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Es dämmerte bereits, als die Tür zur Kajüte des Boots erneut geöffnet wurde, und wieder zuckte David zusammen, immer in der Angst, erwischt zu werden. Diesmal war es Charlotte, die sämtliche seiner Reflexe in Alarmbereitschaft versetzt hatte.

Erleichtert stieß er die Luft aus. »Was machst du hier?«, brachte er hervor und studierte ihr Gesicht, das ihm so vertraut war, und doch schien es, als würde er es zum ersten Mal bewusst wahrnehmen.

»Ich hab mir schon gedacht, dass du hier untergetaucht bist.«

Natürlich, sie kannte Lennarts Boot und er hätte ahnen können, dass sie hier aufkreuzen würde. Trotzdem war es seltsam, sie zu sehen. Hier an diesem Ort, an dem sie so viele gemeinsame Stunden verbracht hatten.

Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass er nicht allein sein würde. Ihr Blick glitt rüber zu Harry und sie räusperte sich verlegen, bevor sie die Hand ausstreckte, um sich ihm vorzustellen.

»Charlotte Kröger.«

Harry musterte sie. »Die Staatsanwältin?«, fragte er und klang beinahe ein bisschen erstaunt. Er musste ihren Namen schon mal gehört haben.

»Ja«, gab Charlotte knapp zurück.

Anscheinend war es ihr unangenehm, von ihm erkannt zu werden, und David konnte es ihr nicht verübeln. Dies war eine seltsame Situation, bei der keiner von ihnen so genau wusste, wie er damit umgehen sollte. Ein betretenes Schweigen folgte.

Hillas Vater schien zu ahnen, dass zwischen ihnen etwas in der Luft lag, und stand auf. »Ich gehe mal spazieren«, sagte er und ließ sie allein.

»Was machst du nur für Sachen?«, fragte Charlotte und betrachtete ihn kopfschüttelnd.

Lennart hatte fast das Gleiche gefragt, doch diesmal traf Davids Erklärung auf nicht so viel Verständnis. Während er Charlotte seine Sicht der Dinge schilderte, hörte sie ihm zunächst ruhig zu, aber als er geendet hatte, schüttelte sie den Kopf.

»Tut mir leid, David, aber das alles hört sich für mich nicht sehr glaubwürdig an.« Sie musterte ihn und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Du bist geflohen, statt dich der Sache zu stellen. Das wirft kein gutes Licht auf dich. Langners Blut wurde in dem Dienstwagen gefunden, mit dem du unterwegs warst. Du hast …«

David hielt das nicht länger aus und unterbrach sie. »Warum glaubst du mir nicht?«, fragte er und hörte selbst, wie flehend er dabei klang.

»Ich würde dir ja gern glauben«, erwiderte Charlotte.

»Aber?«, hakte er nach.

Sie schenkte ihm einen gequälten Blick. »Ich bin Staatsanwältin. Ich muss meinen Job machen und kann nicht einfach persönliche Dinge wichtiger nehmen als Tatsachen.«

»Tatsachen«, sagte David und stöhnte auf. »Ich weiß, wie sich das anhören muss«, gab er zu. »Aber ich erinnere mich nicht an das, was da auf dem Revier passiert ist«, setzte er heftiger hinzu. »Das Einzige, wobei ich mir sicher bin, ist: Ich bin kein Mörder. Ich habe Matthias Langner nicht getötet.«

Charlotte nahm einen tiefen Atemzug und stieß die Luft hörbar aus. »Wenn es so war, wie du sagst, warum bist du dann geflohen?«

»Ich habe gehofft, dass ich meine Erinnerung zurückbekomme, wenn ich etwas Zeit gewinne. Deshalb bin ich geflohen. Wie soll ich für etwas geradestehen, wovon ich nichts weiß?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch aus einem weiteren Grund hier«, sagte sie leise.

Er spürte den Stich in seiner Brust. »Sag es mir.«

»Die Nachricht ist ganz frisch, die Föhrer Kollegen werden sie erst morgen lesen.« Sie atmete tief durch. »Die KTU hat mittlerweile herausgefunden, dass Matthias Langner mit einer Polizeidienstwaffe erschossen wurde. Sie werden das Projektil jetzt mit dem gespeicherten Profil deiner Waffe vergleichen.«

Die Kajüte drehte sich vor Davids Augen. »Scheiße«, sagte er nur, dann senkte er den Blick. »Wirst du mich verraten, oder bist du auf meiner Seite?«

»Natürlich bin ich das, sonst wäre ich nicht hier«, entgegnete sie und funkelte ihn aus dunklen Augen an. »Aber man löst nun mal keine Probleme, indem man vor ihnen wegläuft.«

»Ich laufe nicht weg, ich ...« ... brauche nur Zeit, wollte er sagen, aber dazu kam er nicht, denn Charlotte stand auf und wandte sich zum Gehen. »Du kannst doch jetzt nicht einfach ...«, hob er an, doch Charlotte brachte ihn mit einem knappen Blick zum Schweigen.

»Ich erwarte, dass du das regelst wie ein erwachsener Mensch und dich stellst«, sagte sie und ließ ihn allein.

Wut kochte in ihm hoch, heiß und brodelnd. David ballte die Fäuste, wollte auf irgendwas einschlagen, am besten auf die Tür, durch die Charlotte verschwunden war. Er starrte sie an, die Maserung des Holzes verschwamm vor seinen Augen und er hob die Faust, wollte sie hineinrammen, um dieses Gefühl in sich loszuwerden. Diese Enge in seinem Brustkorb, die ihm den Atem nahm, drohte ihn zu ersticken, während sich sein Kopf anfühlte, als würde er gleich platzen.

Verdammt! Was tat er hier bloß?

Traute Charlotte ihm wirklich einen Mord zu? Ausgerechnet sie!

Kurz darauf kehrte Harry von seinem Spaziergang zurück. Er konnte nicht weit weg gewesen sein und ahnte wohl, dass zwischen David und Charlotte früher was gelaufen war, wie sein vorwurfsvoller Blick verriet.

»Lass das lieber, min Jung«, sagte er und klopfte ihm väterlich auf die Schulter.

»Was?«, fragte David und stellte sich ahnungslos.

»Die ist nicht gut für dich.«

»Woher willst du das wissen?«

Harry tippte sich mit einem vielsagenden Blick auf den Ringfinger. »Sie ist verheiratet«, setzte er unnötigerweise hinzu, als wüsste David das nicht selbst.

»Das ist mir absolut bewusst«, entgegnete David kühl. Schließlich war er nur deshalb auf Föhr gelandet. Aus Rücksicht auf Charlottes Job. »Auf ihre Ehe brauche ich keine Rücksicht zu nehmen. Die besteht seit Jahren nur noch auf dem Papier.« Zumindest behauptete sie das immer. »Ich bin wirklich dankbar, dass du mir hilfst, Harry«, begann er. »Aber das zwischen Charlotte und mir geht nur uns etwas an.«

»Schon gut, schon gut.« Harry hob abwehrend die Hände. »Ich sag’s ja nur«, fügte er hinzu.

David schluckte schwer und berichtete ihm das, was Charlotte gesagt hatte.