EINS

Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über der Küste. Zirruswolken hingen wie getupft unter dem weiten Firmament. Ein leichter Wind strich über die nur mäßig bewegte See und streichelte die Menschen, die entspannt am Meeressaum entlangschlenderten, auf dem sanft ansteigenden grünen Deich mit ihrem Nachwuchs spielten oder dort ein Lager aufgeschlagen hatten. Kleinkinder stießen sich mit ihren kurzen Beinchen ab und nahmen Geschwindigkeit auf ihren Laufrädern auf, den Kopf nach hinten gewandt und den Blick der stolzen Eltern suchend. Urlauber wichen ihnen aus, manchmal nervös an der Leine zerrend, um auch ihren Hund vor dem Überrolltwerden zu bewahren.

Wer den Weg von der Familienlagune, auf deren Neugestaltung die Verantwortlichen zu Recht stolz waren, vorbei an dem markanten Hochhaus, eine Bausünde vergangener Jahre, geschafft hatte, bummelte am Wasser entlang. Hinter dem Deich zeichnete sich die Reihe der Hotels ab, bis der Blick von der Fassade des Wellenbads eingefangen wurde. Nur wenige folgten der Deichlinie am Südstrand bis zum Sperrwerk, das den Hafen bei Hochwasser schützte.

Die Mehrheit der Spaziergänger bog zwischen dem Schwimmbad und dem neuen Hotelklotz ab. Hinrich Meeseburg und seine Partnerin schwammen im Strom mit. Meeseburg hielt Margot Kummernuss am Ärmel fest.

»Nun warte mal. Du kriegst deinen Kaffee. Nächste Woche hast du das nicht mehr im Blick.« Meeseburg sah von oben auf das Hafenbecken hinab. Dort lagen die Traditionsschiffe. Rechts versteckte sich der alte rot-weiße Leuchtturm. Im Hintergrund erhoben sich die grauen Silos.

Zwischen den Geschäften auf der anderen Seite der Hafenanlagen und der Kaimauer strömten die Menschen zum großen Hafenbecken, in dem die malerisch wirkenden Krabbenkutter lagen. Die Spaziergänger hielten inne, wenn wieder ein Fischer einlief, im engen Gewässer sein Schiff drehte und es offenbar mühelos in eine Lücke manövrierte, um anzulegen.

»Die können das besser als mancher mit seinem Kleinwagen im Parkhaus«, hatte Meeseburg einmal festgestellt. Dort lagen auch die Ausflugsdampfer, die zu den Seehundbänken hinausfuhren, den Urlaubern mit einer Stundenfahrt vor der Küste ein maritimes Erlebnis bescherten oder abends zur Tanzparty in See stachen.

Die »Lady von Büsum« und die »Funny Girl«, die Büsum mit Helgoland verbanden, würden erst später wieder zurückkehren.

Margot Kummernuss zupfte an Meeseburgs Ärmel.

»Komm schon. Das guckst du dir jeden Tag mehrfach an.«

»Na und?«, brummte Meeseburg. »Nächste Woche latschst du wieder durch Stendal.«

»Nun mach unsere Stadt nicht schlecht. Am Kornmarkt im Schatten von Sankt Marien ist es auch schön.«

Meeseburg brummte etwas Unverständliches und ließ sich fortziehen. Seit zehn Jahren kamen sie regelmäßig in das freundliche Familienbad an der Nordsee und wohnten in der gemütlichen Pension am Blauort.

»Da geht es noch sehr individuell und persönlich zu«, hatten sie nach dem ersten Besuch festgestellt und sich fast heimisch gefühlt.

Auf den mit Holzbänken bestückten Stufen, die vom Deich in die Stadt hinunterführten, saßen zahlreiche Leute und genossen das bunte Treiben am Hafen. Kinder schleckten an ihren Eistüten, und manche Eltern versuchten sich am Krabbenpulen. Die fangfrischen und nicht konservierten Meeresbewohner gab es an einem mobilen Stand direkt an der Kaimauer. Sie wurden nicht abgewogen, sondern mit einem Hohlgefäß gemessen. Folgerichtig war der Preis auch in »Liter« angegeben. Wer ungeübt war, fand im Pulen eine Beschäftigung für einen großen Teil des Nachmittags. Dafür wurden die Genießer mit einem unvergleichlichen Geschmackserlebnis belohnt.

Von oben sah man in die Alleestraße hinab, »Büsums Kurfürstendamm«, wie Meeseburg es einmal genannt hatte. Ein Neubau im Stil der alten Bäderarchitektur passte sich wunderbar in das bunte Häuserensemble ein, das die schmale Straße mit den vielen bunten Geschäften säumte. Für jeden Geschmack gab es Angebote. Entsprechend dicht war das Gedränge der Menschen. Niemanden regte es auf, wenn der Fluss ins Stocken geriet, sich eine Traube gebildet hatte, Bekannte zu einem Klönschnack mitten im Weg stehen blieben und ein Hindernis bildeten.

»Wohin willst du?«, fragte Meeseburg, der fürchtete, Margot würde zum wiederholten Mal vor einem der zahlreichen Klamottenläden stehen bleiben, die Hand ausstrecken und wieder und immer wieder die Kleidung auf dem Ständer zur Seite schieben, ein Stück hervorholen und es ihm hinhalten.

»Wie findest du das?«

»Ich habe meine Brille vergessen«, erwiderte er in solchen Situationen ungnädig. »Komm. Wir müssen sehen, ob wir einen Platz kriegen.«

»Ich will noch mal schnell in die Buchhandlung.«

»Da warst du doch erst gestern. Du hast den Roman noch gar nicht richtig angefangen. Was ist das überhaupt für ein Ding?«

»›Dunkle Marsch‹. Ein Krimi von der Küste. Spielt hier in der Nähe. Heike Denzau heißt die Autorin.«

Meeseburg nickte versonnen. »Komisch, dass Frauen immer Krimis lesen müssen.«

»Ist besser als gar nicht lesen. Ihr guckt immer nur Fußball.«

»In die Buchhandlung können wir hinterher noch rein. Ich will erst mal ’nen Kaffee.«

Sie schlenderten gemächlich die Alleestraße entlang. Meeseburg war enttäuscht, dass alle Außenplätze ihres Stammcafés besetzt waren. »Kein Wunder bei dem Wetter.«

»Dann setzen wir uns rein«, schlug seine Partnerin vor.

»Ach nee. Wer weiß, wie lange das Wetter noch so bleibt.« Er sah zum Himmel empor.

»Das hält sich«, sagte Margot und hakte sich bei ihm ein. »Guck mal. Die haben ihren Kaffee aus. Die gehen bald. Dann können wir doch schnell in die Buchhandlung rein. Die haben so ’ne Ecke mit niedlichen Kleinigkeiten. Da finde ich bestimmt ein Mitbringsel für Marita, Antje und Walburga.«

»Vergiss Verena nicht«, knurrte Meeseburg ungnädig.

»Für alle«, erwiderte Margot Kummernuss salomonisch. Sie packte ihn am Ärmel.

»Sieh mal …« Er stupste sie in die Seite. »Da willst du Urlaub machen und dann so was.«

»Was meinst du?«

»Die da. In ihrem Bettlaken. Vollverschleiert. Als würde sie eine Bank überfallen wollen. Das müsste doch verboten werden. In Dingsda … in Köln. Da laufen die im Fasching so rum.«

»Karneval heißt das«, erwiderte sie in belehrendem Tonfall.

»Hier ist doch kein Fasching. Die sollen zu Hause bleiben. Bei uns in Stendal gibt es so was nicht.«

»Lass sie doch. Die tut dir nichts.«

»Trotzdem. Das ist doch bescheuert.«

»Hinrich. Das geht uns nichts an. Nun komm endlich. Sonst setzt sich noch jemand an den Tisch, den wir haben wollen.«

Er blieb abrupt stehen. »Ach, geh doch allein. Ich warte hier und behalte den Tisch im Auge.«

»Du willst nicht mit?« Ein leichter Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit.

»Nee.« Meeseburg blieb trotzig stehen. »Sonst kommt noch die Schleiereule und nimmt uns den Platz weg.« Er lachte auf. »Mich würde interessieren, wie die ihren Kaffee trinken und den Kuchen essen will.«

»Hinrich!« Margot war energischer geworden.

»Ist doch wahr. Was soll diese Verkleidung? Sieh sie dir doch an. Wahrscheinlich ist die potthässlich, dass es ganz gut ist, dass man sie nicht sieht. Allein ihr Gang. Die tapst wie ein alter Tanzbär. Nee. Ich möchte keiner von denen sein. Solche Frauen. Da könntest du mir einen ganzen Harem schenken.«

Die verschleierte Frau, deren untersetzte Figur unter dem schwarzen Überkleid nur zu erahnen war, kreuzte quer den Strom der Passanten.

»He«, beschwerte sich ein salopp gekleideter Mittfünfziger mit kurz rasiertem Schädel.

Die Frau ignorierte ihn. Sie steuerte direkt auf einen lockeren Pulk von Leuten zu. Der Strom war ins Stocken geraten, weil eine Familie mit kleinen Kindern die Fußgängerzone querte. Ein älterer Mann mit grauen Haaren, auf dessen Hinterkopf sich eine kahle Stelle abzeichnete, hatte den Blick zur Seite gewandt und sah in die Buchhandlung hinein, die über die ganze Ladenbreite zur Straße hin geöffnet war. Die kurze Unaufmerksamkeit reichte, dass er der rothaarigen Frau vor ihm in die Hacken trat. Sie drehte sich erschrocken um und wollte ihrem Unmut freien Lauf lassen, als er sich bei ihr höflich entschuldigte. Auch ihre Begleitung hatte sich umgewandt.

Meeseburg murrte, als die Verschleierte auch noch auflief. »Wie auf der Autobahn, wenn einer pennt«, sagte er zu sich selbst und staunte über die Heftigkeit des Remplers. Der Grauhaarige wurde nach vorn gedrückt und stolperte noch einmal gegen die Frau vor ihm.

»Nun ist aber gut«, beschwerte sich deren Begleiter. »Einmal kann ja ein Versehen sein. Aber nicht so.«

Die Rothaarige öffnete den Mund, nachdem sie sich halb umgedreht hatte, weil der Grauhaarige nicht von ihr abließ. Sie konnte sich erst von ihm lösen, als sie einen Schritt rückwärts machte. Der Grauhaarige blieb einen Moment stehen, dann gaben seine Knie nach, und er sackte in Zeitlupe in sich zusammen. Meeseburg stand etwa drei Meter entfernt. Es schien ihm unwirklich, dass sich auf dem beigefarbenen Pullover des Mannes ein dunkler Fleck abzeichnete.

»Der blutet«, rief Meeseburg. Es war mehr eine intuitive Ahnung als ein klares Erkennen. Instinktiv machte er einen Schritt auf den Mann zu und wollte ihn auffangen. Dabei stieß er gegen die Verschleierte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er durch den schmalen Schlitz im Gesichtsschleier in ihre Augen. Er breitete die Arme aus und wollte sie aufhalten, als ihn ein höllischer Schmerz durchfuhr. Während sich die Verschleierte an ihm vorbeidrängte, sah Meeseburg auf seinen Oberarm. Blut schoss heraus. Der Ärmel seines Hemdes war aufgerissen.

»Sie hat ein Messer«, rief er. »Ein Messer!«

Die dichte Menschentraube um ihn herum stob auseinander. Entsetzte Frauenstimmen schrien auf. Der Grauhaarige war inzwischen zusammengesunken und krümmte sich auf dem Gehsteig. Mit einem kurzen Seitenblick sah Meeseburg, dass der Mann nicht nur aus einer Wunde blutete.

»Ich bin verletzt«, rief er und umklammerte mit der rechten Hand den linken Oberarm. Er sah sich hilfesuchend um. Niemand half ihm. Die Menschen liefen panikartig in alle Richtungen davon. Es war nur ein kurzer Augenblick, der Meeseburg ewig erschien. Der Grauhaarige lag am Boden und bewegte sich kaum. Eine jüngere Frau krümmte sich und hielt ihre Hände vor den Leib gepresst. Zwischen ihren Fingern rann Blut hervor. Ein Stück entfernt stand ein Mann und hielt sich seine Hand. Auch sie blutete.

Endlich näherten sich zaghaft ein paar Leute. Die Frau mit der Bauchverletzung wurde an den Schultern gepackt. Zwei Männer versuchten, sie auf den Boden gleiten zu lassen. Eine ältere Frau war an Meeseburg herangetreten.

»Sind Sie verletzt?«, fragte sie mit besorgter Stimme.

»Nee, ich tu nur so«, erwiderte er. Merkwürdigerweise spürte er keine Schmerzen. Aber es war keine Einbildung. Das Blut schoss aus seinem Oberarm, hatte das Hemd durchtränkt und tropfte auf den Fußboden. »Ich blute«, rief er überflüssigerweise.

Ein sportlich wirkender Mann mit Brille und gepflegtem Bart kam aus der Buchhandlung, sah sich um und steuerte Meeseburg an.

»Was ist?«, fragte er.

»Das hier.« Meeseburg hielt ihm den Arm hin.

»Das müssen wir abbinden«, sagte der Mann und sah sich suchend um.

»Hier!« Eine blonde Frau riss sich ein Tuch vom Hals und hielt es ihm hin. »Sie sind von der Buchhandlung?«

Der Buchhändler nickte kurz, nahm das Tuch und band es oberhalb der klaffenden Wunde um Meeseburgs Oberarm. Dann zog er es kräftig zusammen. Sofort ließ der Blutstrom nach. Gäste des gegenüberliegenden Cafés schleppten Stühle herbei und drängten Meeseburg auf den Sitz. Er sah, wie sich mehrere Passanten um die anderen Verletzten kümmerten. Um ihn hatte sich ein Ring Neugieriger gebildet.

»Der Rettungsdienst ist informiert«, rief jemand aus der Menge. »Und die Polizei auch.«

»Was war denn hier los?«, fragte eine Frauenstimme.

»Da hat ein Wahnsinniger mit einem Messer herumhantiert und viele Leute verletzt.« Ein dunkelhaariger Mann aus der zweiten Reihe hatte sich zu Wort gemeldet.

»Wer denn?«, meldete sich eine andere Stimme. »Ich habe nichts mitbekommen.«

»Der ist wie der Blitz weg«, stellte ein älterer Mann fest.

»Wer?«

»Keine Ahnung.«

»Das muss man doch gesehen haben«, behauptete der Erste.

»Das war die verschleierte Frau«, sagte Meeseburg.

»Welche Verschleierte?«

»Die habe ich auch gesehen«, bestätigte der Dunkelhaarige.

Meeseburg wurde schwarz vor Augen. Ihm war plötzlich übel. Das Letzte, was er mitbekam, war, dass ihn jemand an den Schultern packte und so verhinderte, dass er vom Stuhl fiel.