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»Glaub mir, es ist besser so«, sagte Harry und zog die Schuhe aus, bevor er sich auf das breite Doppelbett fallen ließ.

David nickte und versuchte die innere Unruhe zu unterdrücken, die ihn befallen hatte, seit endlich die entscheidende Spur da war. Am liebsten wäre er sofort nach Flensburg aufgebrochen und hätte dieses Pflegeheim gesucht. Harry war dagegen gewesen.

»Keine Ahnung«, sagte David und konnte nicht anders als aus dem kleinen Fenster im dritten Stock in die Dunkelheit der einbrechenden Nacht zu starren.

»Junge, ich weiß, dass du es eilig hast. Aber es ist jetzt schon nach zehn. Wir brauchen fast fünf Stunden bis Flensburg. Du kannst um diese Uhrzeit dort nichts erreichen.«

Niedergeschlagen nickte David und ließ sich ebenfalls auf die beige gemusterte Tagesdecke sinken, die so unpersönlich war wie der Rest des ganzen Zimmers. Eichenfurnier, Lampen mit cremefarbenen Schirmen, hellbrauner Teppichboden.

»Für eine Nacht wird es gehen«, meinte Harry und schnappte sich eine der Zahnbürsten, die der Mann an der Rezeption ihnen gegeben hatte.

Als Harry im Bad verschwunden war, band David ebenfalls seine Schuhe auf und suchte in der kleinen Reisetasche nach dem gestreiften Pyjama von Hodis Sohn. Auch wenn Harry recht hatte: Es zuckte in Davids Beinen, sich sofort auf den Weg zu machen. Auf der anderen Seite wusste er nicht, was ihn in Flensburg erwartete. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihn dort jemand erkannte, war ungleich höher als in Kiel, Zingst oder auch hier in Ribnitz-Damgarten. Er musste vorsichtig sein, durfte nicht übereilt handeln, kein Risiko eingehen. Gerade jetzt nicht, wo er endlich etwas herausgefunden hatte.

David hörte das Rauschen der Dusche im Nebenraum und griff nach Harrys Handy. Dann tippte er eine Nachricht an Hilla.

Wir suchen eine Rebecca Müller. Sie lebt in einem Pflegeheim in Flensburg. Tust du mir den Gefallen und versuchst herauszufinden, welches es ist? Tausend Dank. Melde mich morgen. David

Nach einer erfrischenden Dusche, die zwar den Schmutz des Tages weggespült, jedoch nicht die Gedanken vertrieben hatte, sank David neben Harry ins Bett. Er wollte ihm gerade noch eine gute Nacht wünschen, als der Alte in einer ungeahnten Lautstärke durch Mund und Nase zu pfeifen, zu röcheln und zu grunzen begann. Sein übliches Schnarchkonzert. David seufzte, griff nach einem der Zierkissen und presste es gegen sein Ohr. Das wird eine harte Nacht, dachte er, war sich aber im selben Moment bewusst, was Hillas Vater für ihn getan hatte. Der Mann war krank, aber er hatte nicht ein einziges Mal gejammert. Dankbarkeit überkam David. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen, dachte er. Ich hätte es nicht einmal durchs Watt geschafft.

So laut die monotonen Geräusche seines Bettnachbarn auch sein mochten, langsam und gemächlich lullten sie David ein. Er spürte, wie sein Körper schwer wurde, wie eine tiefe Ruhe ihn überkam. Langsam driftete er der Dunkelheit entgegen und Bilder erschienen vor seinem inneren Auge: Der Langner in der Zelle. Blut, so viel Blut. Eine Frau, mit blutroten Haaren. Aus großen Augen sah sie ihn an und wich ängstlich vor ihm zurück.

Ruckartig schreckte David hoch. Der Schweiß strömte ihm aus allen Poren und sein Herz hämmerte in seiner Brust. Hatte er bereits geschlafen? Waren die Bilder, die noch immer auf seiner Netzhaut flimmerten, echte Erinnerungen oder nur ein Traum? Geboren aus den Versatzstücken, die andere ihm eingeflüstert hatten über das, was in dieser unsäglichen Nacht auf dem Revier geschehen war.

Trotzdem ... Diese Frau, sie erschien ihm so real. Davids Kopfhaut kribbelte, sein Magen rebellierte. Geräuschlos stand er auf und tappte auf nackten Füßen ins Bad, wo er einen Zahnputzbecher mit Leitungswasser füllte. Mit zwei großen Schlucken trank er ihn aus, doch das flaue Gefühl in seinem Bauch blieb und mit ihm das Gefühl, in jener Nacht nicht allein auf dem Revier gewesen zu sein. Hastig ging er zurück zum Bett, nahm das Handy vom Nachttisch und tippte eine weitere Nachricht an Hilla.