»Du kannst doch nicht einfach in blindem Aktionismus losrennen«, sagte Harry zum wiederholten Mal, aber David schüttelte den Kopf.
»Es macht mich verrückt, hier zu warten. Worauf denn? Ich bin Hilla und den anderen wirklich dankbar, dass sie mir helfen wollen. Aber Hilla ist nicht bei der Kripo, Bjarne und Holger ebenso wenig. Und Mats …?« Am liebsten hätte er auf die Schiffsplanken gespuckt, konnte sich aber gerade noch bremsen. »Der tut alles, um mich hinter Gitter zu bringen. Vom ersten Augenblick an war ich für ihn der Schuldige.«
Harry legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Hilla weiß noch nichts von dem negativen Schmauchspurenbefund. Lass uns abwarten, was sie dazu sagt.«
»Was soll sie schon sagen? Herzlichen Glückwunsch, David. Dann warst du ja offenbar nicht derjenige, der Langner umgelegt hat.« Er wandte sich Harry zu. »Der Einzige, der mit diesem Befund was anfangen könnte, wäre Mats. Aber dem dürfen wir davon nichts erzählen, wenn wir deinen Freund Hodi nicht wirklich richtig tief in die Scheiße reiten wollen.«
In Harrys Gesicht zuckte ein Muskel. »Das stimmt. Das ist blöd.«
»Genau«, bestätigte David, griff sich seine Jacke und den Helm vom Boden und schwang ein Bein über die Reling. »Ich nehme es dir nicht übel, wenn du hierbleibst«, sagte er zu Harry. »Aber könntest du mir die Motorradschlüssel geben?«
Nach über viereinhalb Stunden schälte David sich vor dem weiß getünchten Klinikbau in Zingst aus dem Beiwagen. Jeder Knochen tat ihm mittlerweile weh, besonders in seinem sowieso schon überbeanspruchten Knie schmerzte die Sehne, als er das Bein ausstreckte, um sich aufrecht hinzustellen.
David wartete auf Harry, der weiter hinten in der Nähe der Mülltonnen parkte. Sie waren beide der Ansicht gewesen, dass es besser war, so wenig wie möglich aufzufallen. Sicherlich wusste Mats bisher nicht, mit welcher Art von Gefährt sie unterwegs waren, aber ein uraltes Motorrad mit Beiwagen war mittlerweile selten auf den Straßen geworden. Und es war nicht auszuschließen, dass jemand sich sehr genau merken würde, wer das Ding gefahren hatte.
Nachdenklich musterte David die Umgebung. Eigentlich ganz schön. Er wünschte sich, es gäbe einen anderen Grund für seinen Besuch, nahm sich aber vor, auf jeden Fall noch einmal zurückzukehren, wenn die ganze Angelegenheit ein gutes Ende gefunden hatte.
Harry kam ihm mit schnellem Schritt entgegen und schwenkte dabei das Telefon.
»Wir haben einen Anruf von Hilla verpasst«, sagte er, als er bei David ankam, und keuchte.
»Was Wichtiges?«, meinte David und schielte zum Eingang der Klinik. Er wollte so schnell wie möglich da rein, weil er hoffte, hier die entscheidende Spur zu finden.
»Keine Ahnung«, sagte Harry und tippte auf Rückruf und Lautsprecher.
Innerlich stöhnte David, als er das monotone Tuten hörte, aber das wollte er sich auf gar keinen Fall anmerken lassen. Er war sicher, dass Hilla ihr Bestes gab, um ihn zu unterstützen, aber …
»Vaddern, endlich.« Hilla klang gehetzt.
»Ist was passiert?«
»Ich habe die Angestellte von diesem Privatdetektiv erreicht.«
»Dem Schmidt?«, fragte Harry.
»Natürlich.« Hilla klang genervt. »Mit wie vielen Detektiven befassen wir uns denn derzeit?«
»Ist schon gut«, gab Harry beschwichtigend zurück. »Ich dachte nur …«
David unterbrach ihn. »Wir sind gerade in Zingst angekommen und ich wollte …«
»Echt jetzt? Ihr seid da schon hingefahren?« David schloss die Augen und bereitete sich innerlich auf eine Standpauke vor, aber Hilla fuhr fort: »Das ist gut, weil Lehmann dieser Sache nämlich überhaupt nicht nachgehen will. Er ist sich noch immer sicher, dass …«
»Ich der Mörder von Langner bin.« David seufzte schwer. »Hat sich bei Schmidt was ergeben?«
»Ihr werdet es nicht glauben«, erwiderte Hilla. »Seine Angestellte, eine gewisse Frau Hormann, hat in Schmidts Terminkalender nachgesehen und mir erzählt, dass ihr Chef vor einer Woche einen Termin hatte.« Sie pausierte kurz und wartete offensichtlich auf eine Reaktion.
»Jetzt mach es nicht so spannend«, forderte Harry.
»Einen Termin mit einem oder einer gewissen Müller«, sagte Hilla und David hörte ihr Grinsen förmlich.
Allerdings stand er entweder auf dem Schlauch oder war zu blöd dazu, um zu begreifen, was Hilla daran so freute.
»Das ist doch ein totaler Allerweltsname«, sagte er schließlich.
»Das weiß ich selbst, aber es ist immerhin ein Anfang«, gab Hilla zurück und David meinte einen Hauch von Enttäuschung in ihrer Stimme zu hören. »Außerdem habe ich mittlerweile mit der Reederei des Kreuzfahrtschiffes telefoniert, auf dem Langner nach der Sache auf dem Darß angeheuert hatte.«
Nun horchte David auf. »Ist da auch irgendwas passiert?«
»Nein, da gab es keine besonderen Vorkommnisse. Anscheinend stimmt aber das, was Klaus Grein gesagt hat: Langner hat gewartet, bis Gras über den Kunstfehler gewachsen war, dann hat er sich auf Föhr beworben.«
Harry klopfte David auf die Schulter. »Dann ist es ja gut, dass wir schon mal hergefahren sind.«
Für einen kurzen Moment rang David noch mit sich, entschied sich dann jedoch, Hilla zu vertrauen. »Ich habe noch eine Neuigkeit«, sagte er.
»Ich hoffe, eine gute?«
Er nickte, obwohl Hilla es nicht sehen konnte. Die Hand von Harry lag noch immer auf seiner Schulter. »Als wir bei Hodi waren, hat er einen Test auf Schmauchspuren gemacht. Das Ergebnis ist da.«
Hillas Anspannung war selbst durch das Telefon deutlich zu spüren. »Und?«
»Nichts.« Er lächelte. »Nicht die geringsten Spuren.«
»Das ist doch gut. Ich meine …« Sie atmete hörbar durch. »Es war schon eine Zeit vergangen. Du warst im Watt, hattest vermutlich Wasser an den Händen. Hast sie vielleicht vorher sogar gewaschen, aber die Technik ist mittlerweile so ausgefeilt. Die hätten doch was gefunden. Wenn wir das Lehmann sagen, dann kann er gar nicht anders, als seine Anschuldigungen gegen dich fallenzulassen.«
»Das ist das Problem«, sagte David, dem es leidtat, ihren Enthusiasmus bremsen zu müssen. »Hodi hat das Testkit unter einem fremden Namen eingereicht. Das ging nicht anders. Ich werde gesucht, die Leute im Labor hätten sonst ja gewusst, wo ich …«
»Scheiße«, sagte Hilla nur. »Das bedeutet, dass wir das erstens Mats Lehmann nicht erzählen können und es zweitens vor keinem Gericht als Beweis zählt.«
Nachdem sie das Telefonat beendet hatten, gingen David und Harry in die Klinik. Kalte Luft wehte ihnen entgegen und der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln. Von außen hatte das Gebäude gut in Schuss gewirkt. Im Innern jedoch war zu erkennen, dass der Schein täuschte: Der hellgrüne Linoleumboden war an vielen Stellen abgelaufen und die Besucherstühle aus Plastik waren so alt, dass sie ein wenig aus der Zeit gefallen schienen. Hinter einem Tresen aus Buchenimitat, dessen Furnier sich an den Rändern wellte, stand eine Krankenschwester. Sie trug eine Strickjacke trotz des schönen Wetters, was an der zu tief eingestellten Klimaanlage liegen mochte. Ihr Haar war raspelkurz geschnitten und weißblond gefärbt. Um den Hals trug sie eine Uhr, auf die sie immer wieder schaute, als würde sie auf etwas warten.
Vermutlich auf den Feierabend, dachte David. Er straffte die Schultern und schob sich an Harry vorbei.
»Guten Tag«, sagte er. »Mein Name ist David Kern, Kripo Flensburg.« Für eine Millisekunde streckte er ihr seinen Dienstausweis der Inselpolizei entgegen. Innerlich betete er darum, dass Fanny, so wies ihr Namensschild auf der linken Brust sie aus, ihn so schnell nicht lesen konnte. »Ich hätte ein paar Fragen. Nichts Großartiges«, fuhr er fort und steckte seinen Ausweis wieder weg. »Haben Sie einen Augenblick Zeit, mir die zu beantworten?«, setzte er betont freundlich hinzu – zumindest hoffte er, dass es so rüberkam.
Schwester Fanny zögerte. Erneut sah sie auf die Uhr. »Gleich kommen die Rettungssanitäter und bringen ihre Berichte«, murmelte sie abwesend und Davids Hoffnung sank. Doch dann hellten sich ihre Gesichtszüge auf. »Aber noch sind sie ja nicht da«, meinte sie gutgelaunt. »Was möchten Sie denn wissen?«