SIEBEN

Nach dem Frühstück suchte Lüder erneut Claudia Susewinds Wohnung in der Krämpfervorstadt auf. Die Straße mit den Gründerzeithäusern machte einen friedlichen Eindruck. Lüder sah an der Hausfront empor. Heute schien niemand hinter den Gardinen zu lauern und seine Anwesenheit argwöhnisch zu verfolgen. Er scheute sich nicht vor einer neuen Begegnung mit der örtlichen Polizei, wollte sie aber auch nicht provozieren. Niemand reagierte auf sein Klingeln. Lüder wusste nicht, ob die Richterin über eine Garage oder einen Stellplatz abseits der Straße verfügte. Vorsichtshalber suchte er die Theo-Neubauer-Straße und umliegende Straßen nach dem roten Golf ab. Das Fahrzeug war nicht zu entdecken. Merkwürdig, dass Susewind am Tag nach dem Attentat überstürzt Urlaub beantragt hatte und verreist war. Er wollte einen Zusammenhang nicht ausschließen. Falls der gegeben war, musste die Richterin Informationen besitzen, die man ihm in Erfurt verweigerte. Deshalb war es wichtig, die Frau ausfindig zu machen.

Lüder kehrte zu seinem BMW zurück und rief in Husum an. Große Jäger war außer Haus, aber Mats Skov Cornilsen war sofort bereit, ihm behilflich zu sein. Lüder schätzte es, dass der junge Husumer Kommissar nicht nach dem Grund fragte. Von seiner eigenen Dienststelle im LKA konnte Lüder wenig Unterstützung erwarten. Dr. Starke würde alle Ressourcen in Beschlag genommen haben. Und in Erfurt musste er gar nicht erst nachfragen. Lüder hatte erwartet, dass ihn Cornilsen zurückrufen würde, aber der Husumer bat um »eine Sekunde Geduld« und hatte sogleich herausgefunden, dass Claudia Susewind nie verheiratet gewesen war. Kinder waren auch keine vorhanden. Als Angehörige gab es zwei verheiratete Schwestern. Cornilsen sandte Lüder sogar die Telefonnummern der beiden per Mail.

Lüder rief die beiden Frauen an. Eine wohnte in Brunsbüttel, die andere am ehemaligen Familienwohnsitz in Windbergen.

Er hatte Glück und erreichte die Angehörigen. Die Brunsbüttlerin bedauerte, sie habe schon seit zwei Monaten nichts von Claudia gehört. Sie sei mit ihrem Mann im Urlaub gewesen. Danach habe sich noch keine Gelegenheit zu einem Telefonat gefunden. Wo Claudia ihren Urlaub verbringe? Sie hatte kurz überlegt, bevor sie Lüder erzählte, dass das unterschiedlich sei. Ein bestimmtes Ziel hatte die Richterin nicht. In Kuba sei sie gewesen, in Ägypten und auf einer Bildungsreise durch Israel. Wo sie jetzt sein könnte? Bedauern. Das wisse sie nicht.

Die Schwester aus Windbergen zeigte sich verschlossener. Sie wollte lediglich bestätigen, dass sie nicht über einen Urlaub informiert sei. Mögliche Ziele … Darüber wollte sie keine Auskunft erteilen. Man wisse nie, ob sich der Anrufer nicht nur als Polizist ausgab und erkunden wollte, ob die Wohnung unbewacht sei.

Sein nächster Anruf galt dem Landgericht. Er ließ sich mit Frau Wehmeyer verbinden. Die Sekretärin des Präsidenten erinnerte sich an Lüder. Frau Susewind hatte sich seit ihrem Urlaubsantritt noch nicht wieder im Landgericht gemeldet. Dort gab es auch keine Veranlassung, nachzufragen. Lüder suchte die Polizeiinspektion auf und hatte Glück. Der ältere Hauptkommissar, der ihm freundlichere Ratschläge erteilt hatte, war im Dienst. Ossenberg hieß der Mann, so hatte ihn ein Kollege angesprochen. Er erkannte Lüder wieder.

»Sind Sie weitergekommen?«

»Nein«, gestand Lüder. »Ich verstehe nicht, weshalb man hier offensichtlich gegen mich arbeitet.«

»Ich gehöre nicht zu den Insidern, sondern verrichte hier meinen Dienst. Ich bin dankbar, dass man mich auf diesen relativ ruhigen Posten im Innendienst versetzt hat. Sie können sicher sein, dass ich um keinen Preis mit den Kollegen tauschen möchte, die Tag für Tag draußen unterwegs sind. Ich habe den Beruf gern ausgeübt, aber was sich da zusammenbraut … Hoffentlich eskaliert es nicht irgendwann. Ich will mit keiner Silbe die Zeiten in der DDR verherrlichen, aber damals gab es keine Übergriffe auf die Polizei. Wer heute im Streifendienst unterwegs ist, muss auf alles gefasst sein.«

»Es gab immer schon Widerstand gegen die Polizei. Ertappte Täter, die sich zur Wehr setzen. Randalierer. Betrunkene. Häusliche Gewalt«, sagte Lüder.

»Das war unser Alltag. Auch in der DDR. Heute hat sich die Situation gewandelt. Wir haben kriminelle Ausländer, die uns das Leben schwer machen. In deren Kulturkreisen ist Gewalt gegen Menschen normal.«

»Das ist nicht die Regel.«

»Doch«, widersprach Ossenberg. »Ich rede nicht von denen, die auf der Straße brav an uns vorbeigehen oder die wir geduldig in der Warteschlange im Supermarkt antreffen, die vor der Schule oder Kita stehen und ihre Kinder abholen. Sorgen bereiten uns jene, die hemmungslos auf Gewalt setzen, gleich ob gegen harmlose Bürger oder Uniformierte.«

»Gewaltbereitschaft finden Sie auch auf der anderen Seite, bei den Rechtsradikalen.«

»Ich will nichts beschönigen. Die sind keinen Deut besser. Für die jungen Kollegen auf der Straße ist es gleich, ob sie sich mit kriminellen Asylbewerbern oder mit Rechtsradikalen prügeln müssen. Es macht nur einen Unterschied. Den Rechtsradikalen müssen wir uns stellen, die kriminellen Ausländer könnten wir nach Hause schicken.«

»Dem stehen viele rechtliche und moralische Gründe entgegen«, gab Lüder zu bedenken.

Ossenberg winkte ab. »Ich habe schon zu viel gesagt. Das ist für einen kleinen Beamten nicht gut. Wer sich zu weit aus der Deckung wagt, riskiert seinen Job.«

So wie Hollstein?, dachte Lüder. Hatte der grauhaarige Hauptkommissar unwissentlich etwas angesprochen, das auch für andere Mitarbeiter der Behörde galt?

»Hat man Ihnen gegenüber solche Andeutungen gemacht?«

Ossenberg flüsterte fast. »Ich bin vorsichtig. Aber es gibt einen Kollegen, den man nach Weimar abgeschoben hat.«

»Weshalb?«

Ossenberg schüttelte den Kopf. »Ich sage nichts mehr. Das war schon zu viel.«

»Nennen Sie mir einen Namen?«

Der Hauptkommissar flüsterte. »Kevin Herrmann heißt der Kollege, der vom Polizeihaupt- zum Obermeister degradiert und von Erfurt an die Stadtwache Weimar versetzt wurde.«

»Was hat er gemacht?«

»Tut mir leid. Aber mehr kann ich Ihnen nicht erzählen.« Ossenberg sah sich um. »Wir sind eine Behörde. Sie wissen selbst, wie es dort zugeht. Sie werden im schlimmsten Fall hin- und hergeschoben. Und gemobbt. Irgendetwas findet sich immer. Nein! Ich will in Ruhe meine Pension genießen. Gehen Sie bitte. Bitte!«, setzte Ossenberg fast flehentlich hinterher.

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen«, sagte Lüder. »Bleiben Sie standhaft.«

»Leichter gesagt als getan«, brummte der Hauptkommissar zum Abschied.

Es waren mehr als sechs Kilometer von Erfurts Norden zur Kriminalpolizeiinspektion. Hauptkommissar Hanitzsch zeigte sich wenig begeistert, als Lüder ihn aufsuchte.

»Ich weiß nicht, wie die personelle Situation bei Ihnen im Norden ist, aber wir sind gut ausgelastet. Da bleibt keine Zeit für Plaudereien mit Ihnen. Um es klar zu formulieren: Sie stören.«

»Ich biete Ihnen uneigennützig meine Unterstützung an. Weshalb haben Sie gestern den Mersin-Imbiss aufgesucht?«

»Wir kennen die Schwerpunkte, an denen sich Verdächtige treffen.«

»Und der Grill ist einer?«

Hanitzsch blieb die Antwort schuldig.

»Nach meinem Verständnis sollte die Polizei bei einem Ereignis wie gestern Abend die Täter fassen und die Bürger schützen, aber nicht präventiv gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen vorgehen.«

»Wollen Sie uns etwas unterstellen?« Hanitzsch war laut geworden. »Sie haben keine Vorstellungen, was hier los ist.«

Doch, dachte Lüder. Wir haben in Kiel auch einen Problembezirk. In Gaarden hatte er seine eigenen Erfahrungen machen müssen.

»Was die Politik uns eingebrockt hat, müssen wir ausbaden. Tagtäglich. Zugegeben«, Hanitzsch unterstrich seine Worte gestenreich, »ist es nur eine Minderheit, die uns Sorgen bereitet. Deshalb sind meine Worte nur beispielhaft. Ich will das nicht verallgemeinern. Migranten, ich verwende den Begriff als Synonym für die ganze Gruppe, also Asylbewerber, geduldet und so weiter, stehen auf dem Standpunkt, sie hätten ein Anrecht auf Wohlstand. ›Warum nur die Deutschen? Mensch! Das steht doch in eurem Grundgesetz: Alle Menschen sind gleich‹«, äffte er die Stimme eines Menschen nach, dessen Muttersprache nicht Deutsch war. »Und wenn wir nach ihnen fahnden, weil sie Straftaten begangen haben, beklagen sie sich über das harte Durchgreifen der Polizei. Dabei sind die wesentlich gewaltbereiter als eine vergleichbare deutsche Bevölkerungsgruppe. Die prügeln sofort los.«

»Ausländer sind keine homogene Gruppe«, stellte Lüder fest.

»Das ist leicht dahergesagt. Halten wir uns an Fakten. Unbestritten nehmen die Messerattacken in Deutschland zu.«

Das war leider zutreffend, dachte Lüder. Auch in Büsum hatten sich die Täter eines Messers bedient.

»Einfachste Regeln werden nicht mehr beachtet«, fuhr Hanitzsch fort. »Seehofer hat gesagt: ›Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt ist viel größer, als manche es heraufbeschwören wollen. Wenn Politik und Staat es nicht schaffen, die Einhaltung von Regeln und Gesetzen sicherzustellen, verlieren die Menschen das Vertrauen in den Staat und dessen Kraft. Sie nehmen das Gesetz des Handelns in die eigene Hand.‹ Und genau dazwischen stehen wir, die Polizei.«

»Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt. Nehmen Sie andere westliche Länder, wie beispielsweise die USA. Gemessen an unserem Sicherheitsstandard herrscht dort Anarchie«, warf Lüder ein.

»Was nützen uns noch schwierigere Verhältnisse in anderen Ländern? Wir leben hier. Ich frage mich oft, ob unsere Justiz zu lax ist. Haftstrafen werden bei jugendlichen Tätern immer häufiger zur Bewährung ausgesetzt. Entfernt sich die Justiz vom gesunden Menschenverstand? Ist das noch ›im Namen des Volkes‹, oder ist die Justiz zu einem wirklichkeitsfremden Instrument degeneriert? Wir dürfen null Toleranz gegenüber Gewalt und Kriminalität walten lassen.«

»Wie stand Bernd Hollstein zu solchen Gedanken?«

»Lassen wir das. Ich frage mich: Müssen wir Kulturen, in denen ein Menschenleben weniger wert ist und andere Vorstellungen von Gewaltanwendung und Ehrbegriffen herrschen, wirklich Toleranz entgegenbringen?«

»Hat Hollstein sich dahin gehend geäußert?«

»Das wäre doch unlogisch.« Hanitzsch tippte sich demonstrativ an die Stirn. »Ich weiß nicht, welchen abstrusen Gedankengängen Sie folgen. Hollstein war Staatsanwalt und nicht Sozialarbeiter. Seine Mörder waren nachweislich Islamisten. Wenn – ich betone ausdrücklich: wenn – es einen Zusammenhang zwischen dem Attentat da oben und Hollsteins Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft geben sollte, kann der nicht darin begründet sein, dass Hollstein mit den ausländischen Straftätern kollaboriert hat.«

»Galt er als Hardliner gegenüber dieser Personengruppe? Kann es sich um alte Rechnungen handeln, die dort beglichen wurden?«

Hanitzsch ließ seine flache Hand über den Schreibtisch kreisen. »Ich habe viel zu tun. Deshalb beenden wir das Gespräch an dieser Stelle. Thüringen ist ein souveränes Land. Was wollen die Fischköppe hier bei uns? Wir haben Sie nicht gerufen. Sie sind alles andere als willkommen.«

»Verfallen Sie nicht in die Kleinstaaterei aus Goethes Zeiten, auch wenn der Dichterfürst in Ihrer Nachbarschaft gelebt hat. Wir sind ein einiges Deutschland. Ich frage mich, weshalb man in Thüringen so erpicht darauf ist, dass ich mich zurückziehe. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass hier etwas verborgen werden soll. Das macht mich neugierig. Ich versichere Ihnen, dass ich dem jetzt noch hartnäckiger hinterherspüren werde.«

»Das ist bei Ihnen eine Art Paranoia. Wir haben eine funktionierende Polizei und eine gut aufgestellte Justiz. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten. Und denken Sie daran: Thüringen kann ein schwieriges Pflaster sein.«

»Ist das eine Drohung?«

»Guten Tag«, erwiderte Hanitzsch bestimmt.

Lüder machte sich auf den Weg nach Weimar. Er wollte mit dem Polizisten sprechen, den man – angeblich – dorthin versetzt hatte. Er hätte sich gern telefonisch angemeldet, fand aber weder eine Adresse noch eine Telefonnummer. Die Stadtwache befand sich am Markt, der vom Rathaus mit dem repräsentativen Balkon und Glockenturm auf einer Seite und Bürgerhäusern an den drei anderen eingerahmt wurde. An einer Ecke konnte man zum Gelben Schloss durchschlüpfen. Im Hintergrund war die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek zu erkennen, deren historische Schätze zu einem Teil einem verheerenden Brand zum Opfer gefallen waren. Der Eingang zur Stadtwache der Polizeiinspektion Weimar war erst nach längerem Suchen zu finden. Lediglich im Fenster des unscheinbaren grauen Gebäudes gab es ein Schild. Lüder wies sich gegenüber einem Uniformierten aus und bat darum, den Kollegen Herrmann sprechen zu dürfen.

Lüder musste sich eine halbe Stunde gedulden. Er nutzte die Zeit, um seine Mails zu checken, und beobachtete das lebhafte Treiben auf der Wache. Zwei Beamte betraten den Raum. Der größere wurde vor seinem Kollegen hinterm Tresen darauf aufmerksam gemacht, dass Besuch für ihn eingetroffen war. Kevin Herrmann sah Lüder an und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Lüder stand auf und reichte ihm die Hand.

»Lüders, LKA«, sagte er. »Ich habe einige private Fragen an Sie. Können wir uns ein paar Minuten ungestört unterhalten?«

Herrmann überlegte kurz. »Am besten vor der Tür«, sagte er und rief seinem Kollegen zu: »Ich bin vor der Tür eine rauchen.«

»Ist gut, Kevin.«

Sie stellten sich direkt neben den Eingang. Der Obermeister zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief in die Lungen. »Sie sagten, Sie hätten etwas Privates für mich? Wir sind uns noch nie begegnet. Nun bin ich gespannt.«

Lüder beschloss, mit offenen Karten zu spielen. »In Büsum ist bei einem Attentat der ehemalige Erfurter Staatsanwalt Bernd Hollstein ermordet worden.«

»Da wurde überall drüber berichtet«, warf Herrmann ein. »Auch, dass er von hier war.«

»Sie kannten ihn?«

Der Obermeister nickte schwach. »Nicht privat, aber vor Gericht, als ich als Zeuge auftreten musste.«

»Hollstein hat zuletzt nur kleine Sachen bearbeitet.«

Herrmann schüttelte den Kopf. »Das ist länger her. Es ging um einen Einsatz gegen Rechtsradikale, die auf dem Platz der Republik ein paar andere Jugendliche aufgemischt hatten.«

»Aufgemischt?«

»Sie hielten die Jugendlichen für der linken Szene zugehörig. Antifa. Man kannte sich wohl von Demonstrationen. Die Rechten sind auf die anderen los und haben sie verprügelt. Als wir mit unserer Streife eintrafen …«

»Ein Streifenwagen?«, unterbrach Lüder.

»Ja. Wieso? Hier gibt es nicht so viele Polizisten, dass Sie gleich eine Hundertschaft loshetzen können. Wir wollten die Personalien der Beteiligten aufnehmen, aber die weigerten sich. Einige aus der Gruppe haben uns bedrängt, beleidigt und gedroht. Als sie schließlich auf uns losgingen und uns vor sich herstießen, hat mein Kollege Verstärkung angefordert. Ich stand für einen kurzen Moment den Neonazis allein gegenüber. Als einer handgreiflich wurde, habe ich mich gewehrt.«

»Was ist passiert?«

»Einer der Angreifer wollte sich meiner Waffe bemächtigen. Ich habe zunächst den vor mir Stehenden zurückgewiesen.«

»Zurückgewiesen?«

»Na ja.« Herrmann rauchte nervös. »Die Klugscheißer, die nicht nach draußen müssen, sehen es hinterher immer anders. Man hat mir vorgeworfen, meine Reaktion sei unangemessen gewesen, weil ich meinem Gegenüber einen Fußtritt verpasst habe. Ich musste ihn fernhalten und mich um den Zweiten kümmern, der an meine Pistole wollte. Dann ist mir mein Kollege zu Hilfe gekommen. Die Typen haben Anzeige wegen Körperverletzung im Dienst erstattet. Die Sache ist bei Staatsanwalt Hollstein gelandet. Der wollte es nicht vor Gericht bringen. In Erfurt gibt es einen Nazianwalt.«

»Wie heißt der?«

»Holger Golombek. Der hat dafür gesorgt, dass es doch zu einer Verhandlung kam. Angeblich soll Hollstein sich noch mehr solcher Zinken, wie man sagte, geleistet haben. Daraufhin hat man ihn wohl versetzt.«

Lüder legte die Fingerspitzen ans Kinn. »Es kam also zu einer Hauptverhandlung. Der geht das Vorverfahren, also das Ermittlungsverfahren, voraus. Der Staatsanwalt hat beim Verdacht einer strafbaren Handlung den Sachverhalt festzustellen. Nur unter bestimmten, im Gesetz näher bezeichneten Voraussetzungen darf er von der weiteren Verfolgung und gegebenenfalls der Anklageerhebung absehen.«

»Hollstein hat ja auch alles geprüft und war der Meinung, es liege kein Vergehen meinerseits vor. War ja auch nicht der Fall. Hätte ich mir die Waffe wegnehmen lassen sollen?«

»Und dann?«

Kevin Herrmann rauchte die Zigarette bis zum Filter herunter. »Wie kommen Sie überhaupt auf mich? Was habe ich damit zu tun?«

»Hauptkommissar Ossenberg hat mir Ihren Namen genannt.«

Herrmann ließ seinen Blick gedankenverloren zum neugotischen Rathaus mit dem Glockenspiel aus Meißener Porzellan im Turm schweifen. Dann nickte er versonnen. »Jaja. Papa Ossenberg. Toller Kollege. Man sollte meinen, wir von der Polizei würden zusammenhalten. Das ist aber leider nicht der Fall. Der Kollege, mit dem ich damals bei diesem Einsatz war, hat gesagt, er hätte nichts gesehen. So stand meine Aussage gegen ein halbes Dutzend der Rechten. Es kam zur Hauptverhandlung. Hollstein plädierte für eine Einstellung des Verfahrens, aber der Nazianwalt wollte es unbedingt durchziehen. Zum Glück war die Richterin umsichtig.«

»Richterin? Können Sie sich an den Namen erinnern?«

Der Polizist lachte bitter auf. »War so ein komischer Name. Aber die Frau war tough.«

»Susewind?«

Jetzt lachte Herrmann. »Genau.«

»Wie ist das Verfahren ausgegangen?«

»Es wurde gegen Auflagen eingestellt. Ich habe zweitausend Euro bezahlt. Das war aber nicht alles.«

»Was ist noch geschehen?«

»Polizeirat Rauhfuß, der seinem Namen alle Ehre macht, hat ein Disziplinarverfahren gegen mich eingeleitet. Er hat deutlich gemacht, dass prügelnde Polizisten in Thüringen nichts zu suchen haben. Ich bin vom Haupt- zum Obermeister zurückgestuft und nach Weimar versetzt worden.« Er blickte zum Eingang der Polizeiwache hinüber. Dort erschien der Beamte, der hinterm Tresen Dienst tat, und sah sich suchend um.

»Kevin! Kommst du? Wir brauchen dich.«

»Ich muss«, verabschiedete sich Herrmann und hielt die flache Hand an den Hals. »Das Gespräch war vertraulich und privat. Sie sagten es. Man hat den Strick um meinen Hals schon angelegt. Ich vermeide alles, damit er nicht zugezogen wird. Frau und zwei Kinder. Und ich habe nichts anderes gelernt als Polizist. Sehen Sie einmal in die Statistik. Die Arbeitslosenquote in Thüringen ist verdammt hoch.«

Ohne ein weiteres Wort verschwand er in der Wache.

Was versuchte man vor Lüder zu verbergen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass man Hollstein aufgrund von dessen Einschätzung in diesem Fall auf einen unbedeutenden Posten versetzt hatte. Dem Polizisten Herrmann fehlte sicher der Überblick. War sein Fall ein kleines Puzzleteilchen? Das erste, das Lüder entdeckt hatte. Es war weit hergeholt, eine Verschwörung hinter den Kulissen zu vermuten. Er lebte in Deutschland, in einem Land mit zunehmend überbordender Bürokratie, das Bürgern und Unternehmen im Alltag oft Steine in den Weg legte. Auch hier war man nicht zur Gänze frei von Korruption. Irgendwo versteckte sich im schlimmsten Fall ein fauler Apfel. Im Unterschied zur Obstkiste verseuchte er aber nicht das ganze System. Von den Ausnahmen abgesehen hatte Deutschland ein funktionierendes System mit dem Staat loyal zugewandten Beamten. Was war hinter den Kulissen vorgefallen, dass man in Thüringen den Mantel des Schweigens ausbreitete, sei es Oberstaatsanwalt Knüppel oder Hauptkommissar Hanitzsch? Und weshalb war die Vorsitzende Richterin Susewind offenbar überhastet in den Urlaub aufgebrochen? Lüder musste jetzt ein zweites Puzzleteilchen finden, das zum ersten passte.

Dieser Gedanke beschäftigte ihn auf der Rückfahrt nach Erfurt. Er rief bei der Polizeidirektion Nord an und verlangte Hauptkommissar Ossenberg.

»Das ist mir nicht sympathisch«, beklagte sich Ossenberg. »Bitte kontaktieren Sie mich nicht mehr. Ich möchte mit alldem nichts zu tun haben.«

»Herr Ossenberg. Was läuft da für eine Verschwörung?«

»Verschwörung?« Ossenberg sprach so leise, dass Lüder ihn kaum verstehen konnte. »Davon hat niemand gesprochen.«

»Wo finde ich Polizeirat Rauhfuß?«

»Herr Rauhfuß?« Ossenberg klang erschrocken.

»Ja.«

»Der sitzt ganz oben.«

»Wo?«

»In der Landespolizeidirektion. So. Jetzt halten Sie mich bitte aus allem raus. Bitte!« Ossenberg hatte aufgelegt.

Lüder suchte die Landespolizeidirektion im Zentrum Erfurts auf. Das lang gestreckte Gebäude am Fuß des Petersbergs war nur durch den Backsteinbau des ehemaligen Gefängnisses vom Landgericht getrennt.

Am Empfang dauerte es eine Weile, bis der Beamte den Polizeirat erreicht und mit ihm gesprochen hatte. Erst als Lüder noch einmal seinen Dienstausweis vorlegte und der Mann hinter dem Panzerglas Lüders Namen buchstabierte, ging es überraschend schnell. Rauhfuß musste seinen Namen kennen. Es war erstaunlich, wie schnell sich Lüders Mission in Thüringen herumgesprochen haben musste.

Rauhfuß war ein asketischer Mann, in dem man den trainierten Marathonläufer vermuten konnte. Die kurz geschorenen dunklen Haare mit dem grauen Schimmer, das schmale Gesicht mit der Adlernase, den stechenden dunklen Augen und dem energisch vorspringenden Kinn ließen einen durchsetzungsstarken Charakter vermuten. Ein fester Händedruck unterstrich diesen ersten Eindruck.

Er wies auf einen kleinen runden Besprechungstisch, um den sich zwei Stühle gruppierten. Ohne Lüder zu fragen, rief er durch eine Verbindungstür: »Zwei Kaffee!« Das »bitte« fehlte dabei. Rauhfuß nahm Platz, zog in einer mechanischen Geste an den Bügelfalten und sagte ohne lange Einführung: »Nun sind Sie bei mir angekommen. Herr Lüders aus Kiel. Wenn man einen Kriminalrat schickt, handelt es sich nicht um eine Lappalie. Was ist der Grund, hier Unruhe zu stiften?«

»Unruhe! Eine interessante Interpretation für die Ermittlungsarbeit der Polizei.« Lüder ließ es nasal klingen. Er rückte den Stuhl ein wenig zurück, schlug die Beine übereinander und stellte mit Befriedigung fest, dass Rauhfuß diese Geste missfiel.

»Die Väter des Grundgesetzes haben mit Bedacht eine föderale Struktur geschaffen. Deshalb spricht man auch von Landespolizei.«

Lüder lachte leise auf. »Die ihren Platz in der Bundesrepublik hat. Auch wenn es viele politische Provinzfürsten gibt, insbesondere im Süden der Republik, gelten für alle die gleichen Maßstäbe bei Recht und Gesetz.«

»Sparen Sie sich solche Plattitüden. Was wollen Sie?«

»Die Wahrheit. Und die steckt in dem, was hier in Thüringen im Verborgenen gehalten wird.« Lüder zeigte auf die beiden goldenen Sterne auf Rauhfuß’ Schulterklappe. »Polizeioberrat.« Herrmann hatte vom Polizeirat gesprochen. »Sie sind erstaunlich gut über mich und meine Fragen informiert. Haben Sie keine wichtigeren Aufgaben? Ich habe den Eindruck, dass sich die halbe Landespolizei mit dem Lüders aus Kiel beschäftigt. Wäre Ihre Organisation in anderen Fällen auch so akribisch auf Spurensuche gegangen, hätte es ein paar Skandale weniger gegeben.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Im Fall der Peggy Knobloch und der Aufklärung der Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU gab es zahlreiche Fehlermittlungen und Pannen. Ich weiß«, Lüder hob beide Hände, »auch das Landesamt für Verfassungsschutz hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Dafür haben Sie jetzt eine umfassende Überwachung des Kollegen von der Ostsee organisiert. Mich würde natürlich brennend interessieren, weshalb.«

»Sie leiden offenbar unter Selbstüberschätzung.«

»Bernd Hollstein ist in Büsum ermordet worden.«

»Ermordet? Er wurde Opfer eines terroristischen Anschlags.«

Lüder lachte auf. »Macht das den Unterschied zwischen Ihnen und uns aus? Ich spreche bewusst von einem Mord. Und bei Mord gibt es fast immer ein Motiv. Und das liegt hier in Thüringen. Weshalb wirft man mir, wohin ich auch komme, immer den Oberstaatsanwalt zwischen die Beine?«

Rauhfuß sah Lüder irritiert an. Das ist ein Punkt für mich, dass du mir deine Ratlosigkeit so offen zeigst, dachte Lüder und signalisierte mit einem arrogant wirkenden Lächeln Überheblichkeit. Er unterstrich das noch, indem er lässig mit dem Fuß des übergeschlagenen Beines wippte.

»Er heißt doch Knüppel. Ein Dreamteam. Knüppel und Rauhfuß. Weshalb boykottieren Sie meine Ermittlungen? Haben Sie dafür triftige Gründe?« Lüder suchte Rauhfuß’ Blick. Sekundenlang maßen sie sich.

Der Polizeioberrat kniff die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen. War das unbewusst oder Taktik? Egal. Er wollte offenbar etwas vor Lüder verbergen.

Lüder klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. »Was wird hier gespielt? Hat man Hollstein unter Druck gesetzt, weil seine Ermittlungen nicht gefallen haben? Wer hat ein Interesse daran, die Justiz zu behindern? Ich vermute, dass sich niemand offen gegen die Gesetze gestellt hat. Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten im Ermittlungsverfahren Rechte. Zwangsmaßnahmen, die in die Rechte einer Person eingreifen wie Beschlagnahme, Durchsuchungen und Ähnliches, bedürfen grundsätzlich einer richterlichen Anordnung. Ich gehe davon aus, dass sich auch in Thüringen kein Richter findet, der leichtfertig die Rechte eines Menschen außer Kraft setzt. Das Gericht kann aber nur tätig werden, wenn die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift einreicht. Ohne Staatsanwalt läuft nichts. Stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren aber ein und meint, es liegt kein hinreichender Tatverdacht vor, wird kein Gericht darüber zu befinden haben. Wurde hier gemauschelt? Das wäre Strafvereitelung im Amt. Und das hätte für die Beteiligten schwerwiegende Konsequenzen.«

»Arbeitet man in Schleswig-Holstein so? Unterstellt man Ermittlungsbehörden, sie würden nicht rechtskonform agieren, nur weil sie nicht jeden, der aus dem Nichts auftaucht und jede Form der Kooperation torpediert, in ihre Arbeit einweihen? Haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, ob Sie nicht dabei sind, vorsichtig gesponnene Netze zu zerstören?«

»Das ist interessant. Sagen Sie mir doch einfach, an welchen Stellen ich nicht nachforschen soll. Ich will mich doch gar nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen. Machen Sie sich doch allein lächerlich. Oder haben Sie etwas zu verbergen?«

Rauhfuß lehnte sich zurück. »Auch wenn Sie dort oben im Norden bei der Polizei sind …«

»Beim Polizeilichen Staatsschutz«, warf Lüder ein.

»Das ist der erste große Irrtum. Entweder vermuten Sie oder haben sogar Beweise dafür, dass es sich um ein Attentat mit islamistischem Hintergrund handelt, dann verstehe ich, dass Ihre Abteilung ermittelt. Wenn es sich aber um einen Mord handelt, wie Sie hier herumphantasieren, sind Sie doch fehl am Platz.« Rauhfuß legte die Fingerspitzen an die Schläfe. »Wir sind deshalb auf Sie aufmerksam geworden, weil sich genau hier eine Diskrepanz auftut. Da taucht ein Einzelner auf und agiert hier in James-Bond-Manier. Diese Arbeitsweise ist auch in Schleswig-Holstein nicht üblich. Das stimmt uns nachdenklich. Weshalb gibt es kein förmliches Amtshilfeersuchen?«

»Sagen Sie mir doch einfach, weshalb man den Mantel des Schweigens über Bernd Hollsteins Leben und Wirken ausbreitet.«

»Da gibt es nichts zu erzählen.«

»Weshalb wurde ein Paradejurist in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben?«

»Da bin ich der falsche Ansprechpartner. Das wird Ihnen die Staatsanwaltschaft erzählen.«

»Die schweigt genauso wie Sie.«

»Sagen Sie mal: Leiden Sie unter einer Art Paranoia? Begreifen Sie nicht, dass es keine Geheimnisse gibt, Sie mit Ihrem Auftreten aber überflüssige Unruhe auslösen?«

»Statt einer konstruktiven Zusammenarbeit und einer befriedigenden Auskunft wiederholen Sie sich permanent. Ad nauseam.«

Rauhfuß sah ihn fragend an.

»Das ist lateinisch und heißt: ›bis zur Seekrankheit‹. Man bezeichnet so die stetige Wiederholung einer Behauptung, bis sie ohne Hinterfragen als zutreffend akzeptiert wird. Manchmal funktioniert so etwas. Autoritäre Regime wenden diese Methode oft an.«

»Jetzt reicht es aber«, polterte Rauhfuß los. »Was Sie uns in Thüringen unterstellen! Das Land bewegt sich auf dem Boden des Grundgesetzes. Hier herrschen Recht und Ordnung.«

»Das will ich nicht in Frage stellen. Das gilt auch für den Rest Deutschlands. Trotzdem werden semilegal manche Transaktionen ausgeführt, zum Beispiel unbequeme Polizisten nach Weimar abgeschoben.«

»Woher wissen … Wenn Sie auf diesem Terrain herumgeschnüffelt haben, ist Ihnen auch bekannt, dass hier alles rechtens zugegangen ist. Der Betroffene hat Glück gehabt, dass seine dienstlichen Verfehlungen nicht anders geahndet wurden. Es gibt schließlich auch eine Fürsorgepflicht des Dienstherrn.«

»Staatsanwalt Hollstein hat kein verfolgungswürdiges Handeln feststellen können. Trotzdem gab es ein Disziplinarverfahren.«

»Zu personellen Dingen kann ich keine Stellungnahme abgeben.«

»Ich weiß, dass Hollstein in Syrien war. Das war bestimmt kein Erlebnisurlaub.«

»Hollstein war in Syrien?« Rauhfuß war ein ausgebildeter Verhörspezialist und verstand sich mit Sicherheit auf die Klaviatur verschiedener Tonlagen. Auch wenn er sich verstellen konnte, war er jetzt überrascht. »Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«

»Gute alte Polizeiarbeit«, sagte Lüder gelassen. »Made in Schleswig-Holstein«, fügte er mit einem Lächeln an.

»Ich möchte die Quelle für diese Unterstellung wissen.« Rauhfuß trat auf, als würde er einen Tatverdächtigen verhören.

»Nix da. Quellenschutz. Sie haben von diesen Reisen nichts gewusst. Das spricht für Hollsteins Cleverness. Nun fragen wir beide uns als Polizisten: Was hat er da gemacht?«

Rauhfuß war immer noch sprachlos.

»Hollstein war kein Richter. Also blieben ihm bei der Beurteilung der Fälle gewisse Spielräume, die er im Rahmen einer gewissen Bandbreite ausloten konnte. Wenn seine Beurteilung nun häufig anders ausging als im gewünschten Mainstream, hätten Überlegungen reifen können, ihn einfach an eine weniger brisante Stelle zu versetzen.«

»Und was hat das mit der – angeblichen – Reise nach Syrien zu tun?«

»Hat Hollstein Fälle vorgelegt bekommen, in denen Menschen aus dem Mittelmeerraum tatverdächtig waren? Uns ist bekannt, dass es ein Täterbild gibt, das auf die Organisierte Kriminalität von Familienclans aus dem Nahen Osten abzielt.«

»Wollen Sie dem Toten unterstellen, er sei käuflich gewesen?«

Lüder zuckte mit den Schultern. »Sagen Sie es mir.«

»Das wäre seinen Vorgesetzten, aber auch der Polizei aufgefallen. Gegen Hollstein wäre ermittelt worden.«

»Vielleicht ist das geschehen.«

»Dann hätte man ihm auch den Prozess gemacht.«

»Mag sein. Aber in Anbetracht der eingangs genannten Pannen in Thüringen kann man sich keine weiteren öffentlichen Aufregungen erlauben. Sie haben ja noch mehr Probleme am Hals, zum Beispiel den undurchsichtigen Fall, dass V-Leute des Verfassungsschutzes beim NSU mitgemischt haben sollen oder Polizisten sich öffentlich bei den Rechtsradikalen tummeln.«

»Seien Sie froh, dass ich Ihnen nicht bös gesonnen bin. Ihre Phantasien und Anschuldigungen, die jeder Grundlage entbehren, reichen für Verleumdungsklagen ebenso wie für eine Dienstaufsichtsbeschwerde in, äh …«

»Kiel. Ebenso wie Erfurt eine wunderschöne Landeshauptstadt.« Lüder stand auf und zeigte auf den Computer auf Rauhfuß’ Schreibtisch. »Vergessen Sie nicht, meinen Besuch bei Ihnen einzutragen, damit die Thüringer Polizei auf dem Laufenden bleibt. Ach ja, Staatsanwalt Knüppel nicht zu vergessen.« Dann zeigte er auf den Tisch. »Vielen Dank für den Kaffee.« Den hatte man nicht gebracht. »Falls Ihnen noch etwas einfällt oder Sie Substanzielles zu meinen Ermittlungen beitragen möchten … Sie wissen dank Ihrer Organisation, wo Sie mich finden. Und nun sage ich nicht ›Tschüss‹, wie es bei uns üblich ist, sondern ›Auf Wiedersehen‹. Und das dürfen Sie wörtlich nehmen.« Nach diesen Worten verließ er das Büro.

Auf der Straße sah er auf die Uhr. Mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Seit dem Frühstück hatte er nichts gegessen und getrunken. Trotzdem wollte er zunächst noch Rechtsanwalt Golombek aufsuchen, den man als Hollsteins Gegner vor Gericht benannt hatte.

Die Kanzlei befand sich in der Schlösserstraße, die den Fischmarkt mit dem zentralen Anger verband. Hohe Häuser bildeten eine innerstädtische Straßenschlucht. Die Straßenbahnen nahmen die Straßenmitte für sich ein, während auf den Gehwegen ein reger Verkehr an Passanten herrschte, die auch die zahlreichen bunt gemischten Geschäfte frequentierten. Golombek hatte seine Kanzlei in einem der herrschaftlichen Häuser der Gründerzeit.

Eine ältere Frau mit blondierten Haaren begutachtete ihn durch eine Tür aus Sicherheitsglas. Über eine Wechselsprechanlage fragte sie nach seinem Wunsch. Lüder erklärte, er sei von der Polizei. Die Frau ließ sich seinen Ausweis zeigen und erwiderte, dass er nicht von hier komme.

»Ich ermittle im Fall des Mordes an dem ehemaligen Staatsanwalt Hollstein in Büsum.«

»Und was haben wir damit zu tun?«

»Ich suche nach Informationen aus Hollsteins beruflichem und privatem Umfeld.«

Die Frau verschwand ohne Antwort und ließ ihn einige Minuten warten. Schließlich ertönte der Summer, und Lüder fand Einlass in den Flur, der vom Interieur eher in eine vergangene Epoche passte. So mochte es in den siebziger Jahren in der DDR ausgesehen haben. Lediglich die Computerbildschirme auf den Tischen in den beiden durch Glasscheiben abgetrennten Büros verwiesen auf die Gegenwart.

Lüder wurde gebeten, auf einem Stuhl mit durchgescheuertem Bezug im Flur Platz zu nehmen. Durch eine geschlossene Tür hörte er die laute Stimme eines älteren Mannes, ohne einzelne Worte zu verstehen. Das Telefonat schien kein Ende zu nehmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien ein fülliger kleiner Mann mit straff nach hinten gekämmten grauweißen Haaren und ausgeprägten Geheimratsecken. Auf der fleischigen Nase saß eine dicke Hornbrille. Die Wangen hingen schlaff herunter. Er trug einen mittelbraunen Anzug, darunter ein rosafarbenes Hemd. Alles wirkte altbacken und passte zum Erscheinungsbild der Kanzlei. Das setzte sich auch im Arbeitszimmer des Anwalts fort.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Golombek und zeigte auf den Besucherstuhl. Herr, äh …«

»Lüders. Ich komme vom LKA Schleswig-Holstein.« Lüder berichtete, dass er Erkundigungen zum Opfer des Attentats von Büsum einzog.

»Verstehe. Natürlich klopft man das Umfeld ab. Und wenn es keine Angehörigen gibt, muss man den Aktionsradius ein wenig weiter ziehen. Aber weshalb schickt man jemanden aus Kiel nach Erfurt? Sie hätten die hiesige Polizei um Hilfe bitten können.«

»Wir machen uns gern selbst ein Bild.«

»Ungewöhnlich. Ich meine, diese Vorgehensweise. Sehen Sie Gründe dafür?«

»Es geht einfach schneller, als wenn man den offiziellen Dienstweg einschlägt.«

Ein Lächeln umspielte Golombeks Mundwinkel. »Ich bin seit Jahrzehnten in diesem Geschäft tätig, junger Mann. Ich merke, wenn mir jemand einen Bären aufbinden will. Sie laufen gegen Gummiwände. Niemand spricht über Hollstein. Und nun meinen Sie, bei mir fündig zu werden.«

»Okay. Spielen wir mit offenen Karten.«

»Warum nicht gleich so? Aber weshalb sollte ich Ihnen etwas erzählen?«

»Hollstein dürfte oft Ihr Gegner im Gericht gewesen sein.«

Golombek spitzte die Lippen. »Wir sind uns in der Tat immer wieder begegnet. Ich mochte ihn nicht, als wir zuerst aufeinandertrafen. Für mich war er ein Besserwessi, wie sie hier nach der sogenannten Wende auftauchten, um uns die Welt zu erklären. Ihre Welt. Und wer nicht als Klugscheißer antrat, wollte uns über den Tisch ziehen. Schnelle Geschäfte machen. Absahnen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich anerkennen musste, dass Hollstein einer der wenigen war, denen es wirklich um die Sache ging, einer, der aus seiner Sicht tatsächlich Aufbauhilfe leistete. Ich weiß nicht, ob ihm jemals gedankt wurde, dass er sich für ein Leben in Mitteldeutschland entschieden hatte. Er war ein guter, ja – fanatischer Jurist. Es hat Spaß gemacht, mit ihm die Klinge vor Gericht zu kreuzen.«

»Weshalb hat er keine Karriere gemacht?«

»Vermutlich passte er nicht ins System.«

»Die Justiz ist unabhängig.«

Golombek lachte bitter auf. »Sie Idealist. Phantast. Das mag zum großen Teil auf die Gerichte zutreffen, auch wenn Sie in Bayern für bestimmte Delikte anders bestraft werden als im Rest der Republik. Bei den Ermittlungsbehörden hört die Objektivität da auf, wo Seilschaften am Werk sind.«

»Sind das noch Verbindungen aus DDR-Zeiten?«

»Hören Sie doch auf.« Die Stimme des alten Rechtsanwalts klang verärgert. »Vorurteile. Das ist über ein Vierteljahrhundert her. Die sogenannte Wiedervereinigung. Und die Seilschaften haben zu dem Zeitpunkt schon bestehen müssen. Wer heute sechzig ist, hat also mit Mitte dreißig schon in einflussreicher Position in einer Seilschaft hängen müssen. Das sind nicht viele.«

»Was meinen Sie dann mit System?«

»Es gibt bestimmte Vorstellungen von Political Correctness.«

»Wir sind ein demokratisches Land mit einer unabhängigen Justiz. Hier kann jeder seine Meinung sagen.«

Golombek lachte erneut bitter auf. Es klang wie Hohn. »Wenn er Kopf und Kragen riskieren möchte. Oder aufs Abstellgleis geschoben werden will.«

»Traf das auf Hollstein zu?«

Der Rechtsanwalt zuckte vielsagend mit den Schultern. »Wer steckt hinter dem Attentat?«

»Das Bekennerschreiben, das wir für authentisch halten, stammt von Almawt lilmushrikin.«

»Eine in der Öffentlichkeit nicht bekannte Gruppierung. Sie ist bisher nur in Thüringen und Sachsen aufgetreten.«

»Merkwürdig, oder?«

»Finde ich nicht. Ich mache mir meine eigenen Gedanken dazu.«

»Kann ich daran teilhaben?«

Golombek räusperte sich. Er sah aus, als würde er überlegen, ob er antworten solle. »Sie haben gehört, dass man mich als Nazianwalt bezeichnet, da ich den Ruf habe, gern von Beschuldigten mit nationaler Gesinnung als Anwalt in Anspruch genommen zu werden.«

»Mit nationaler Gesinnung umschreiben Sie Rechtsradikale.«

»Das sind die Vorurteile, die in den Raum gestellt werden. Wenn die Justiz meint, eine bestimmte Gesinnung …«

»Nicht die Gesinnung, sondern die aus ihr resultierenden Taten stehen zur Disposition«, warf Lüder ein.

»Lassen Sie mich ausreden. Wir haben doch die Meinungs- und Gesinnungsfreiheit. Wenn jemand mit tiefer nationaler Überzeugung sich vor Gericht verantworten muss, steht ihm das Recht auf einen Rechtsbeistand zu. Zunächst wird gegen den Beschuldigten ermittelt. Das obliegt Staatsanwaltschaft und Polizei. Mit Erhebung der Anklage und der Eröffnung des Hauptverfahrens durch Gerichtsbeschluss spricht man vom Angeklagten.«

»Wir haben immer wieder beobachten müssen, dass die Anwälte sich selbst sehr weit ins rechte Lager lehnen.«

»Das ist schon fast Staatsterror, dass man Beschuldigten kein faires Verfahren zubilligt. Jedem Mörder wird ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt. Niemand kommt auf die Idee, diesen als Komplizen des Täters anzusehen. Bei politischen Prozessen soll das anders sein?«

»Was heißt politischer Prozess? Es geht um Verstöße gegen unsere Rechtsordnung.«

»Als Kriminalrat haben Sie ein Hochschulstudium absolviert. Jura?«, riet Golombek.

Lüder nickte.

»Dann müssen wir nicht darüber debattieren, dass vieles Auslegungssache ist. Medien und Interessengruppen verkünden landauf und landab, dass wir moralisch zur unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern verpflichtet sind. Darf ich Thilo Sarrazin zitieren? Immerhin war der Mann ein geachteter Politiker und Bundesbankvorstand. Sarrazin spricht vom rückständigen Islam, von feindlicher Übernahme. Die werden immer mehr und werden uns irgendwann mit unseren eigenen Waffen schlagen, wenn sie die demokratische Mehrheit übernehmen. So hat es bei Hitler auch angefangen. Zunächst hat ihn die Mehrheit gewählt. Seine erste Aktion war, die Demokratie abzuschaffen. Sehen Sie sich doch die Verhältnisse in der Türkei an. Ist das noch Demokratie? Es gibt viele Interessengruppen im Islam, denen gar nicht an einer Integration gelegen ist. Muslime haben im Durchschnitt eine schlechtere Schulbildung, wirtschaftlich keinen Erfolg und eine erhöhte Kriminalität. Behauptet Sarrazin.«

»Sarrazin lebt von Übertreibungen und Verallgemeinerungen. Das können Sie nicht für bare Münze nehmen.«

»Sehen Sie die pragmatische Seite. Freibäder werden immer wieder von Jugendlichen türkischer und arabischer Herkunft terrorisiert. Dafür dürfen deren Mädchen in der Schule nicht am Sportunterricht teilnehmen. In manchen Gegenden haben diese Leute das Zepter der Organisierten Kriminalität übernommen.«

»Das entspricht nicht der Wahrheit.«

»Papperlapapp«, tat Golombek den Einwand ab. »Im Islam ist eine Tendenz zum Beleidigtsein und Sich-angegriffen-Fühlen angelegt. Denken Sie an die sogenannten Ehrenmorde. Das ist mit unseren Vorstellungen von Meinungsfreiheit nicht vereinbar. Der falsche Ehrbegriff. Das Machogehabe. Die Unterdrückung der Frau. Es kann doch nicht sein, dass man weibliche Polizisten nicht ernst nimmt, Frauen in Behörden und Krankenhäusern die Kompetenz abspricht. Aber das wollen bestimmte Kreise nicht hören. Wollen Sie mir unterstellen, dass es aus der Luft gegriffen ist, was ich hier vorbringe?«

»Das ist rechte Ideologie.«

»Das Totschlagargument Ihresgleichen. Da sehen Sie es. Ich will nicht zynisch werden, aber die Menschen ertrinken zu Tausenden im Mittelmeer. Jeder Einzelne ist einer zu viel. Aber weshalb gehen sie dieses Risiko ein? Was sind das für Leute, die ihren Kindern den schulischen Schwimmunterricht verbieten? Die armen Mädchen sollen in ihren langen Nachthemden ins Wasser. Lächerlich. Und die Kerle treiben sich im Schwimmbad nur herum, um unsere Mädchen unsittlich zu begrapschen. Nicht nur das. Mittlerweile haben die sogar ihre eigenen Rechtsanwälte. Da stehen Sie vor Gericht und müssen sich mit so einem Atatürk auseinandersetzen. Ein besonders schlimmer Finger ist dieser Rasim Gürbüz.«

»Ist das Ihre politische Überzeugung, die Sie hier vortragen?«

»Denken Sie, wie Sie möchten. Wie kommt es, dass ein Staatsanwalt Opfer einer Bluttat wird, die von einer islamistischen Gruppe verübt wird? Ich würde mir das ganze Drumherum sehr genau ansehen.«

Lüder konnte mit Golombeks Ausführungen nicht viel anfangen. Der Mann schien nicht nur als Anwalt Mandanten aus der rechten Szene zu verteidigen, sondern sich auch deren Ideologie zu eigen gemacht zu haben. Man konnte ihm einen scharfen Verstand aber nicht absprechen. Seine Gedanken hinsichtlich der Umstände der Büsumer Tat deckten sich mit Lüders Ideen. Hatten sich bei Almawt lilmushrikin islamistische Extremisten zusammengefunden, die das Heft des Handelns übernommen hatten? Die mit der Ermordung eines Staatsanwalts, der ihnen mit allen Mitteln des Rechtsstaats nachsetzte, ein Zeichen setzen wollten? War man seitens der Behörden in Thüringen deshalb so abweisend, weil man Almawt lilmushrikin keinen weiteren Vorwand liefern wollte? Oder gab es schon Ermittlungen, zum Beispiel unter der Ägide von Hauptkommissar Hanitzsch, die man nicht durch Dritte, das wäre Lüder, gefährdet sehen wollte? Weshalb machte man ihn nicht zum Komplizen? Wer würde denn glauben, Lüder würde diese Ermittlungen unbedacht gefährden?

Er war noch weit davon entfernt, das Ende eines roten Fadens in den Händen zu halten.

»Ich teile Ihre Ansichten in keiner Weise.« Es war Lüder ein Bedürfnis, Golombek zum Abschied zu widersprechen.

»Denken Sie an meine Worte. Aber nicht erst, wenn es zu spät ist. Ihre Kinder wollen eine Zukunft haben. Und für die tragen Männer wie Sie die Verantwortung. Auf Wiedersehen.«

Inzwischen war es dunkel geworden. Das Gespräch hatte länger gedauert als erwartet. Die Kanzlei war verwaist. Die wenigen Angestellten hatten Feierabend gemacht.

Golombek blieb schweigsam, als er Lüder aus der gut gesicherten Kanzlei entließ.

Es war ein milder Spätsommerabend. Die Luft war lau, als Lüder vor die Tür trat. Zahlreiche Menschen nutzten das gute Wetter und spazierten durch die sehenswerte Erfurter Innenstadt. In der Außengastronomie am Fischmarkt herrschte der gewohnte lebhafte Betrieb.

Nichts war mehr von der Unruhe zu spüren, die die marodierenden Jugendlichen verursacht hatten. Lüder wollte zu Abend essen und steuerte das »Christoffel« an. Das Gasthaus war beliebt. So war er nicht erstaunt, dass an den groben Holztischen drangvolle Enge herrschte.

»Haben Sie reserviert?«, fragte ihn eine vorbeikommende Kellnerin, die einen beeindruckenden Berg Geschirr balancierte.

»Nein.«

Die Frau bedauerte, aber wie er sehe, seien alle Plätze belegt. Ob er es in einer Stunde erneut versuchen wolle? Vielleicht?

Lüder wollte den Abend nicht damit zubringen, durch die Stadt zu laufen und nach einem freien Platz in einem Restaurant zu suchen. Seine Begeisterung war nicht sehr groß, als er sich dazu durchrang, eine Kleinigkeit im Mersin-Grill einzunehmen. Bei seinem letzten Besuch hatte es dort nicht verlockend gerochen. Aber mit Schaschlik und Pommes konnte Mahmud nichts falsch machen.

Hoffte er.

Der Imbissbetreiber stand mit einem weiteren Mann vor der Tür und rauchte. Im Laden selbst war es leer.

»Ah, Herr Kommissar«, sagte Mahmud leutselig und ließ es klingen, als würde er einen alten Bekannten begrüßen. »Was führt Sie zu mir?«

»Ich bin privat hier, als Gast Ihres Grills.«

Mahmud zog noch einmal an seiner Zigarette. »Herzlich willkommen. Das freut mich. Andere Gründe sind nicht so erbaulich.«

»Trotzdem, auch ganz privat: Hat sich in der anderen Sache noch etwas ergeben?«

»Nein. Weder die Rechtsradikalen noch die Polizei waren hier. Aber ich gebe mich keinen Illusionen hin. Sie werden wiederkommen. Beide.«

»Hat die Polizei einen Grund?«

»Ja.« Mahmud lachte und rauchte.

»Welchen?«

»Das habe ich Ihnen schon erklärt. Meine ethnische Herkunft.«

»Das reicht nicht.«

»Sagen Sie. Die Polizei sieht es anders. Sie selbst waren Zeuge, als die hier mit einem Großaufgebot aufgezogen sind, nur weil in der Stadt ein paar betrunkene Jugendliche randalierten. Die haben allen, die es hier ohnehin schwer haben, einen Bärendienst erwiesen. Ich frage mich manchmal, ob es nicht eine Einschüchterungstaktik ist, bis ich oder andere entnervt aufgeben.«

Lüder sah ihn ungläubig an.

»Ich behaupte nicht, dass die gesamte Polizei so ist. Es sind aber immer dieselben Bullen, die hier vorstellig werden. Man schikaniert mich auch auf andere Weise. Mal ist es das Gesundheitsamt, mal die Gewerbeaufsicht oder das Finanzamt.«

»Sind Sie schon einmal auffällig geworden? Straffällig? Haben Sie an Demonstrationen teilgenommen, die aus dem Ruder gelaufen sind? Gehören Sie einer Gruppierung an, die unter Beobachtung steht?«

»Zu mir kommen viele Landsleute, aber auch andere Menschen, die man Ausländer nennt.«

»Das soll reichen?«

Mahmud zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Offenbar ja.« Er drückte die Zigarette an dem schwarzen Fleck an der Hauswand aus und verabschiedete sich von dem anderen Mann mit einem High five. Dann ließ er Lüder den Vortritt in den Imbiss. Lüder bereute seinen Entschluss, als er das ranzige Fett roch.

Mahmud verschwand hinter dem Tresen. Lüder fiel unangenehm auf, dass sich der Gastwirt nicht die Hände wusch, nachdem er geraucht und den fremden Gast verabschiedet hatte. Er sah Lüder fragend an.

»Schaschlik, Pommes, Majo.«

»Wollen Sie nicht eine meiner türkischen Spezialitäten versuchen? Die Leute kommen von weit her.«

Lüder zog unwillkürlich die Nase kraus. »Nein, danke.«

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Haben Sie Bier für mich?«

»Selbstverständlich«, sagte Mahmud, holte hinterm Tresen eine Flasche eines Biers hervor, das in Supermärkten fast zu Centpreisen angeboten wurde, und öffnete sie. Er hielt den Kronkorken in die Höhe. »Ich beteilige mich an der Aktion ›Kronkorken helfen‹. An vielen Stellen werden sie nicht weggeworfen, sondern gesammelt und zum Wertstoffhändler gebracht. Vom Erlös wird Kindern in Afrika eine Krankenversicherung finanziert. Eine tolle Sache.«

Dann schob er Lüder die Flasche hinüber. Schon am Glas spürte er es, und als er trank, wurden seine Befürchtungen bestätigt. Das unsägliche Gebräu war auch noch lauwarm. Er schüttelte sich.

Mahmud war mit der Zubereitung der Bestellung beschäftigt. Über die Schulter fragte er nach Lüders Herkunft. »Kiel soll schön sein«, stellte er fest. »Ich war noch nie dort. Aber das Meer. Der Strand. Im Sommer in den Dünen liegen. Ich möchte dort Urlaub machen.«

Lüder korrigierte ihn nicht, sondern versicherte, dass Kiel eine lebenswerte Stadt sei.

»Es soll ja auch gesund sein am Meer«, fuhr Mahmud fort und hustete prompt. Immerhin hielt er sich den Ellenbogen vor den Mund.

Lüder knurrte »ja« und dachte an Bernd Hollstein. Dem war der Umzug an die See nicht bekommen.

Endlich war Mahmud fertig und reichte Lüder den Teller mit dem Schaschlik und den Pommes.

Die Mayonnaise war genießbar, der Rest, tröstete sich Lüder, fiel unter »lebenserhaltende Maßnahme«. Sollte er jemals Freunde ins durchaus sehenswerte Erfurt einladen … Er würde sie mit Sicherheit nicht zum Mersin-Grill führen. Während er auf dem zähen Fleisch kaute, sah er routinemäßig durch das Fenster hinaus. Weder Volkan noch die Rechtsradikalen ließen sich blicken. Lediglich zwei Männer bummelten gelassen vorbei, ohne dem Imbiss ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

»Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte Mahmud, als Lüder bezahlte und einen nur halb leer gegessenen Teller zurückließ. Vom lauwarmen Bier hatte er nur wenige Schlucke getrunken.

»Mein Beruf schlägt auf den Magen«, sagte er zur Entschuldigung und beeilte sich, den Grill zu verlassen. Er schlug den direkten Weg zum Hotel ein, bog an der Michaeliskirche in die gleichnamige Straße ein und passierte das Collegium Maius, das ehemalige große Kolleg und Sitz des Rektors der Alma Mater Erfordiensis, bis er nach zweihundert Metern seine Unterkunft erreichte.

Unterwegs fiel ihm auf, dass die beiden Männer, die am Mersin-Grill vorbeigelaufen waren, offenbar denselben Weg wie er hatten. Er sah sich um. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, ohne sich um ihre Umgebung zu kümmern. An der Pergamentergasse bogen sie in eine Seitenstraße ab. Merkwürdig, dachte Lüder. Die Straße führte parallel zu jener, die sie eben gekommen waren, wieder zurück.

Hungrig und durstig bezog er sein Zimmer. In der Nähe seines Hotels gab es nur eine nahe gelegene Dönerbude. Nach dem »Erlebnis« im Mersin-Grill war ihm aber der Appetit vergangen.

Dann rief er zu Hause an und konnte sogar ein paar Worte mit Margit wechseln. Ihre Stimme war schwach und klang immer noch kraftlos. Immerhin zeigte sie Interesse an seiner Mission und fragte nicht nur, wie es ihm gehe und ob er vorankomme. Er bestätigte, dass er Fortschritte mache, und fand nach diesem erfreulichen Gespräch einen ruhigen und erholsamen Schlaf.