke und fühlte sich unwohl. Immerhin waren die Klamotten sauber und besser als seine blutige Polizeiuniform.
»Und die willst du uns wirklich leihen?«, erkundigte Harry sich mit Blick auf das Motorrad-Gespann: eine dunkelrote BMW – 76er Baujahr, wie Hodi nicht ohne Stolz bemerkt hatte – mit passendem Beiwagen.
»Einen anderen fahrbaren Untersatz habe ich nicht im Angebot«, sagte Hodi achselzuckend.
»Danke. Für alles«, sagte David und streckte Hodi die Hand entgegen.
»Da nicht für«, wehrte der bescheiden ab.
»Wir werden gut auf das Schätzchen aufpassen«, versicherte Harry und strich sanft über den Tank.
»Versprochen«, fügte David hinzu, setzte den Helm auf und stieg in den Beiwagen. Vielmehr faltete er sich hinein.
Seine Beine waren viel zu lang für das kleine Ding und seine Knie hingen ihm quasi unterm Kinn. Vermutlich sehe ich aus wie ein Affe auf dem Schleifstein, schoss ihm durch den Kopf, denn genau so kam er sich vor.
»Vielen Dank«, sagte David noch mal. Er wollte nicht zur Eile drängen, aber so langsam wurde er unruhig.
»Fahrt vorsichtig. Ich melde mich, wenn ich aus dem Labor die Untersuchungsergebnisse zu den Schmauchspuren habe.«
Harry Petersen verabschiedete sich von seinem ehemaligen Kollegen, schwang sich auf das Motorrad und startete die Maschine.
Um Punkt sechs Uhr rollten sie vollkommen unbehelligt an Bord der Fähre, die sie von Amrum über Wyk nach Dagebüll aufs Festland brachte.
David bemerkte zwar die Überwachungskameras, aber dank der Helme würden sie hoffentlich unerkannt bleiben. Deshalb ließen sie sie während der Überfahrt sicherheitshalber auf.
Außer ihnen waren zu der frühen Stunde nur wenige Passagiere an Bord, die vermutlich zu ihrer Arbeitsstelle pendelten und ihnen keine weitere Beachtung schenkten.
»Die Kindsmutter, diese Anne Klotz, scheint mir eine gute Spur zu sein«, brummte Harry.
Das Telefonat mit Hilla am Vorabend steckte David noch immer in den Knochen. Nun diskutierten sie darüber, was Hilla bisher herausgefunden hatte. Harry war der Ansicht, dass der Hinweis auf die Kindsmutter eine weitere Spur war. David jedoch nickte dazu nur trübsinnig und starrte auf die unruhige Wasseroberfläche.
»Hoffentlich erreicht Hilla sie bald«, meinte Harry.
»Und was versprichst du dir davon?« Seit David erfahren hatte, dass das Blut auf dem Gurt seines Dienstwagens zur selben Blutgruppe gehörte wie das von Langner, war er verunsichert.
»Keine Ahnung.« Harry zuckte mit den Schultern.
»Glaubst du wirklich, die Klotz könnte den Langner erschossen haben? Immerhin ist er der Vater ihres Sohnes«, sagte David. »Und was ist mit dem Blut auf dem Gurt? Falls die KTU rausfindet, dass das tatsächlich von Langner stammt … Mir fällt nicht eine einzige Erklärung dafür ein, wie es sein kann, dass jemand Langner in der Zelle erschießt und das Blut dann in mein Auto kommt.« Oder auf sein Shirt ... Er seufzte schwer. »Es sei denn, ich war es doch.«
»Denk doch so was nicht, Junge. Wir finden es heraus. Das ist unser Job; und den erledigen wir so, wie wir es immer machen. Mit aller Kraft.«
David wusste langsam nicht mehr, woran er noch glauben sollte, und suchte nach einem Strohhalm, an den er sich klammern konnte.
»Was machen wir, wenn wir auf dem Festland angekommen sind?«
»Den Hinweisen nachgehen?«
»Nicht sofort«, sagte David und schüttelte den Kopf. »Erst mal fahren wir nach Kiel.«
Harry sah ihn erstaunt an. »Was ist denn in Kiel?«
»Nichts«, entgegnete David wortkarg. Nichts außer Lennarts Boot, das dort im Hafen lag. »Aber ich kenne da einen Ort, an dem wir untertauchen können«, setzte er zur Erklärung hinzu. »Dort sind wir fürs Erste in Sicherheit und dann sehen wir weiter.«
Was blieb ihm auch anderes übrig?
David hatte sein Leben immer selbst in die Hand genommen. Generell war er ein sehr unabhängiger und vor allem freiheitsliebender Mensch. Dass sein Schicksal nun in den Händen anderer lag, auf deren Hilfe er angewiesen war, konnte er überhaupt nicht vertragen. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt.