»Geht es Ihnen nicht gut, Frau Klotz?«, fragte Hilla und musterte die junge Frau, die schon wieder hinüber zur Tür zu den Nebenräumen starrte. Mit ihren ordentlich manikürten Fingernägeln hämmerte sie nervös auf die Platte des kleinen Besprechungstisches. »Ist das Vorstellungsgespräch nicht gut gelaufen?«
Sie schluckte schwer. »Doch, alles in Ordnung. Ich habe ein gutes Gefühl. Sie wollen sich nächste Woche melden und mir Bescheid geben.«
»Gut, das freut mich. Danke, dass Sie noch einmal gekommen sind.«
Frau Klotz rutschte in ihrem Stuhl ein Stück tiefer. »Sie haben noch Fragen? Worum geht es?«
Hilla verschränkte die Finger. Sie hatte sich im Vorfeld die Worte zurechtgelegt, denn sie konnte der Frau ja schlecht erzählen, dass David sturzbetrunken gewesen war und sich an nichts mehr erinnerte. »Mein Kollege Kern war in der Nacht, in der Matthias Langner getötet wurde, hier auf dem Revier. Er erinnert sich daran, dass er nicht allein war. Er sagt aus, er habe eine Frau mit roten Haaren gesehen.« Sie beugte sich ein Stück nach vorn und musterte Anne Klotz streng. »Sind Sie das gewesen? Waren Sie hier auf dem Revier in der Nacht?«
Stille folgte. Die Frau starrte an Hilla vorbei an die Wand, mied ihren Blick. Ihr war anzusehen, wie sehr sie mit sich kämpfte.
Einen Augenblick Zeit gab Hilla ihr noch, dann sagte sie: »Sagen Sie einfach die Wahrheit, wir finden es sowieso heraus. Waren Sie hier? Warum?«
Nach längerem Schweigen antwortete Anne Klotz: »Ich wollte die Unterschrift von Matthias Langner. Er sollte die Vaterschaft anerkennen, damit Julius das Geld bekommt, das ihm zusteht. Wie ich Ihnen schon beim letzten Mal gesagt habe: Er hat mich nur ausgelacht, aber ich konnte das doch nicht einfach so hinnehmen. Ich war es meinem Sohn schuldig, alles zu versuchen.«
Hilla nickte und fragte in sanftem Tonfall: »Was ist passiert?«
»Ich bin mehrmals zu ihm nach Hause gefahren. Zum letzten Mal am Dienstag. Seine Nachbarin hat mir gesagt, dass er von der Polizei abgeholt wurde. Dass sie ihn verhaftet und aufs Revier mitgenommen hat. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.« Sie schniefte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Hilla zog ihre Schreibtischschublade auf und reichte ihr ein Taschentuch. »Ich habe hin und her überlegt. Irgendwas musste er ja getan haben, sonst hätten ihn Ihre Leute nicht mitgenommen. Mir war klar, dass er nicht auf Föhr bleiben würde. Ich dachte, es wäre meine letzte Chance.«
Hilla griff nach ihren Notizen und überflog sie kurz. »Haben Sie um 22:30 Uhr mit unterdrückter Nummer auf dem Revier angerufen?«
Anne Klotz nickte. »Ich wollte fragen, ob ich vielleicht kurz mit ihm reden kann. Aber es ging niemand ran.«
»Und deshalb sind Sie dann hergekommen?«
»Ich habe gedacht, dass die Polizei vielleicht noch damit beschäftigt ist, Matthias zu verhören. Ich wollte darauf warten, dass er rauskommt.«
»Aber das ist nicht passiert?«
Sie schüttelte den Kopf. »In der Polizeistation brannte Licht, da habe ich nach einer halben Stunde einfach mal versucht, ob die Tür offen ist. Das war sie.« Sie schluckte schwer und sah Hilla mit einem ängstlichen Blick an. »Ich bin reingegangen. Hier«, ihre Arme umschrieben einen weiten Bogen, der anscheinend die Amtsstube umfassen sollte, »war niemand. Es stank nach Zigarettenrauch. Das kam mir komisch vor. Hinten in dem Gang brannte auch Licht. Ich habe gerufen, wahrscheinlich aber nicht laut genug. Dann bin ich da reingegangen.« Sie wies auf die Tür zum Gang.
»Wann etwa war das?«
»Gegen 23 Uhr.«
Hilla notierte sich alles, was sie sagte. Etwas später war das Ehepaar Diercks gekommen. Ihr Magen begann zu drücken.
Anne Klotz wartete, bis Hilla fertig geschrieben hatte, schien nun aber keine weitere Aufforderung mehr zu brauchen. »Da waren zwei Männer«, sagte sie. »Hinten in der Zelle. Ich konnte erst nur sehen, dass der Polizist sich über den anderen beugte und dessen Puls fühlte. Ich glaube, ich habe leise aufgeschrien. Da hat der Polizist sich umgedreht und ich konnte den anderen sehen. Es war Matthias. Und er war tot. Ein riesengroßer Blutfleck hat sich auf seinem Hemd ausgebreitet.« Ihre Stimme war nun gefasster, als Hilla es der Frau zugetraut hatte. Sie war ihr dankbar, dass sie keine falsche Trauer an den Tag legte.
Hilla atmete tief durch, bevor sie die nächste Frage stellte. »Wie sah der Mann aus, den Sie bei Herrn Langner beobachtet haben?«
»Er war ziemlich groß, vielleicht einen Meter neunzig. Dunkle Haare, die an den Schläfen schon grau werden. Er trug eine dunkelblaue Hose mit einem Waffenholster. Und ein weißes T-Shirt, das war mit Blut beschmiert.«
Nun wurde Hilla endgültig übel. Das, was sie aufschrieb, war die exakte Personenbeschreibung von David.
»Steckte eine Waffe im Holster?«
Sie überlegte kurz, zuckte dann aber mit den Schultern. »Das weiß ich leider nicht.«
»Sah es für Sie so aus, als hätte der Polizist Matthias Langner getötet?«
Anne Klotz blinzelte, dann schloss sie für einen Moment die Augen. Sie schüttelte den Kopf, dann aber nickte sie. »Ich weiß es nicht. In diesem Augenblick habe ich genau das gedacht, das ist richtig. Jetzt aber bin ich mir nicht mehr so sicher. Er hat seinen Puls gefühlt, das weiß ich genau.«
»Haben Sie etwas zu ihm gesagt?«
Sie nickte. »Ich hab ihn gefragt, ob der Mann tot ist.«
»Was hat er geantwortet?«
»Nichts. Er hat mich nur angesehen. Mit so einem irren Blick. Den werde ich niemals vergessen. Deswegen habe ich ja Panik bekommen und bin weggerannt.«
Ein Moment des unbehaglichen Schweigens verging, in dem Hilla versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
»Warum haben Sie uns das nicht schon beim letzten Mal gesagt?«
Eine Träne rann an der Wange der Frau hinunter. »Ich hatte solche Angst. Der Mann, den ich bei Matthias gesehen habe, war Polizist. Und dann will man mich in genau dem Revier verhören, wo ich jemanden von Ihren Leuten bei der Leiche gesehen habe. Sie müssen mich verstehen.«
Das tat Hilla nicht, denn hätte sie all das vorher gewusst, hätte sie ganz anders ermittelt. Einen Vorwurf konnte sie Frau Klotz dennoch nicht machen. Wer wusste schon, ob sie selbst nicht auf eine ähnliche Weise reagiert hätte?
»Warum haben Sie keinen Notruf getätigt?«
Anne Klotz lachte bitter auf. »Wen hätte ich denn anrufen sollen? Ich war ja schließlich schon bei der Polizei. Und Matthias ist ja ganz offensichtlich im Polizeigewahrsam gestorben. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, sondern bin einfach weggelaufen. Aber der Mann kam hinter mir her. Der ist mir bis zur Straße gefolgt, aber ich bin weiter gerannt. Erst am Hotel habe ich wieder angehalten. Da war er dann nicht mehr zu sehen.«
Als Anne Klotz gegangen war, sah Hilla ihre Notizen durch und dachte darüber nach, was das alles bedeutete. Nun wussten sie definitiv, wann David das Revier verlassen hatte. Eine Viertelstunde später waren die Diercks gekommen und da war er ja nicht mehr da gewesen. Das bedeutete, dass er nicht zurückgekehrt war, nachdem er Anne Klotz verfolgt hatte, sondern sich ins Auto gesetzt haben musste, um wohin auch immer zu fahren. Auf jeden Fall hatte Frau Klotz David zu einer Zeit bei Langner in der Zelle beobachtet, die zur Todeszeit passte, auf die der Gerichtsmediziner sich festgelegt hatte. Sie glaubte nicht, dass die Frau etwas mit Langners Tod zu tun hatte, genauso wenig wie das Ehepaar Diercks. David war dort gewesen. Er hatte sich ja selbst an Frau Klotz erinnert. Und die wiederum hatte ihn bei Langner gesehen. Und er hatte Blut auf dem Shirt gehabt. Es war absolut möglich, dass seine Waffe zu diesem Zeitpunkt in seinem Holster steckte. Und dass er kurz zuvor Langner mit genau dieser Waffe erschossen hatte. Es wäre kein Problem gewesen, sie irgendwo zu entsorgen.