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Endlich gab sich David einen Ruck. Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ein grauer BMW-Kombi auf den Parkplatz bog. Charlotte!

Mit klopfendem Herzen wartete David ab, bis sie ausgestiegen war.

»Was machst du hier?«, begrüßte er sie. Schließlich war Samstagnachmittag und Charlotte sah aus, als hätte man sie gerade bei irgendeiner Freizeitbeschäftigung gestört. Ihr Outfit bestand aus einer dunkelblauen Hose mit weitem Bein und einer lässigen Bluse und ihr Haar war zu einem lockeren Knoten gesteckt.

»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, entgegnete Charlotte. Ihr prüfender Blick glitt über sein Gesicht und blieb an seinem Kinn hängen.

»Ja, ich weiß. Ich sehe ein bisschen heruntergekommen aus«, murmelte David und fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln. »Sorry, Frau Staatsanwältin. Aber ich bin seit dreieinhalb Tagen auf der Flucht vor den Strafverfolgungsbehörden«, setzte er mit einem schiefen Grinsen hinzu, obwohl ihm gerade gar nicht zum Scherzen zumute war.

Charlotte schüttelte mit einem wehmütigen kleinen Lächeln den Kopf, als fragte sie sich, wie es nur so weit mit ihnen hatte kommen können. »Gott sei Dank«, sagte sie dann und klang richtig erleichtert. »Ich bin sehr froh, dass du endlich zur Vernunft gekommen bist.«

»Zur Vernunft?«, fragte David verständnislos.

»Ja, Mats hat mich angerufen und mir gesagt, dass du dich stellen willst. Deswegen bin ich ja so schnell hergekommen.«

»Da muss ein Missverständnis vorliegen«, setzte David an. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Mats hat gesagt, ich will mich stellen?«, vergewisserte er sich.

»Ja, deshalb sollte ich herkommen. Damit ich dabei bin und direkt alle Formalitäten ...« Sie hielt inne und schluckte schwer, Tränen schimmerten in ihren Augen.

»Dieser Wichser!«, murmelte David, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Mats hatte gar nicht vorgehabt, ihn wirklich anzuhören, sondern wollte ihm eine Falle stellen und ihn ins offene Messer laufen lassen. Er hatte doch geahnt, dass an der Sache was faul war!

»Eigentlich bin ich hier, um diesen ungeheuerlichen Verdacht gegen mich aus der Welt zu räumen. Ich weiß jetzt, wer der Mörder ist.« Mit schnellen Worten berichtete er von seinem Besuch im Pflegeheim und dem Verdacht gegen Müller. »Sein Foto stand auf dem Nachttisch der Frau.«

Charlotte wirkte erschüttert. »Daniel Müller?«

»Ja, genau der. Er war in der Nacht auf Föhr und hatte ein Motiv. Ich weiß noch nicht so wirklich, wie ...«, setzte er an, doch Charlotte schnitt ihm mit einer knappen Handbewegung das Wort ab.

» Du meinst den Schwager von Mats?«, hakte sie nach und nun war er es, der aus allen Wolken fiel.

»Er ist sein Schwager?«

»Ja, der war vorher bei der Kripo in Neumünster und hat Anfang des Monats in Flensburg angefangen. Nachdem du weg warst, war eine Stelle frei. Mats hat sich sehr dafür eingesetzt, ihn in die Abteilung zu holen, damit er näher bei seiner Frau ist und sie öfter besuchen kann. Ich wusste, dass sie krank ist, aber ich wusste nicht, was sie hat«, setzte Charlotte hinzu. »So was fragt man ja auch nicht so direkt.«

»Wenn die beiden verschwägert sind ...«, begann David, klappte den Mund wieder zu und verfolgte den Gedanken ... dann bedeutete das, dass er seinen Schwager deckte. Kein Wunder, dass er vorhin am Telefon so freundlich gewesen war.

David sah rüber zur Eingangstür. Wenn er hineinging, würde sich eine ganze Horde uniformierter Beamter auf ihn stürzen und ihn vermutlich erst mal einbuchten. Und während er in irgendeiner Arrestzelle schmorte und darauf wartete, dass die Dinge ihren offiziellen Lauf nahmen, konnte Mats in aller Seelenruhe die Indizien verschwinden lassen, die gegen seinen Schwager sprachen.

Aber nicht mit mir, dachte David. Er würde in diesem miesen Spiel nicht das Bauernopfer werden. Deshalb drehte er sich auf dem Absatz um und rannte los.

»Wieso fängst du nicht endlich an, deine Probleme zu lösen, anstatt immer wieder neue zu schaffen?«, rief Charlotte ihm hinterher. »Durch Weglaufen gewinnst du gar nichts.«

Doch diesmal lief er aus den richtigen Gründen davon, nämlich um Zeit zu gewinnen und den wahren Täter zu überführen: Daniel Müller. Inzwischen war es sonnenklar. Wenn Mats ihn nicht nur deckte, sondern ihm an dem Abend, nachdem er ins Hotel zurückgekehrt war, auch die Info gegeben hatte, dass der Mann, der seine Frau auf dem Gewissen hatte, im Moment schutzlos in der Zelle saß, dann hatte Müller auch die Gelegenheit zum Mord gehabt.

Das Einzige, das David sich noch nicht erklären konnte, war, woher Müller gewusst hatte, dass er sich betrinken würde. Sogar besoffen genug sein würde, um ihm seine Waffe und den Zellenschlüssel abzunehmen, ohne dass er es bemerkte.

Er lief zurück zum Hotel und warf im Laufen einen Blick durch die bodentiefen Fenster der Lobby, doch er konnte Harry nirgends entdecken. David wollte gerade hineingehen, als Vaddern mit dem Gespann vom Parkplatz gerollt kam.

»Wohin bist du unterwegs?«, erkundigte sich David etwas atemlos.

»Ich wollte dich davon abhalten, ins offene Messer zu laufen«, gab Harry zurück.

»Du weißt davon?«

»Hilla hatte so eine Vermutung. Sie hat Lehmann angerufen, und der hat ihr gesagt, dass du dich stellen willst.«

»Charlotte hat er das Gleiche erzählt.« David konnte immer noch nicht glauben, dass ihm Mats eine Falle hatte stellen wollen. Er hatte ihn immer als vorbildlichen, verantwortungsbewussten Polizisten erlebt. Gut, sie hatten über die Stelle als Abteilungsleiter miteinander im Clinch gelegen. Aber dass er so weit ging, einen Mörder zu decken, hatte David nicht gedacht. Selbst wenn es sich dabei um seinen Schwager handelte.

»So viel Schlechtigkeit hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, meinte David nachdenklich.

»Blut ist bekanntlich dicker als Wasser«, gab Vaddern achselzuckend zurück und reichte David den zweiten Motorradhelm. »Na los«, drängte er David zur Eile. »Hilla hat gesagt, Lehmann wolle die ganze Stadt abriegeln, wenn du nicht in einer Viertelstunde da bist, und ich schätze, die Viertelstunde ist um. Außerdem müssen wir uns beeilen, wenn wir die letzte Fähre erreichen wollen. Worauf warten wir noch?«

»Auf nichts«, sagte David, denn hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Also setzte er den Helm auf und stieg in den Beiwagen des Motorrads, das ihn zurück nach Föhr bringen würde.