Hilla wartete auf den Beginn der Fernsehnachrichten. Sie hatte keine Lust gehabt, allein am Tisch in der Küche zu essen, und sich daher einen Teller mit belegten Broten gemacht. Die Füße hatte sie auf dem niedrigen Schemel des Sessels abgelegt, den eigentlich ihr Vater für sich gepachtet hatte. Hilla saß normalerweise auf der Couch daneben. Neben der Stelle, die sie für gewöhnlich nutzte, lag eine gehäkelte Decke, die noch von ihrer Mutter stammte. Dies war der Platz des Katers Othello, der jedoch im selben Augenblick verschwunden war, als Vaddern sich mit David auf den Weg durchs Watt gemacht hatte. Verschwunden war vielleicht ein wenig übertrieben, denn es bestand kein Grund zur Sorge. Jeden Morgen und auch am Abend, wenn Hilla die Tiere versorgte, starrte Othello sie von einem der Dachbalken aus leuchtend gelben Augen an. Sie seufzte, als ihr klar wurde, dass der Kater Vaddern wohl genauso sehr vermisste wie sie. Auf jeden Fall schien er keinen Grund zu sehen, es sich im Wohnzimmer bequem zu machen, wenn der Herr des Hauses mit Abwesenheit glänzte.
Hilla schob sich gerade ein Wurstbrot in den Mund, als das Telefon klingelte. Sie griff nach dem Handy und registrierte die Nummer ihres Vaters. Innerlich wappnete sie sich, denn nun kam sie nicht darum herum, David die schlechte Nachricht zu überbringen.
»Ja«, sagte sie nur und presste zwei Finger gegen ihre Schläfen, die wie auf Kommando zu schmerzen begonnen hatten.
»Hier ist David«, meinte er atemlos. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Hilla zögerte, sagte dann aber: »Natürlich. Kein Problem, aber erst muss ich dir was Wichtiges erzählen.« Sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, weil sie Angst hatte, den Mut zu verlieren, wenn sie nicht sofort loslegte. »Das Labor hat herausgefunden, dass Langner mit deiner Dienstwaffe erschossen wurde.« Puh, endlich war es raus. Hilla merkte, dass sie zu schwitzen begonnen hatte. David schwieg, dann hörte sie ihn tuscheln. Es raschelte und kratzte im Hörer.
»Ich bin dran«, sagte ihr Vater. »David braucht erst mal einen kurzen Moment für sich.«
»Es tut mir sehr leid, ich hatte gehofft, dass …«
»Er war es nicht.«
»Ich weiß, dass du das glaubst. Glauben willst, aber die Beweise … Es spricht vieles gegen ihn.« Sie schluckte trocken. »Mir ist klar, dass du dich an diesen Schmauchspurentest klammerst. Aber vielleicht hat das Labor, mit dem Hodi die Untersuchung beauftragt hat, nicht ordentlich gearbeitet, oder …«
»Ich bin fünfundvierzig Jahre Polizist gewesen. Meine Menschenkenntnis hat mich noch nie im Stich gelassen. Wenn ich sage, dass er es nicht war, dann …«
»Ist gut, Harry. Wir können es nicht ändern.« Das war Davids Stimme und Hilla staunte, dass er so gefasst klang.
»Es tut mir leid«, sagte Hilla noch einmal. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Es ändert nichts. Ich habe Langner nicht ermordet«, presste David hervor.
»Erinnerst du dich wieder?«
»Leider nicht. Aber ich glaube, wenn ich so etwas Furchtbares getan hätte, wüsste ich das. So etwas kann man doch nicht einfach vergessen.«
Da war was Wahres dran. Hilla überlegte, jedoch fiel ihr nichts ein, das David hätte trösten können. Also versuchte sie es gar nicht erst. »Um welchen Gefallen geht es? Was kann ich tun?«
»Ich brauche dringend die Adresse von einer Roswitha Semper. Sie muss hier irgendwo in der Nähe von Zingst wohnen. Jedenfalls hoffe ich das. Ich nehme an, dass du schon zu Hause bist, aber könntest du …?«
Hilla griff nach ihrer Jacke, presste das Telefon zwischen Ohr und Schulter und zog die Tür hinter sich zu. »Bin schon unterwegs. Ich rufe dich zurück, wenn ich weiß, wo die Frau wohnt.«
Als sie auf den Hof trat, schlug ihr eine heftige Böe entgegen. Hilla fluchte, weil sie neuerdings mit dem Fahrrad fahren musste, denn die KTU hatte den Dienstwagen noch immer nicht freigegeben.
Ich tue es für David, dachte sie, als die ersten Tropfen zu fallen begannen. Der Wind traf sie von vorn, der Regen schräg von der Seite. Nach wenigen Minuten pladderte es derart, dass sie bis auf die Knochen durchnässt war. Mechanisch trat sie in die Pedale, sah die Schatten der Bäume nur aus den Augenwinkeln. Sie keuchte gegen das Wetter an, gegen die Steigungen und gegen all den Mist, der in den letzten Tagen passiert war. David durfte nicht schuld sein. Wenn sie etwas tun konnte, würde sie das machen. Auch wenn es bedeutete, bei zwölf Grad im Regen an einem Freitagabend noch einmal aufs Revier zu fahren.
Sie feuerte sich selbst an, erlaubte sich keine Schwäche, obwohl ihre Hände derart froren, dass ihr die Tränen kamen.
Es dauerte etwa fünfundzwanzig Minuten, die ihr jedoch wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, als sie endlich die Tür zum Revier aufgeschlossen hatte. Ihre Sachen tropften, aus ihren Haaren lief das Wasser in kleinen Rinnsalen auf den Fußboden. Hilla hätte sich gern einen Tee gekocht, um sich aufzuwärmen, aber sie wusste nicht, wo Holger den Wasserkocher hatte verschwinden lassen, bevor die Flensburger Kollegen eingetroffen waren.
Seufzend zog sie sich ihren Stuhl heran und startete den Computer. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Etwas, bei dem sie nicht erwischt werden durfte. Dann aber fiel ihr ein, dass Lehmann und alle anderen aus Flensburg wieder zurück auf dem Festland waren. Das Melderegister von Zingst und Umgebung konnte sie zwar nicht einsehen, aber wenn sie Glück hatte …
Sie hatte. Roswitha Semper hatte vor einem halben Jahr ihren Mann Torsten wegen häuslicher Gewalt angezeigt, die Anzeige am nächsten Tag jedoch zurückgezogen. Das Aktenzeichen war dennoch da.
Hilla griff nach dem Telefon und wählte Vadderns Nummer in der Hoffnung, David zu erreichen. Ihr Vater nahm den Anruf entgegen.
»David musste ein bisschen allein sein. Er geht ein paar Schritte. Bist du fündig geworden?«
Hilla gab ihm die Adresse in Ribnitz-Damgarten durch.