»Frau Petersen, mir scheint, Sie haben es noch immer nicht verstanden.«
Der freundliche Tonfall von Lehmann passte nicht zu seinen Worten und schon gar nicht zu dem überheblichen Blick, den er ihr schenkte.
Es war mittlerweile fast sechs, schon lange Feierabend, aber Lehmann hatte sie angewiesen, auf dem Revier auf ihn zu warten. Nun stand er mit seiner Reisetasche vor ihr, Müller hielt sich im Hintergrund. Lehmann trug eine graue Jeans, die ihm ein wenig zu eng war. Das hatte Hilla sofort bemerkt. Ständig nestelte er an seinem Gürtel herum, schob ihn mal höher und mal tiefer.
»Hallo? Frau Petersen? Sind Sie noch da? Oder denken Sie grade an Ihre Schafe?« Lehmann fuchtelte mit einer Hand vor ihren Augen rum und Hilla riss sich zusammen.
»Selbstverständlich«, murmelte sie.
»Gut, denn ich habe keine Lust, mir von Ihnen noch ein weiteres Mal lang und breit anzuhören, dass es nicht Kern gewesen sein muss. Deshalb sage ich Ihnen jetzt zum letzten Mal, dass sie die Ermittlungen denjenigen überlassen werden, die dafür zuständig sind, nämlich uns«, setzte er mit Nachdruck hinzu. »Hauptkommissar Kern mag in dieser Hinsicht ja gern mal eine Ausnahme gemacht haben, aber das gibt es bei mir nicht. Haben wir uns verstanden?«
Hilla ärgerte sich, dass sie ihm nichts von den fehlenden Schmauchspuren sagen könnte. Das hätte ihm auf jeden Fall den Wind aus den Segeln genommen. »Ich wollte doch bloß erklären, dass in Schmidts Terminkalender der Name Müller …«, begann sie.
»Müller!«, fiel Lehmann ihr höhnisch ins Wort. »Das ist doch ein totaler Allerweltsname. Jeder Dritte heißt so in Deutschland.«
»Ich …«
Nun trat Daniel, der Flensburger Kollege, einen Schritt vor. »Das Problem kenne ich«, sagte er, woraufhin ihm Lehmann einen prüfenden Blick zuwarf.
Daniel hob beide Arme und lachte. »Keine falschen Verdächtigungen«, sagte er. »Ich kenne keinen Privatdetektiv aus Husum, habe keinen beauftragt und auch nicht vor, das jemals zu tun. Ich wollte nur sagen, dass Müller ein häufiger Name ist. Genau wie Schmidt oder Schulze.« Achselzuckend zog er sich wieder hinter Lehmanns Rücken zurück.
Während Hilla noch überlegte, was sie mit diesem Statement anfangen sollte, ergriff Lehmann erneut das Wort.
»Ich gehe fest davon aus, dass Langner den Privatdetektiv ermordet hat. Die Spurenlage legt das nahe. Allerdings können wir einen Toten für diese Tat ja nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Im Falle Langner bin ich jedoch nach wie vor der Auffassung, dass lediglich David Kern für die Tat infrage kommt. Die Untersuchungen der Gerichtsmedizin und der KTU werden das final nachweisen, darauf können Sie sich verlassen, Petersen.«
Mechanisch nickte Hilla im Takt seiner Worte. Noch vor ein paar Minuten hatte sie gehofft, ihn von ihren Ermittlungsergebnissen überzeugen zu können. Aber wie es aussah, blieb ihr nichts weiter übrig als abzuwarten, bis …
»Wir reisen ab!«, entschied Lehmann knapp. Ein allgemeines Aufatmen ging durch die Wachstube, welches er geflissentlich ignorierte. »Meine Leute wissen Bescheid. Wir werden die letzte Fähre nach Dagebüll nehmen. Es gibt für uns hier nichts mehr zu tun. Außerdem ist Wochenende.« Dem letzten Satz konnte sie ausnahmsweise mal uneingeschränkt zustimmen.
Lehmann wartete Hillas Erwiderung nicht ab und verließ grußlos das Revier.
»Na dann tschüss«, sagte Daniel und zuckte mit den Schultern. »Wenn euer Chef es wirklich nicht war, werden wir das herausfinden«, fügte er noch aufmunternd hinzu, bevor er seine Jacke nahm, um seinem Chef zu folgen.
Hilla jedoch konnte in seinen Worten keinen Trost finden. Im Gegenteil. Ihr wurde immer bewusster, dass dieser Fall sie überforderte. Dass ihr alles entglitt. Wenn doch wenigstens Vaddern da wäre. Mit dem hätte sie abends fachsimpeln können. Wie früher. Alles durchsprechen, das Für und Wider gegeneinander abwägen. Kurz dachte sie darüber nach, ihn anzurufen, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Vermutlich würde David ans Telefon gehen, aber den wollte sie jetzt auf gar keinen Fall sprechen. Sie hörte sehr genau, wie sehr er jedes Mal darauf hoffte, dass sie gute Nachrichten für ihn hatte.
Hilla hatte gerade ihre Tasche über die Schulter geworfen, als das Telefon klingelte.
»Polizeiobermeisterin Petersen.«
»Grobel hier, von der KTU. Ist Hauptkommissar Lehmann noch da?« Der Mann klang gehetzt.
Hilla schüttelte automatisch den Kopf, auch wenn das der Kollege am Telefon nicht sah. »Der hat vor fünf Minuten Feierabend gemacht«, sagte sie. »Den erwischen Sie nur noch auf dem Handy.«
»Dann versuche ich das mal«, meinte Grobel.
»Warten Sie«, sagte Hilla schnell. »Gibt es was Neues?«
»Die ballistische Untersuchung im Fall Matthias Langner ist abgeschlossen.«
Hilla umklammerte mit den Fingern die Schreibtischkante. »Was ist rausgekommen?«
»Bei der Tatwaffe handelt es sich höchstwahrscheinlich um die Dienstwaffe von David Kern.«
»Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit?«, erkundigte sie sich. Ihre Lippen fühlten sich plötzlich ganz taub an.
»Neunundneunzig Komma neun Prozent«, gab er zurück. »Der Abgleich der Profile war eindeutig positiv.«
»Danke«, murmelte Hilla tonlos, bevor sie auflegte. Verdammt, David! Wie kann es sein, dass Langner mit deiner Waffe erschossen wurde, du aber keine Schmauchspuren an den Händen hattest?