VIER

Lüder war früh aufgebrochen. Fünfhundert Kilometer lagen vor ihm, die sich gefühlt aber auf ein Vielfaches ausdehnten. Ab Bordesholm füllte sich die Autobahn mit Lkws. Waren es früher die »Dänen«, dominierten heute Gespanne mit vorwiegend osteuropäischen Kennzeichen die Pisten. Trotz der frühen Stunde herrschte lebhafter Verkehr, und vor dem Elbtunnel steckte er das erste Mal im Stau. In elf Jahren würde er in Pension gehen. Ob die chaotischen Straßenverhältnisse bis dahin beseitigt sein würden? Kaum, überlegte er. Man würde diesen Zeitraum sicherlich mit Planungen ausfüllen, ohne etwas Konkretes zu bewerkstelligen. Deutschland war auf dem besten Weg, sich im Planungsdschungel zu verstricken. Nur die Gesetzesbrecher hielten sich nicht daran, sondern agierten immer real.

Das Wochenende war ruhig verlaufen. Alle hatten sich gefreut, dass Margit wieder zu Hause war, auch wenn sie sich zurückhielt und sehr viel Zeit für sich allein brauchte. Ob die Kinder auch spürten, dass Margit immer noch von Angst gepeinigt wurde? Lebhaftigkeit in der Umgebung und laute Geräusche ließen sie erschrecken. Lüder begleitete ein schlechtes Gewissen. Er hätte Urlaub nehmen und an ihrer Seite bleiben müssen.

Kaum hatte Lüder den Engpass Hamburg hinter sich gelassen, als sich Dr. Starke auf dem Telefon meldete. »Wo steckst du?«, wollte der Kriminaldirektor wissen. Lüder erklärte, dass er auf dem Weg nach Erfurt sei.

»Da wolltest du am Freitag hin, aber nicht heute.«

»Freitag hätte ich niemanden mehr erreicht«, entgegnete Lüder.

»Darüber hätten wir noch einmal sprechen sollen.«

Arschloch, sagte Lüder tonlos. »Gut! Dann kehre ich an der nächsten Ausfahrt um und fahre nach Kiel zurück. Es bestehen ohnehin Zweifel auf deiner Seite, dass sich in Erfurt Verwertbares für die Ermittlungen findet. By the way. Seit dem Attentat sind vier Tage vergangen. Was hat sich in der Zwischenzeit ergeben? Gibt es eine konkrete Spur? Hinweise auf die Täter? Was weiß man über Almawt lilmushrikin?«

»Die ganze Ermittlungsgruppe arbeitet mit Hochdruck an diesem Fall«, wich Dr. Starke aus. »Zu der Gruppe, die das Bekennerschreiben abgesetzt hat, liegen uns keine Informationen vor.«

Und auch sonst hast du keine Ahnung, dachte Lüder. »Soll ich umkehren?«

Lag es an der rückständigen Kommunikationsinfrastruktur oder an Dr. Starkes Nachdenken, dass es im Lautsprecher knackte?

»Fahr weiter«, entschied der Kriminaldirektor schließlich. »Uns kannst du hier ohnehin nicht behilflich sein.«

Lüder fuhr weiter nach »Süddeutschland«. Erfurt lag ebenso wie Köln in der südlichen Hälfte, auch wenn niemand bei diesen beiden Orten vom »Süden« sprechen würde. Umgekehrt war aber bereits Hannover »hoher Norden« in der Vorstellung vieler Menschen.

Das Navi führte ihn über Autobahnen, von deren Existenz er noch nie gehört hatte, durch eine sanft hügelige grüne Landschaft. Schließlich erreichte er Thüringens Hauptstadt.

Die Stadt zeigte sich ihm mit zwei Gesichtern. Die unscheinbaren und unstrukturiert wirkenden Gewerbegebiete im Wechsel mit Plattenbauten einerseits und die kuschelige Innenstadt mit einem urigen, fast historischen Ambiente andererseits. Wer mochte, fand in den restaurierten Fassaden viel zu entdecken.

Die Staatsanwaltschaft war in einem lang gestreckten Gebäude am Rande der Innenstadt untergebracht. Er fand auf der Fläche zwischen dem mit viel Glas gestalteten modern wirkenden Haus und den neuen Wohnblocks, die an Würfel erinnerten, einen Parkplatz. Dahinter lag das Bundesarbeitsgericht.

Schwieriger erwies sich der Zugang zum Gebäude. Am Empfang wurde er aufgehalten. Auch sein Dienstausweis half ihm nicht weiter. Der Justizwachtmeister hinter der dicken Glasscheibe bemühte sein Telefon und fragte nach, ob »ein Lüders vorgeladen sei«. Das Vorzimmer hatte keinen Termin eingetragen, und der Herr Oberstaatsanwalt war derzeit nicht zu sprechen.

»Ich komme extra aus Kiel hierher«, erklärte Lüder.

»Mag sein, aber ohne Termin … Unmöglich.« Lüder achtete auf die Feinheiten. Man sagte nicht einmal, dass es ihnen leidtun würde.

»Schön«, sagte Lüder dem Mann hinter der Glasscheibe. »Dann möchte ich gern mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt sprechen.«

Der Mann erschrak. »Das ist der Amtsleiter.«

»Ich weiß. Deshalb.«

Der Mann bemühte noch einmal sein Telefon. Schließlich nickte er und sagte, dass es nun doch möglich sei, und erklärte Lüder den Weg. Lüder musste sich nicht einmal einer Kontrolle unterziehen. Wie hätte der Wachtmeister reagiert, wenn er Lüders Dienstwaffe, die Walther P99Q, entdeckt hätte?

Der Zugang zum Oberstaatsanwalt führte durch das Vorzimmer, das von einer verbittert aussehenden Rothaarigen verteidigt wurde.

»Sind Sie der aus Kiel?«, fragte sie statt einer Begrüßung.

»Ich bin der«, bestätigte Lüder und zeigte auf eine angelehnte Verbindungstür. »Ist er da drinnen?«

Der Rothaarigen stockte der Atem. »Der Herr Oberstaatsanwalt erwartet Sie«, verkündete sie, öffnete die Tür ganz und sagte: »Der Mann aus Kiel ist da.«

Lüder schlängelte sich an ihr vorbei und fand sich in einem zweckmäßig eingerichteten Büro wieder. Hätten dort nicht die für die Justiz typischen Aktendeckel gelegen, hätte es auch der Arbeitsplatz eines Buchhalters sein können.

Knüppel sah auf, blieb aber an seinem Schreibtisch sitzen. Der Mann hatte schüttere dunkle Haare, die von grauen Strähnen durchzogen waren. Im schmalen Gesicht zogen sich zwei Ulkusfalten beiderseits der Nasenflügel um die Mundwinkel herum in Richtung des Unterkiefers. In Verbindung mit dem grauen Gesicht konnte man daraus auf eine etwaige Herz-Lungen-Erkrankung schließen.

Der Oberstaatsanwalt machte keine Anstalten, Lüder einen Platz anzubieten. Lüder nahm ungefragt Platz, schob den Besucherstuhl ein Stück zurück und schlug die Beine übereinander. Da Knüppel auf jede Begrüßung verzichtete, folgte er seinem Beispiel.

»Wir haben miteinander telefoniert.«

Knüppel holte tief Luft. Hier war er die Autorität und bestimmte den Gesprächsverlauf.

»Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich nehme an, niemand wird zu Ihnen vorgelassen, dessen Identität Sie nicht kennen. Wollen Sie weiterhin mauern bei der Aufklärung eines Attentats, das über die Grenzen Schleswig-Holsteins hinaus Aufsehen erregt hat?«

»Uns liegt kein Amtshilfeersuchen vor.« Knüppel sprach abgehackt. Seine Worte kamen messerscharf. Ihm war die Erfahrung aus vielen Gerichtsverfahren anzumerken.

»Das Opfer des Attentats war lange Jahre als Staatsanwalt in Ihrem Hause tätig.«

»Nichts weist auf einen Zusammenhang zwischen Hollsteins früherem Betätigungsfeld und der Bluttat von Büsum hin. Bernd Hollstein ist ein Zufallsopfer. Was wollen Sie konstruieren?« Knüppel hatte die dunkle Brille abgenommen und schwenkte sie am Bügel vor sich hin und her.

»Ich weiß nicht, wie Sie arbeiten. Aber bei uns in Kiel wird nichts konstruiert. Wir orientieren uns nur an Fakten.«

»Und welche liegen Ihnen vor?«

»Die Tatausführung – das Vorgehen der Täter – Hollsteins nebulöse Lebensweise.«

Knüppel lachte auf. Es klang arrogant, herablassend.

»Das ist nichts. Welche Verbindung soll es zu einer Tat geben, die Sie in Schleswig-Holstein im Vorfeld nicht erkannt haben?« Sein Zeigefinger stach in Lüders Richtung. »Das müssen Sie vertreten. Wer steckt hinter dieser abstrusen Idee? Sind Sie der Leiter der Ermittlungsgruppe? Welche Dienststellung bekleiden Sie noch mal?«

»Darüber sprachen wir schon.« Lüder ging auf diese Provokation nicht ein. »Unsere Landesregierung nimmt regen Anteil an diesem Fall. Ich bin mir sicher, dass es auch auf politischer Ebene einen Austausch gibt. Nicht nur auf der Arbeitsebene wie zwischen uns.«

Nur dem geschulten Beobachter war das kurze Flackern von Knüppels Augenlid aufgefallen.

»Ich bin der falsche Adressat für Ihre Fragen. Hollstein ist seit zwei Jahren pensioniert. Zuvor war er mit Betrugssachen betraut.«

Lüder zog eine Augenbraue in die Höhe. »So? Dahin wurde er abgeschoben. Zuvor war er in Ihrem Sachgebiet tätig. Weshalb haben Sie ihn aus Ihrem Verantwortungsbereich entfernen lassen?«

»Hüten Sie sich vor solchen Unterstellungen. Ich werde Ihnen keine Auskünfte über personelle Angelegenheiten erteilen. Woher haben Sie diese unhaltbare Vermutung?«

Lüder schwieg und ließ ein angedeutetes Grinsen sehen.

»Ah«, kam Knüppel selbst auf die Idee. »Da hat jemand von der Kieler Staatsanwaltschaft angerufen. Tanner oder so.« Er sprach das a kurz aus.

»Taner«, korrigierte ihn Lüder.

»Merkwürdiger Name. Woher stammt der?«

»Staatsanwalt Taner hat türkische Vorfahren.«

»Und der ist Staatsanwalt?«, entfuhr es Knüppel. Er zuckte mit den Schultern. »Wenn das so ist.«

»Mit welchen Verfahren war Bernd Hollstein betraut?«

»Das führt jetzt zu weit. Außerdem ist es vier Jahre her, dass er unter meiner Personalverantwortung stand.«

»Dann werde ich das Gespräch mit Hollsteins letztem Vorgesetzten suchen.«

»Das können Sie sich sparen. Hollstein hat nur noch Nickeligkeiten bearbeitet. Das macht sonst der Amtsanwalt.«

»Also kleine, unbedeutende Straftaten. Diebstahl. Betrug. Verkehrssachen.« Lüder legte seinen Zeigefinger gegen die Nasenspitze. »Weshalb ist ein qualifizierter Jurist mit langjähriger Erfahrung wie Hollstein nie Oberstaatsanwalt geworden?« Lüder unterdrückte einen Seufzer. Vermutlich aus dem gleichen Grund, aus dem ich immer noch Kriminalrat bin.

»Sie stellen Fragen, die zu beantworten gegen die Fürsorgepflicht verstoßen würde.«

»Hollstein schlecht zu behandeln ist aber kein Kavaliersdelikt.«

Knüppel kniff die Augen zusammen. »Gehen Sie. Es ist alles gesagt.«

»Das sehe ich nicht.«

»Phantasieren Sie an anderer Stelle. Hier gibt es nichts, was Sie weiterführen könnte.«

»Überlassen Sie die Beurteilung mir.«

Knüppel bewegte seinen Zeigefinger in einer Art Drohgebärde hin und her. »Sie maßen sich zu viel an. Herr des Ermittlungsverfahrens ist die Staatsanwaltschaft. Sie sind nur deren Erfüllungsgehilfe.«

Sein Gegenüber hatte den Sachverhalt drastisch formuliert. Die Staatsanwaltschaft war ein Organ der Strafrechtspflege und eine staatliche Ermittlungs- und Anklagebehörde in Strafsachen. Der Staatsanwalt war aber im Unterschied zum Richter nicht unabhängig, sondern Beamter und damit gegenüber Dienstvorgesetzten weisungsgebunden. Hatte Hollstein Probleme mit seinen Vorgesetzten gehabt und war deshalb auf eine eher unbedeutende Position abgeschoben worden? Lüder war es lange Zeit ähnlich ergangen, und Dr. Starke hatte zahlreiche Versuche unternommen, ihn ins Abseits zu drängen. Solange ein Beamter sich nichts zuschulden kommen ließ, konnte er nicht aus dem Dienst entlassen, ihm aber durch Mobbing das Leben schwer gemacht werden. Der Kollegin Frauke Dobermann vom LKA Hannover war auch so etwas widerfahren.

Den Staatsanwalt interessierte bei seinen Ermittlungen allein die Frage, ob ein Verhalten strafbar war. Falls er zu dieser Überzeugung kam, oblagen ihm die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten und die Strafvollstreckung. Hatte es hier unterschiedliche Ansichten gegenüber den Vorgesetzten gegeben?

Knüppel stand nicht auf, er zeigte nur auf die Tür.

»Das ist keine freundliche Bitte, sondern eine Aufforderung«, sagte er.

»Wir sehen uns wieder«, antwortete Lüder und grinste sein Gegenüber an. Hocherhobenen Hauptes passierte er wortlos das Vorzimmer. Am Empfang fragte er nach dem Weg zum Landgericht.

»Ganz einfach. Wenn Sie rauskommen, gehen Sie rechts runter. Dann links. Wieder rechts. Im Prinzip immer unterhalb des Petersbergs entlang bis zum Domplatz. Da finden Sie das Landgericht.«

Die Türme des Erfurter Mariendoms und der direkt daneben liegenden St.-Severi-Kirche wiesen ihm den Weg. Weshalb hat man zwei große katholische Kirchen direkt nebeneinander gebaut?, überlegte Lüder unterwegs. Beide wirkten gewaltig. Der Dom hatte eine sonderbare Form. Es schien, als hätte man an ein großes Gotteshaus ein zweites angebaut. Von außen waren es für Lüder zwei unterschiedliche Baustile, die sich in der Kathedralkirche vereinten.

Das Landgericht befand sich in einem repräsentativen Gebäude am Domplatz. Der neugotische Stil erinnerte Lüder an ein altes College in Oxford. Der Empfang erwies sich als zugänglicher als in der Staatsanwaltschaft. Die Frau dort bemühte sich, seinen Wunsch um ein Gespräch mit dem Präsidenten oder seinem Vertreter zu erfüllen. Sie bedauerte nach mehreren Telefonaten, dass der Präsident nicht im Hause sei und der Vizepräsident gerade eine Verhandlung habe. Er möge sich aber einen Moment gedulden. Es komme gleich jemand. Dann erschien eine ältere Frau, die sich suchend umsah. Sie steuerte Lüder an, als die Frau am Empfang in seine Richtung zeigte.

»Wehmeyer«, stellte sie sich vor. »Ich bin das Vorzimmer der beiden Herren. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Lüder lächelte in sich hinein. »Ich bin das Vorzimmer«. Sie hatte damit unmissverständlich ihre Position beschrieben.

»Lüders. Landeskriminalamt Schleswig-Holstein. Ich ermittle im Fall des Anschlags in Büsum.«

Frau Wehmeyer hatte davon gehört. »Tragisch«, sagte sie. »Und eines der Opfer kommt aus Erfurt.«

»Sie wissen um die Hintergründe?«

Sie nickte bedächtig. »Das Ereignis wurde überall im Fernsehen und den Zeitungen behandelt. In der Thüringer Allgemeinen stand, dass es sich bei dem Opfer um den pensionierten Erfurter Staatsanwalt H. handeln würde, der erst vor Kurzem dorthin gezogen ist. Jeder hier im Gericht wusste sofort, wer gemeint ist. Durch seine langjährige Tätigkeit in Erfurt ist er kein Unbekannter.«

»Über die Tätigkeit würde ich gern mehr erfahren. Was hat er genau gemacht?«

Frau Wehmeyer zuckte mit den Schultern. »Da bin ich nicht die richtige Ansprechpartnerin. Abgesehen davon dürfte ich Ihnen auch keine Auskünfte geben.«

»Wer könnte mir weiterhelfen?«

»Tja …« Sie spitzte die Lippen. »Ich mache wohl nichts verkehrt, wenn ich sage, dass Herr Hollstein früher mit vielen Verfahren betraut war, die vor der Ersten Strafkammer verhandelt wurden. Das sind die Schwurgerichtssachen.«

»Sie sagten, früher

»Herr Hollstein ist schon seit ein paar Jahren …«

»Zwei«, warf Lüder ein.

»… pensioniert. Zuletzt hat er in seiner aktiven Zeit kleinere Sachen bearbeitet. Aber zuvor, wie gesagt, hat er oft Anklagen vor der Ersten Strafkammer vertreten.«

»Was waren das für Fälle?«

»Darüber kann und möchte ich mich nicht auslassen«, sagte Frau Wehmeyer. »Haben Sie dafür bitte Verständnis. Vielleicht sprechen Sie mit der Vorsitzenden Richterin der Kammer. Ich glaube, die kann Ihnen am ehesten weiterhelfen.«

»Wer ist das?«

»Frau Susewind.« Ein Lächeln erschien auf ihren Wangen. »Die heißt wirklich so.«

»Susewind«, wiederholte Lüder.

Den Namen hatte er schon einmal gehört. Der Vizepräsident des Itzehoer Landgerichts hatte ihn erwähnt. Die Juristin stammte ebenfalls aus Dithmarschen und war etwa zur selben Zeit wie Hollstein nach der Wende nach Thüringen gegangen, um dort beim Aufbau des Rechtssystems behilflich zu sein.

»Ist Frau Susewind zu sprechen?«

»Die hat seit heute Urlaub.«

»Ad hoc, oder ist der länger geplant?«

»Eigentlich sollte ich darüber nicht sprechen«, sagte Frau Wehmeyer leise. »Aber der Wunsch kam sehr plötzlich. Am Freitag. Es hat uns auch vor einige Probleme gestellt, aber der Präsident hat ihm entsprochen.«

»Gibt es eine Verbindung zum Attentat an der Nordseeküste?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten.«

»Haben Sie Kontaktdaten von Frau Susewind? Adresse? Telefonnummer?«

»Auch in diesem Punkt kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Solche Daten geben wir grundsätzlich nicht heraus.«

»Ich bin von der Polizei«, entgegnete Lüder.

»Dann werden Sie Ihre eigenen Möglichkeiten haben.« Es klang entschieden, aber nicht unfreundlich.

Lüder bedankte sich. Frau Wehmeyer hatte ihm weitergeholfen.

Lüder war seit dem frühen Morgen unterwegs und hatte das Verlangen, ein Café aufzusuchen. Er entschied sich für das zweite, das er entdeckte, auf der gegenüberliegenden Seite des Domplatzes. Zahlreiche Besucher, die sich auf dem granitgepflasterten Außenbereich niedergelassen hatten, sprachen für das Lokal. Der Kaffee und ein Stück aus der reichhaltigen Tortenauswahl waren eine willkommene Stärkung.

Seine Recherche in Sachen Susewind war erfolglos. Er stieß gelegentlich auf den Namen der Richterin, aber es waren nur Überschriften. Die Artikel dahinter blieben verborgen. Erwartungsgemäß fand sich auch keine Anschrift oder Telefonnummer im Netz. Nach seinen bisherigen Erfahrungen in Thüringen würde ihm die örtliche Polizei kaum behilflich sein. Den Fragen auf seiner Dienststelle wollte er gern entgehen. Lüder rief in Husum an.

»Moin, Wilderich.«

Am anderen Ende der Leitung entstand ein kurzes Zögern. »Herr Dr. Lüders?« Der Name war zur Frage hochgezogen worden.

»Persönlich und lebendig. Ich melde mich live aus Erfurt.«

»Soll eine schöne Stadt sein. Sicher treibt Sie nicht die touristische Neugierde nach Thüringen.«

»Neugierde schon.«

»Kann ich mir denken«, erwiderte Große Jäger. »Der Tote aus Büsum stammt von dort. Hätte mich auch gewundert, wenn Sie dort nicht aufgetaucht wären.«

Lüder erklärte, dass er Kontaktdaten von Claudia Susewind aus Erfurt benötige.

»Susewind? Habe ich etwas versäumt? Bei uns ist weder der 1. April noch Karneval.«

»Die stammt ursprünglich aus Dithmarschen.«

»Ach so. Das erklärt alles. Moment.« Lüder hörte, wie Große Jäger mit einer dritten Person sprach – vermutlich Cornilsen. Dann fragte er, wie es Margit und den Kindern ging. Nach dem kurzen Ausflug ins Private hatte er die Informationen vorliegen.

»Frau Sausewind …«

»Susewind«, korrigierte ihn Lüder.

»Also die windschnittige Claudia wohnt in der Theo-Neubauer-Straße in Erfurt, ist ledig. Einen Festnetzanschluss gibt es nicht, aber folgende Mobilnummer.« Es folgten die Ziffern. »Sie hat auch ein Auto. Auf sie ist ein roter VW Golf mit dem Kennzeichen EF …«

»Augenblick«, warf Lüder ein. »Nicht so schnell.«

»Das unterscheidet die Jugend von den alten Kämpen. Christoph konnte noch Steno. Der Nachwuchs kann nur noch tippen. Nicht wahr, Hosenmatz?« Aus dem Hintergrund war ein Murmeln zu vernehmen. »Wir haben aber noch etwas. Ich schalte einmal auf laut.«

»Herr Dr. Lüders? Hier Cornilsen. Ich weiß nicht, ob das von Bedeutung ist, aber der Erste Senat …«

»Sie meinen die Erste Strafkammer. Senate heißen die Spruchkörper bei Oberlandesgerichten und Bundesgerichten.«

»Von mir aus. Also die Kammer, an der Frau Susewind Vorsitzende Richterin ist, ist öfter bei Verfahren gegen straffällig Gewordene nichtdeutscher Herkunft tätig gewesen.«

»Haben Sie Hinweise auf Nationalitäten?«

»Wir sind ja unter uns. Ich möchte nicht, dass es politisch klingt. Es handelt sich um schwere Angriffe gegen Leib und Leben, Mord und Vergewaltigung. Aber auch Herbeiführen eines Sprengstoffanschlags und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.«

»Das sind die ganz harten Sachen.«

»Ja, aber es handelt sich offenbar nicht um eine politische Strafkammer. Denn es gibt auch Urteile gegen deutsche Staatsbürger. Ganz Schlaue fragen jetzt nach den Namen der Verurteilten. Die sind urdeutsch.«

»Also Rechts- und Linksextremisten.«

»So würde ich das nennen.«

Lüder zögerte einen Moment. »Ich denke einmal laut und unsortiert«, sagte er. »Hollstein fällt einem terroristischen Anschlag zum Opfer. Das sieht wie ein Zufall aus. Der Tathergang ist aber recht sonderbar. Sind die anderen Opfer Kollateralschäden? Hat man sie nur verletzt, um ebendiesen Eindruck zu erwecken? Das wäre der Versuch, uns komplett in die Irre zu leiten.«

»Hollstein hat aufseiten der Staatsanwaltschaft die Ermittlungsverfahren gegen diese Tätergruppen betrieben. Dabei ist er so gründlich vorgegangen, dass die Kammer unter Frau Susewind entsprechende Urteile verhängen konnte. Hat man jetzt Rache an ihm genommen?«

»Da wäre ich mir nicht sicher«, mischte sich Große Jäger ein. »Wenn es Islamisten waren, wäre es doch in deren Interesse, die Tat groß herauszustellen.«

»Richtig, zu Propagandazwecken. Außerdem könnte man es als versuchte Abschreckung für andere Richter, Staatsanwälte oder Polizisten verstehen. Seht! Wer gegen uns ist, riskiert seine Gesundheit und sein Leben. Ein Bekennerschreiben einer Terrororganisation liegt vor. Aber nirgendwo taucht bisher der Name Hollstein auf.«

»Wenn wir Ihnen weiter behilflich sein können … Jederzeit gern«, schloss Große Jäger.

Lüders Blick glitt in unbestimmte Ferne. Schwieg Knüppel aus Angst? Seine Gesundheit schien angegriffen zu sein. Lüder nahm sich vor, die Thüringer Polizei aufzusuchen. Dort musste man Unterlagen aus den damaligen Ermittlungen vorliegen haben.

Lüder kehrte zu seinem Fahrzeug zurück und gab Hollsteins letzte Erfurter Adresse ins Navi ein. Es war eine kurze Fahrt bis zum Juri-Gagarin-Ring. Lüder sah sich irritiert um. War er in dieser Plattenbausiedlung richtig? Wie ein gewaltiger Sperrriegel zog sich der lang gestreckte Hochhausblock in L-Form. Das einzeln stehende Hochhaus mit den fünfzehn Etagen auf der Rückseite wirkte dagegen fast schon grazil. In der Nähe gab es einen weiteren »Hochhausriegel« und mehrere einzeln stehende, in den Himmel ragende Wohntürme älterer Bauart. Auch das Radisson Hotel an der Straßenkreuzung schien wie eine junge Fichte Richtung Wolken zu streben. Die Lage war citynah. Na schön. Aber … Lüder hatte sich über die spartanische Ausstattung der Unterkunft in Büsum gewundert. Mit einer Prise Sarkasmus konnte man behaupten, dass Hollstein sich damit jedoch deutlich verbessert hatte.

Es war schwierig, jemanden zu finden, der mit ihm über den ehemaligen Nachbarn sprechen wollte. Entweder gab man vor, Hollstein nicht gekannt, wenn man nicht sogar behauptete, den Namen noch nie gehört zu haben. Wie groß war die Fluktuation in diesem Wohnblock?

Zwei Mieter behaupteten, sie wären erst vor Kurzem eingezogen. Herr Sachse, das verriet ihm das Namensschild an der Tür, konnte schließlich ein paar Auskünfte geben. Lüder unterließ es, eine ironische Bemerkung fallen zu lassen und zu fragen, was einen »Sachsen« nach Thüringen verschlagen hatte. Der Mittvierziger stand ihm im Unterhemd gegenüber und ermahnte seinen unsichtbaren Nachwuchs im Wohnungsinneren vergeblich, den Lautsprecher des Computers, aus dem bis in den Hausflur Ballergeräusche drangen, etwas leiser zu drehen.

»Hollstein? Doch. Das sagt mir etwas. Die Mieter wechseln hier oft. Aber er hat hier längere Zeit gewohnt, genau wie wir. Wir fühlen uns hier wohl. Man kann alles zu Fuß erreichen. Und die Wohnungen sind auch alle renoviert worden. Äh … Hollstein? Der hat schräg über uns gewohnt. Plötzlich war er verschwunden. Der ist quasi über Nacht ausgezogen. Keiner weiß, wohin. War plötzlich weg. Der … äh, Hollstein … hat nicht viel gesagt. Gut, er war immer freundlich und hat gegrüßt. Guten Tag und guten Weg. Das war schon alles. Mal was von sich erzählt … Also. Das hat er nie. Wenn man mit so vielen Leuten relativ eng zusammenwohnt, wechselt man schon mal ein paar Worte. Aber der … äh, Hollstein …« Sachse rückte ein wenig dichter an Lüder heran. »Der soll ein hohes Tier bei Gericht gewesen sein. Kann man sich aber nicht vorstellen. Solche Leute wohnen doch draußen in der Brühlervorstadt oder in der Cyriaksiedlung. Familie hatte der äh, Hollstein ja nicht. Keine Frau und keine Kinder. Sonst hätte der sicher irgendwo ein Haus mit großem Garten gehabt. So etwas, von dem unsereins nur träumen kann. Aber vielleicht war er gar kein hohes Tier, sondern nur so ein kleines Licht auf dem Gericht.« Sachse seufzte. »Damit wäre ich schon zufrieden. Aber uns will ja keiner mehr. Die Fabriken sind in den Osten und die Leute in den Westen abgewandert.«

»Hat man in der Nachbarschaft noch etwas über Herrn Hollstein erzählt?«

Sachse wiegte den Kopf. »Genaues wusste ja niemand. Irgendeiner hat mal gemeint, der war früher irgendetwas beim Ministerium für Staatssicherheit. Und als unsere DDR dann von den Wessis übernommen wurde, hat man ihn ins Abseits befördert, weil er seine eigenen Leute bespitzelt hat. Man kennt es ja – solche Typen fallen nicht tief, sondern immer wieder auf ein weiches Kissen.« Sachse stutzte. »Sagen Sie mal … Weshalb interessieren Sie sich überhaupt so für … äh, Hollstein?«

»Ich bin ein alter Freund von ihm«, behauptete Lüder. »Leider habe ich die neue Adresse nicht.«

»So! Ein Freund. Von früher? Auch aus so einer Seilschaft?«

»Wir haben uns erst nach der Wende kennengelernt.«

Sachse ging demonstrativ einen Schritt zurück. »Ach so«, sagte er und musterte Lüder vom Scheitel bis zur Sohle. »Sind Sie auch einer?«

»Von der Stasi?«

»Nein. Das nicht. Aber irgendjemand hat gesagt, Hollstein sei … sei … na! Nicht normal. Er hatte nie Besuch. Keine Frau und so.«

»Sie meinen, er war homosexuell?«

Sachse winkte ab. »So ist das nicht gemeint. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden. Aber mein Ding ist das nicht.« Erneut unterzog er Lüder einer kritischen Musterung. Sein Blick blieb an der rechten Hand haften. Ein Erkennen blitzte in Sachses Augen auf. Logisch. Lüder war schwul. Er trug keinen Ehering. Plötzlich hatte der Nachbar es eilig. »Viel Erfolg bei der Suche«, sagte er und schlug die Tür vor Lüders Nase zu.

War das ein Gerücht, das jemand in die Welt gesetzt hatte? Oder war Hollstein tatsächlich homosexuell? Sie hatten bisher keinen Hinweis auf einen Freundeskreis des pensionierten Staatsanwalts gefunden. In seiner Funktion hätte Hollstein Vorsicht walten lassen müssen. Deshalb hatte Lüder vielleicht noch keine Spur finden können, die zu Hollsteins Privatleben führte. Und zu seinem beruflichen Wirken auch nicht. Welches Geheimnis rankte sich um das Büsumer Attentatsopfer?

Nach der Rückkehr in den Windschatten des Wohnblocks wählte Lüder die Mobilnummer von Claudia Susewind an. Niemand nahm ab. Er ließ es klingeln, bis das System die Verbindung beendete. Eine Mobilbox wurde nicht angesteuert, auf der er eine Nachricht hätte hinterlassen können.

Die Richterin wohnte in der Krämpfervorstadt, einer der historischen Vorstädte Erfurts. Die Theo-Neubauer-Straße wurde von großen Mietshäusern aus der Gründerzeit gesäumt. Gegenüber befand sich eine düster wirkende Fabrikanlage aus dunklem Ziegelwerk. Die Wohngegend wirkte ruhig und bürgerlich. Das lag sicher auch am Flutgraben, einem Wasserlauf, der Erfurts Altstadt fast umschloss, und an dem ihn begleitenden Grüngürtel. Jenseits des Grünstreifens ragten die Wohnungetüme in den Himmel, in denen Hollstein seine Unterkunft gefunden hatte. Der Flutgraben trennt nicht nur die Stadtteile, dachte Lüder. Dieses Quartier kam ihm wie eine andere Welt vor.

Auf sein Klingeln erfolgte keine Reaktion. Eine Nachbarin wusste aber zu berichten, dass Frau Susewind am Wochenende ihr Auto – »ja, es ist der rote Golf« – beladen hatte. »Ich nehme an, sie ist in Urlaub gefahren.« Wie lange? Wohin? Man wechselte ein paar Worte, wenn man sich auf der Straße traf. Die Frau wurde misstrauisch, als Lüder nach weiteren Lebensumständen fragte.

»Weshalb interessieren Sie sich dafür? Das kommt mir komisch vor. Ich glaube, ich sollte die Polizei rufen.«

»Ich bin von der Polizei.«

»Soooo?«

Lüder zeigte ihr seinen Dienstausweis, den sie aufmerksam studierte.

»Das ist gar keine richtige Polizei«, stellte sie fest. »Sie sind ja von drüben. Nein. Da könnte ja jeder kommen.« Sie verschwand schnurstracks in den Hauseingang.

Lüder schlenderte ein Stück die Straße hinunter. Er mochte etwa fünf Minuten gegangen sein, als ein Opel-Zafira-Streifenwagen in blau-silberner Farbgebung langsam vorbeirollte und ihn bemerkte. Der Wagen hielt an, der Fahrer schaltete die Warnblinkanlage ein, und zwei Beamte stiegen aus. Sie kamen auf Lüder zu und stellten sich versetzt zueinander auf. Einer blieb außer Reichweite stehen, tippte sich an den Mützenschirm und sagte: »Guten Tag. Dürfen wir einmal Ihre Papiere sehen?«

»Gibt es einen Grund dafür?«

»Eine Anwohnerin hat uns informiert. Ihren Ausweis. Bitte!«, setzte der Beamte hinzu.

Lüder zog seinen Dienstausweis hervor und reichte ihn dem Polizisten, während dessen Kollege ihn fast argwöhnisch beobachtete.

Der Polizeihauptmeister studierte das Dokument. Dann sah er Lüder an, ohne den Ausweis zurückzugeben.

»Landeskriminalamt Schleswig-Holstein. Aus …« Er sah erneut auf den Ausweis.

»Kiel«, half Lüder aus.

»Kiel«, wiederholte der Polizist. »Darf ich fragen, was Sie nach Erfurt führt?«

»Ermittlungen.«

»Ermittlungen? Hier? Polizei ist Ländersache. Und Kiel ist weit weg. Schleswig-Holstein liegt nicht in unserer Nachbarschaft.«

»Das Verbrechen macht nicht an der Landesgrenze halt.«

»Wird in solchen Fällen nicht die örtlich zuständige Polizei um Amtshilfe gebeten? Die kennt sich nicht nur aus, sondern erschreckt auch nicht die Bürger.«

»Hat die Anwohnerin einen konkreten Anlass zur Klage geäußert?«

»Eine gesunde Skepsis ist immer gut. Es wäre hilfreich, wenn Sie sich an diesen Gepflogenheiten orientieren würden. Falls Sie Hilfe benötigen, sollten Sie sich an eine unserer Dienststellen wenden, Herr …« Er sah erneut auf den Dienstausweis. »Doktor?« Der Beamte zögerte einen Moment, als müsse er diesen Teil des Namens einordnen. »… Lüders«, setzte er fort, gab den Ausweis zurück und sagte: »Auf Wiedersehen.« Es klang von der Tonlage her eher wie: »Du solltest besser gehen.«

Die Ermittlungen in Thüringen verliefen zäher, als er es sich vorgestellt hatte. Dass die Nachbarn nichts über Hollstein sagen konnten, überraschte ihn nicht. Wenn Fakten unbekannt bleiben, wird oft etwas erfunden. War die unterschwellige Andeutung, Hollstein sei homosexuell gewesen, doch wahr? Radikale Islamisten sahen in einer solchen sexuellen Neigung einen Grund zur Bestrafung. Musste Lüder in dieser Richtung suchen? Es würde ihn weiterführen, träfe er einen Gesprächspartner, der ihm etwas mehr über Bernd Hollstein berichten könnte. Was war an dem Mann so geheimnisvoll?

Nun musste er sich erst einmal eine Unterkunft suchen. Lüder bemühte hierzu das Internet und suchte das gemütliche Hotel auf, das seinen Namen »Altstadtperle« zu Recht trug. Es lag ruhig, aber nur wenige Schritte von der Innenstadt entfernt. Für seinen Pkw gab es eine Abstellmöglichkeit im Innenhof. Am Ende der urigen Straße befanden sich nicht nur einige der Attraktionen Erfurts, sondern auch rustikale Restaurants. Das »Christoffel« erwies sich als eine einer mittelalterlichen Herberge nachempfundene Gaststätte mit rustikalem Ambiente, Kellergewölbe und Ritterrüstung, wo die Preise nicht in Euro, sondern in Talern ausgeschrieben waren. Hinter dem Rittertopf mit Feuerfleisch verbarg sich eine mit deftigem Gulasch gefüllte Brotterrine. Das Lokal war eine Empfehlung.

Nach dem Essen beschloss er, noch ein wenig durch Erfurt spazieren zu gehen.

Es waren nicht mehr viele Passanten unterwegs. Wie viele Innenstädte wirkte auch Erfurts City leer und fast ausgestorben. Am Fischmarkt stand das neugotische Rathaus. Auf dem Platz davor thronte auf einer Säule ein römischer Krieger. Der Platz wurde seitlich von einigen bemerkenswerten Patrizierhäusern aus der Renaissance begrenzt.

Schon von Weitem bemerkte er die kleine Gruppe, in der sich eine Auseinandersetzung anzubahnen schien. Er war etwa zweihundert Meter entfernt, als sich ein junger Mann daraus löste und davonrannte. Er kam auf Lüder zu, bog aber in eine schmale Seitengasse ab. Zwei andere verfolgten ihn. Dabei stießen sie laute Rufe aus. »Türkensau! Türkensau!«, glaubte Lüder zu verstehen. Zwischen ihm und den Kontrahenten befand sich ein Paar, das bei den ersten Anzeichen der Konfrontation abrupt die Richtung änderte, auswich und sich beeilte, den Ort zu verlassen.

Lüder setzte zum Sprint an und lief in die enge und schmutzige Gasse. Der Mann musste sich in einen türkischen Imbiss geflüchtet haben, der in einer Nebenstraße lag und den seine Verfolger gerade erreichten.

»Komm raus, du feige Sau«, brüllte einer der Männer. Beide waren in Lederjacken gekleidet. Die Schädel waren millimeterkurz geschoren. Auf dem Hals und den Handrücken zeichneten sich Tattoos ab. Der Kleinere schmückte sich mit einem Nasenpiercing. Ringe, die die Ohrläppchen erweiterten, trugen beide.

»Du bist fällig. Du wirst morgen abgeschoben. Aber in einem Sarg.«

»Schon Karl May hat gesagt: ›Nur ein toter Türke ist ein guter Türke‹«, schob der Zweite hinterher.

Lüder blieb in drei Metern Abstand stehen. »Was geht hier vor?«, fragte er, noch ein wenig außer Atem.

Einer der Typen sah ihn an und verzog spöttisch die Mundwinkel. »Was geht dich das an, Opa. Verpiss dich. Alles andere ist ungesund.«

»Macht, dass ihr euch verzieht. Sonst gibt es Stress.«

»Haben sie dir ins Gehirn geschissen? Bist du lebensmüde?« Der Mann zeigte auf den Imbiss, über dessen Fensterfront in großen Buchstaben »Mersin-Grill« stand. »Das sind Kaffer. Die sollen abhauen. Das ist alles.«

»Ihr verschwindet, aber dalli.«

»Der Opa will Stress«, sagte der Kleine und bewegte sich auf Lüder zu. »Seine Alte hat ihn wohl lange nicht mehr gefickt.«

»Dann fick du ihn, Helle. Zerleg ihn. Dann schieben wir ihn seiner Alten unterm Türschlitz durch.«

»Helle« kam auf Lüder zu. Ein breites Grinsen beherrschte sein Gesicht. Er fletschte die Lippen, sodass sein sanierungsbedürftiges Gebiss zu sehen war.

Lüder wollte kein Risiko eingehen. Bevor Helle einen tätlichen Angriff starten konnte, machte Lüder einen Ausfallschritt nach vorn, krallte sich mit einer Hand an Helles Revers fest, packte die andere Hand in den Nacken und riss ihn in einer Drehung über das ausgestreckte Bein zu Boden. Mit einem klatschenden Geräusch landete Helle auf dem Pflaster. Im Fallen hatte Lüder nach dem Arm gegriffen und drehte ihn jetzt so weit auf den Rücken, dass es schmerzhaft war, aber keine bleibenden Verletzungen verursachte. Bei jedem Versuch einer Gegenwehr konnte er den Druck verstärken und im schlimmsten Fall den Arm auskugeln.

»Du verdammter Arsch«, fluchte Helle.

Lüder stellte wie ein römischer Gladiator seinen Fuß zwischen die Schulterblätter und drückte den Mann auf die Steine. Dabei behielt er den zweiten fest im Auge.

»Was ist, du Honk?«, fragte er in dessen Richtung. »Wenn du dich nur einen Schritt näherst, breche ich dir die Knochen. Jeden einzeln. Ist das klar?«

Ihn traf ein hasserfüllter Blick. Dem zweiten Mann war anzusehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

»Ich lass dir Zeit. Im Denken bist du nicht der Schnellste. Eins …«, begann Lüder zu zählen. Bei »zwei« drehte er ein wenig an Helles Arm. Der schrie auf. Das beeindruckte seinen Kumpan.

»Ist gut«, sagte der und hob zum Zeichen der Aufgabe beide Hände in die Höhe.

Lüder ließ Helle frei und trat zwei Schritte zurück. »Zieht Leine«, befahl er den beiden. »Wenn ich euch noch einmal in dieser Stadt sehe, ist es um eure Gesundheit schlecht bestellt.« Er hatte kurz überlegt, ob er die beiden Männer festnehmen und der Polizei übergeben sollte, sich aber dagegen entschieden.

Helle stemmte sich mühsam in die Höhe. »Dich mache ich kalt«, drohte er.

Lüder wusste, dass dieses dem Ego des Schlägers geschuldet war. Um zu demonstrieren, dass er sich durch solche Drohungen nicht beeindrucken ließ, machte er einen schnellen Schritt vorwärts und trat Helle so kräftig in den Hintern, dass der Mann einen Satz machte, sich mit rudernden Armen aber fangen konnte. An dieser Demütigung würde Helle lange zu knabbern haben. Langsam wollten die beiden den Weg zurück zum Domplatz einschlagen, aber Lüder streckte den Arm aus und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. »Da lang.«

»Warum?«, protestierte Helles Begleiter.

»Schnauze.«

Widerwillig trotteten die beiden betont langsam davon. Sie erinnerten Lüder an Fußballstars, die absolut nicht verstehen konnten, dass ihr Trainer sie während des Spiels vom Feld holte.

Lüder sah ihnen eine Weile hinterher, dann betrat er den Dönerladen, hinter dessen Scheiben drei Männer die Aktion aufmerksam beobachtet hatten.

»Moin«, sagte er betont gelassen und setzte ein »Tach« hinterher, nachdem er in ratlose Gesichter geblickt hatte. Er sah den Mann an, der sich in den Dönerladen geflüchtet hatte. »Was wollten die Typen von Ihnen?«

Der Verfolgte sah ihn an. Dann streckte er den rechten Mittelfinger in die Höhe. »Wer hat dich um Hilfe gebeten? Was mischst du dich da ein, Nazi?«

»Langsam, Volkan. Die anderen wollten dir ans Leder. Er da hat sich für dich eingesetzt«, mischte sich der Imbissbuden-Wirt ein. Lüder vermutete, dass es sich bei dem Mann mit der fleckigen weißen Jacke um diesen handelte.

»Habe ich ihn gefragt?«

»Er ist auf deiner Seite.«

»Du spinnst doch, du Spasti.« Volkan streckte den Zeigefinger raus und zeigte auf Lüder. »Sieh ihn dir doch an. Das ist ein Nazi.«

»Wie kommen Sie darauf?«, wollte Lüder wissen.

»Ihr seid doch alle Nazis. Es gibt erst Frieden, wenn ihr weg seid.«

Lüder lächelte. »Wohin?«

»Weg«, antwortete Volkan knapp.

Lüder wandte sich an den Imbissbetreiber. »Sie sind?«

»Mich nennen alle Mahmud.«

»Was wollten die Typen eben?«

»Das ist doch ganz normal. Alltag hier. Die Rechtsradikalen wollen die Stadt säubern, wie sie es nennen. Sie jagen die Ausländer. Darunter verstehen sie alle Menschen, die keine Biodeutschen sind. Sie kennen das doch aus Chemnitz, Freital, Heidenau und unserem Stadtteil Herrenberg. Die Neonazis wollen, dass Migranten und Asylbewerber Germanien verlassen.«

»Davon hört man allenthalben. Es gibt eine starke rechtsorientierte politische Bewegung in Thüringen. Eine Hochburg der Rechtsradikalen. Ja. Man hört auch von gelegentlichen Übergriffen gegen Ausländer.«

»Gelegentlich? Ha! So etwas wie vorhin ist hier alltäglich. Menschen mit anderem Aussehen sind Freiwild. Die werden gejagt wie die Hasen. Und wer sich erwischen lässt, kommt in der Regel nicht ungeschoren davon.«

»Wie erträgt man so etwas?«, fragte Lüder erstaunt.

»Man hofft auf bessere Zeiten«, erwiderte Mahmud.

Lüder sah sich um. Der Laden war klein. Es gab das typische Angebot, das man in einem Dönerladen erwartete. Döner in verschiedenen Darreichungsformen. Falafel. Lahmacun. Schafskäseröllchen. Und … Lüder staunte – Schaschlik.

Mahmud bemerkte seinen Blick.

»Schaschlik beim Türken?« Er lachte. »Ich muss irgendwie überleben. Und mit Schaschlik locke ich auch deutsche Kunden in den Laden. Ja. Mit Schweinefleisch.« Er zeigte auf eine unbestimmte Stelle unter dem Tresen. »Bei mir bekommt man auch Bier. Mögen Sie eins?«

Lüder lehnte dankend ab und vermied es, die Nase zu rümpfen. Es roch nach altem, abgestandenem Fett. Hier würde er nicht freiwillig essen wollen.

»Was ist, Mann?«, mischte sich Volkan ein und machte eine wedelnde Handbewegung. »Hau ab.«

»Ich gehe, wann ich es möchte. Klar?« Lüder unterlegte seine Worte mit einem drohenden Unterton. Dann wandte er sich Mahmud zu. »Weshalb bleiben Sie hier?«

»Ist das eine ernst gemeinte Frage?« Mahmud musterte Lüder lange, bevor er weitersprach. »Dies ist meine Heimat. Ich bin hier geboren. Zur Schule gegangen. Habe hier studiert.« Er lachte trocken auf, als er Lüders ungläubigen Blick bemerkte.

»Ich habe den Abschluss im Bachelor-Studiengang Staatswissenschaften – Sozialwissenschaften der Uni Erfurt. Mich interessierte die zunehmend globale Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Kultur, um das zu verstehen, was Sie eben live erlebt haben.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Das begreifen Sie auch nicht mit zwei Studien. Und einen Job bekommt man auch nicht. Nicht in der Kombination des Studienfachs und meines Namens. Niemand stellt einen Mahmud ein.« Er breitete die Hände aus. »So bekommen Sie bei mir türkische Spezialitäten. Nicht vom Feinsten, aber vom Bachelor.« Er sah Lüder über die Schulter. »Das habe ich befürchtet«, sagte er. »Jetzt geht’s los.«

»So ’ne Scheiße«, bestätigte Volkan. »Habe ich doch gesagt. Der Scheiß-Nazi hier hat uns das eingebrockt.«

Vor dem Dönerladen hatte sich eine Handvoll Rechtsradikaler eingefunden, unter ihnen Helle.

»Die haben Verstärkung geholt«, stellte Mahmud fest, verschwand hinter dem Tresen und tauchte mit einem Baseballschläger wieder auf.

»Packen Sie das weg«, sagte Lüder in barschem Ton.

»Um mein Leben nicht«, erwiderte Mahmud bestimmt.

Lüder ging zur Tür und trat hinaus. Er blieb auf der Eingangsstufe stehen.

»Haut ab, Leute«, sagte er zu den jungen Männern, die einen Halbkreis gebildet hatten.

»Das ist die linke Bazille, die Zecke«, schrie Helle.

Lüder fixierte ihn mit einem stechenden Blick. »Du Honk. Ich habe dir gesagt, du sollst hier nicht wieder auftauchen. Kannst du nicht hören?« Er sah in die Runde, als müsse er sich jeden Einzelnen anschauen und merken. »Hat der Feigling erzählt, dass er abgehauen ist?«

»Halt die Schnauze, du Kommunistenschwein«, rief ein stämmiger Glatzkopf. »Wenn du nur zu Brei geklopft wirst, hast du Glück gehabt. Bist du auch ein Ziegenficker wie der Schrott in der Dönerbude? Sollen wir dich totschlagen? Oder willst du in Mahmuds stinkender Hölle mit abgefackelt werden?«

Lüder war sich gewiss, dass die Männer kein zweites Mal kneifen würden. Es wäre ein Autoritätsverlust. Sie bezogen ihren Machtanspruch aus der Angst, die sie verbreiteten. Niemand würde sich dem freiwillig aussetzen. Deshalb waren die Passanten vorhin sofort abgebogen, als Volkan flüchtete und die beiden Schläger nachsetzten. Nichts hören. Nichts sehen. Nichts sagen. Das schien eine Art Überlebensstrategie zu sein. Lüder war nicht Bud Spencer, der es in Slapstick-Manier mit einer Vielzahl von Gegnern aufnahm. Auch wenn Mahmud zum Baseballschläger gegriffen hatte, konnte er von den Männern im Imbiss kaum Hilfe erwarten.

Kurz entschlossen griff er zum Holster und zog seine Waffe. Hörbar ließ er den Verschluss zurückfahren und nach vorn schnellen. Dann stellte er sich leicht breitbeinig hin, nahm die Waffe in beide Hände, winkelte die Arme an und ließ die Mündung kreisen. Nacheinander zielte er auf jeden der Männer. Nicht auf den Kopf, sondern auf die empfindliche Stelle zwischen den Beinen. Als er bei Helle angekommen war, riss er die Pistole ein kleines Stück in die Höhe, als würde sie vom Rückschlag hochgerissen werden. Dabei rief er laut: »Peng!« Lüder hatte trotz der angespannten Situation Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Die ganze Meute zuckte zusammen. Und Helle hatte versucht, seine beiden Hände schützend vor sein Gemächt zu legen.

»Helle, du bist viel zu langsam. Deine beiden Eier taugen nur noch für das Frühstücksomelett. Und im Kopf bist du auch nicht der Schnellste. Im Wilden Westen würde man dich Helle den Lahmen nennen.« Lüder winkte mit der Pistole. »Was ist? Trau dich. Du weißt, ich mache Ernst.«

»Los, Helle. Das wagt er nicht«, versuchte ihn ein anderer zu ermutigen.

Der Große in der Mitte streckte den Arm aus. »Du bist ein toter Mann«, drohte er. »Jetzt. Hier und heute.«

Lüder grunzte vernehmlich. »Bist du Häuptling Kahler Schädel? Hat der Friseur dir auch den Verstand abrasiert?«

Einer der Skinheads spuckte aus. Der glitschige Auswurf landete ein Stück vor Lüders Füßen. »Das reicht. Haut ihm was auf die Fresse.«

Lüder lachte auf und zielte auf die Stelle zwischen den Beinen des Aggressors. »Okay. Du bist die Nummer eins. Komm, fang an.«

»Wir reißen ihm den Arsch auf«, sagte der Mann, rührte sich aber keinen Zentimeter vom Fleck.

Aus den Augenwinkeln registrierte Lüder, wie der linke Seitenmann vorsichtig die Hand in seine Kutte gleiten ließ und millimeterweise ein Balisong, hierzulande als Butterflymesser bekannt, herauszog. Das Benutzen eines Butterflys erforderte viel Übung. Beherrschte es jemand, war es eine gefährliche Waffe. So weit durfte Lüder es nicht kommen lassen. Er richtete seine Pistole auf den Messermann und drückte ab. Jeder, der schon einmal mit einer Kurzwaffe geschossen hatte, wusste, dass das Zielen äußerst schwierig war. Wenn er traf, würde er sich verantworten müssen, auch wenn er nur den Arm des Mannes anvisierte. Er konnte sich immer köstlich amüsieren, wenn John Wayne aus der Hüfte heraus durch einen durch die Luft segelnden Silberdollar schoss.

Lüder drückte ab und hatte Glück. Das Geschoss musste den Mann am Ärmel der Kutte gestreift haben, ohne ihn zu verletzen.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Angreifer.

»Der Nächste sitzt«, sagte Lüder. »Und nun ab – aber im Dauerlauf.«

»Wer bist du?«, rief ihm einer zu.

»Der Nazijäger«, erwiderte Lüder. »Los. Galopp.«

Es war kein Laufen, aber die Gruppe machte sich auf den Weg Richtung Allerheiligenkirche und Domplatz.

Lüder atmete tief durch. Der Vorfall hätte auch anders enden können. Er fühlte sich lange nicht so souverän, wie es nach außen den Anschein gehabt hatte. Vom Handy aus wählte er den Polizeinotruf und gab den Zwischenfall durch.

»Wer war daran beteiligt?«, wollte der Mann auf der Leitstelle wissen.

»Ich und ein Gruppe Rechtsradikaler.«

»Gibt es Verletzte?«

»Nein. Aber es wurde geschossen.«

»Gut. Die Streife kommt.«

Es dauerte fünfundzwanzig Minuten, bis die Schutzpolizei eintraf. Obwohl Lüder gesagt hatte, dass geschossen worden war, erschienen zwei Beamte in aller Seelenruhe, als hätte jemand den Aufbruch eines Kaugummiautomaten gemeldet.

In der Zwischenzeit war Lüder mehrfach von Volkan verbal angegriffen worden. Der warf ihm vor, der ganzen Sache eine Bedeutung verliehen zu haben, die zur Eskalation geführt hatte.

»Niemand möchte die Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit tragen«, hatte Mahmud zu erklären versucht. »In großen Teilen der Bevölkerung gibt es Vorurteile gegenüber Menschen nichtdeutscher Herkunft. Da stehen die Schuldigen schon im Vorhinein fest. Man kann manchmal den Eindruck gewinnen, dass nicht die Justiz, sondern schon die Polizei das Urteil fällt. Und das ist oft sehr einseitig.«

»Es gab hier eine Auseinandersetzung mit Skinheads …«, begann Lüder zu erklären.

»Skinheads?«, fiel ihm einer der Streifenpolizisten ins Wort. »Wie kommen Sie darauf?«

»Soll ich lieber Neonazis sagen?«

»Bleiben Sie sachlich«, forderte ihn der Polizist auf. »Wer sind Sie überhaupt?«

Lüder zeigte seinen Dienstausweis.

»LKA«, sagte der Beamte. »Aber nicht von hier.« Er sah Lüder an. »Was suchen Sie hier?«

»Erfurt ist eine interessante und sehenswerte Stadt. Ich habe nach dem Abendessen einen Spaziergang gemacht und wurde Zeuge, wie zwei Männer den jungen Mann hier verfolgten. Er hat sich in diesen Imbiss geflüchtet. Da bin ich eingeschritten.«

»Verfolgten?« Der Beamte zog vernehmlich die Nase hoch. »Haben Sie sich überzeugt, ob die beiden Männer ihn nicht bei einer Straftat ertappt haben?«

Lüder kniff die Augen zusammen. »Beschränken Sie sich darauf, den Sachverhalt aufzunehmen«, sagte er. »Alle weiteren Äußerungen klären wir sonst morgen mit Ihrer Dienststelle.«

»Was soll die Aggressivität uns gegenüber?«

»Wollen Sie hier provozieren? Dann brechen wir das Gespräch ab und fordern einen Staatsanwalt an, der die Tatortaufnahme fortsetzt.«

Der Polizist streckte die Hand vor. »Ihren Ausweis. Ich will die Personalien aufnehmen.«

Lüder gab ihm das Dokument.

»So ein Superschlauer«, murmelte der Mann. »Kommt von sonst wo und spielt hier den dicken Max.«

Sein Kollege stand stumm daneben, während Lüder die Geschehnisse aus seiner Sicht schilderte.

»Sie haben von der Schusswaffe Gebrauch gemacht«, stellte der erste Polizist fest, während er Lüders Daten niederschrieb.

»Das habe ich eben erklärt.«

»Großartig. Wir sind hier aber in Thüringen und nicht im Wilden Westen.«

Lüder zeigte auf das Buch, in dem der Beamte seine Notizen niederschrieb. »Konzentrieren Sie sich lieber auf das Protokollieren.« Er wandte sich dem zweiten Beamten zu.

»Weshalb kommen Sie erst jetzt? Ich hatte durchgegeben, dass hier eine brenzlige Situation gegeben war. Jetzt können wir die Fahndung nach den Tätern vergessen.«

»Scherzkeks. Die Kanaken rufen konzentriert auf der Leitstelle an und melden an verschiedenen Stellen der Stadt Gewaltexzesse. Das bindet die Kapazität der Polizei. Währenddessen überfallen sie an anderer Stelle einen Supermarkt, einen Kiosk oder eine Menschenansammlung.«

»Das waren Rechtsradikale.«

Rechtsradikale? Davon wollten die Polizisten nichts gehört haben. Er musste sich wohl irren. Das waren mit Sicherheit ein paar rauflustige Kids. Vielleicht! Und auf die hat er geschossen? Was sind das für Methoden, auf Kinder zu schießen. Zunächst sah es so aus, als würde der Uniformierte Lüders Ausweis einstecken wollen.

»Kommen Sie morgen zur Polizeiinspektion Erfurt-Nord in die August-Schleicher-Straße«, erklärte der Polizist unfreundlich.

»Ist der Name Programm? Die Polizei kommt aus der Schleicher-Straße und benötigt deshalb so lange bis zum Einsatz?«

»Scherzkeks.« Dann verließen die Polizisten den Imbiss.

Lüder war aufgefallen, dass die beiden Beamten die Personalien der anderen Anwesenden, die Zeugen des Vorfalls waren, nicht aufgenommen hatten.

Mit einem »Tschüss« verließ er den Imbiss. Sein Gruß wurde nicht erwidert. Unterwegs beobachtete er aufmerksam die dunklen und leeren Straßen. Er hatte den Skins eine Demütigung verpasst, die sie nur ungern ertragen würden. Wenn man ihn verfolgte und ihm unterwegs auflauerte, würde er sich in einer denkbar ungünstigen Position befinden.